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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 619 / 20.9.2016

Ein Dorf im Aufstand

International Warum Alevit_innen in der Türkei gegen ein Flüchtlingscamp protestieren

Von Johanna Bröse, Alp Kayserilioglu und Hannah Schultes

Hasan Hüseyin Degirmenci spricht langsam und bedächtig: »Wir sind nicht gegen das Camp und auch nicht gegen die Syrer. Man muss ihnen helfen. Aber der Ort für das Camp ist falsch.« Wir sitzen im Büro des Vorsitzenden des alevitischen Kulturvereins im Cemevi (1) von Pazarc?k, einer alevitisch-kurdischen Kleinstadt im gleichnamigen Landkreis. (2) Ein paar Kilometer entfernt liegt das Dorf Terolar, auf Türkisch Sivricehöyük genannt. Dort sollen ab September 27.000 syrische Flüchtlinge in einem Containercamp leben. Seit über fünf Monaten protestieren die Anwohner_innen und Menschen aus der Umgebung gegen den Bau. Der Mann, der vor uns sitzt, spricht Schweizerdeutsch, ist aber kein Gastarbeiter. 1979 stellte er in der Schweiz einen Asylantrag - wie die große Mehrheit der Menschen aus der Gegend wurde er damals zum Flüchtling in Europa.

Im Dezember 1978 hatten faschistische Kräfte die sunnitische Bevölkerung gegen Linke und Alevit_innen in der Provinzhauptstadt Kahramanmaras aufgehetzt, tagelang wütete ein Mob mit Slogans wie »Wer einen Aleviten umbringt, der kommt ins Paradies«. Häuser von Linken und Alevit_innen, die zuvor markiert worden waren, wurden gestürmt, alevitische Läden zerstört und Frauen vergewaltigt. Der Staat griff tagelang nicht ein. Nach offiziellen Angaben starben 111, nach inoffiziellen Angaben bis zu 1.000 Menschen bei den Übergriffen. Ein Gedenkort fehlt bis heute in der nunmehr fast ausschließlich von sunnitischen Türk_innen bewohnten Stadt; Alevit_innen nennen die Stadt seitdem »Kara Maras«, dunkles Maras.

Die Verfolgungsgeschichte der Alevit_innen reicht weit zurück. Insbesondere in Anatolien waren sie permanenter Verfolgung ausgesetzt, unter den Seldschuken ebenso wie unter den Osmanen. Sie galten als Ketzer, Ungläubige und Gefahr für die Ordnung. Viele egalitär-kommunale, teils sogar frühkommunistische Aufstände in Anatolien gingen von Alevit_innen aus. Insbesondere die Region um Maras war über Jahrhunderte hinweg ein alevitisches Aufstandszentrum. Mit den Türkisierungspolitiken der Jungtürken und später der Kemalisten setzten sich die Assimilations- und Vertreibungspolitiken gegenüber Alevit_innen fort, ebenso wie der aufständische Zug der religiösen Minderheit: Seit Gründung der Republik stellen sie einen großen Teil der revolutionären Linken in der Türkei und Nordkurdistan. Wo die Assimilationspolitiken nicht funktionierten, setzte der Staat auf Massaker wie in Maras 1978. Weitere Pogrome folgten 1980 in Çorum, 1993 in Sivas und 1995 im Stadtteil Gazi in Istanbul. Viele flohen ins Ausland, der Rest wurde im Inland zerstreut. Nach wie vor sind die geschätzten 20 Millionen Alevit_innen nicht als religiöse Gemeinschaft anerkannt, ihre Glaubenshäuser nicht als solche deklariert, und Kinder alevitischer Familien nehmen zwangsläufig am sunnitisch geprägten Religionsunterricht teil.

Hasan Hüseyin Degirmenci hat das Pogrom in Maras selbst miterlebt. Er befürchtet, dass die Wahl des Ortes für das Flüchtlingscamp Teil einer staatlichen Assimilations- und Vertreibungspolitik ist. Nach dem Maras-Massaker sind heute nur mehr 3.000 Alevit_innen in den 16 Dörfern bei Terolar übriggeblieben und stellen hier die Mehrheit. Nun äußern sie Angst vor einer erneuten Vertreibung oder Ausschreitungen wie damals in Maras. »Der alevitische Korridor zwischen Terolar und Dersim ist der einzige, der uns noch geblieben ist. Von uns wird nicht mehr viel übrigbleiben, wenn wir den auch noch verlieren«, meint Mehmet Deliter von der Maras Yasam Platformu (Plattform für Leben in Maras). Er und andere verweisen darauf, dass in anderen türkischen Flüchtlingslagern Dschihadisten ein- und ausgehen und die Regierungspartei AKP seit Beginn des Syrienkriegs dschihadistische Banden unterstützt, die gezielt Alevit_innen massakrieren. Kombiniert mit dem Umstand, dass die Infrastruktur des Lagers und des Gebiets völlig unzureichend für so ein Lager ist, sehen sie eine große Bedrohung für die Alevit_innen in der Region.

Die mangelhafte Planung erregt Misstrauen

Auf dem Weg nach Terolar umfahren wir mit dem Auto das 374.000 Quadratmeter große Camp. Hinter dem NATO-Draht und den Betonmauern werden die letzten Container zusammengebaut, von den mehreren Hundert Lastwagen und 70 Baumaschinen, die hier mehrere Monate im Einsatz waren, ist nichts mehr zu sehen. Sechs Milliarden Euro fließen im Rahmen des EU-Türkei-Deals an Ankara, unter anderem für die Unterbringung von Flüchtlingen. Eine Firma der AKP-nahen Cengiz Holding realisiert das Projekt. Zuständig für dieses wie für die 26 anderen staatlich verwalteten Camps ist die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD, die in der Kritik steht, weil nicht nur Journalist_innen und Menschenrechtsorganisationen, sondern auch Abgeordneten des türkischen Parlaments der Zutritt zu den Camps verwehrt wird. Angesichts von Missbrauchsfällen im Camp Nizip bei Gaziantep ist dies umso brisanter.

Das Gelände, auf dem das Lager nun steht, war seit jeher Gemeindeland. Das Schatzamt beschlagnahmte das Land und gab es der AFAD, die wiederum die Projektausschreibung der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI übertrug. Ohne öffentliche Ausschreibung einigte sich TOKI Ende Februar mit der Cengiz Holding innerhalb einer Woche auf das Projekt. Zuvor hatte die AFAD 16 unterschiedliche Orte untersucht, um eine geeignete Stätte für das Lager zu finden. Unter anderem bot die mehrheitlich sunnitische Kleinstadt Türkoglu, die als geeignet eingestuft worden war, sich freiwillig für die Aufnahme der Containerstadt an. »Trotzdem haben sie sich für Terolar entschieden. Die Untersuchung war nur Augenwischerei«, so einer der Anwälte des Widerstandes, Mehmet Derinkuyu. Im Namen der 16 Dörfer reichten die Anwält_innen eine Klage auf Baustopp ein. Dahinter stehen die in der Maras Yasam Platformu organisierten alevitischen Vereine und Dorfvorsteher_innen; der Menschenrechtsverein IHD, die Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, die linke Partei HDP und die kemalistische CHP unterstützen sie dabei.

Das fruchtbare Gemeindeland sei mittlerweile nicht mehr nutzbar und der Tierzucht - der zentralen Lebensgrundlage in Terolar und Umgebung - somit die Grundlage entzogen. Gravierende Mängel habe es auch bei der Planung gegeben. Im Zuge der Klage auf Baustopp trugen die Anwält_innen vier bisher nicht angezweifelte Expertengutachten zusammen. Während eines davon aufzeigt, dass das Grundwasser der Region nicht ausreichen und dadurch die Landwirtschaft in der Gegend stark beeinträchtigt oder sogar unmöglich gemacht werden wird, mahnt ein anderes Gutachten, dass das Gebiet erdbebengefährdet sei, was bei der Errichtung des Lagers nicht berücksichtigt wurde. Angesichts der Größe des Lagers wird zudem die fehlende Infrastruktur in der Region bemängelt; auch eine Umwelteffektanalyse als planerische Grundvoraussetzung habe nicht stattgefunden.

Derinkuyu ist wie alle anderen in Terolar der Meinung, dass es dem Staat hier um eine Vertreibung der Alevit_innen geht - ob nun wegen mal mehr, mal weniger vernünftig begründeter Ängste oder der bewusst in Kauf genommenen und ignorierten infrastrukturellen Problemen, die sich ergeben werden. Wie andere auch verweist er darauf, dass Staat und Kapital hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen: Parallel zum Lager wird ein bis zwei Kilometer entfernt ein »organize sanayi bölge«, ein Industrieareal von angeblich anfangs 5.000 Quadratmeter geplant, das bis 2030 auf 25.000 Quadratmeter erweitert werden soll. Schon seit 2012 beschwere sich die Industrie von Maras über fehlende Wachstumsimpulse und verlange ein solches Industrieareal und billige Arbeitskräfte; die Geflüchteten kämen da äußerst gelegen. Ende 2015 wurde diesbezüglich die Verstaatlichung landwirtschaftlicher Äcker bekannt gegeben, auf deren Gebiet das Industrieareal hochgezogen werden soll.

Zahlreiche Aktivist_innen wurden festgenommen

Ende Februar 2016 bekamen die Dorfbewohner_innen mit, dass das Camp kommt; lange war aber unklar, wann der Bau beginnen würde. Am 25. März stellten die Dorfbewohner_innen ein Protestzelt auf und begannen mit Mahnwachen, zwei Tage später kamen die Baumaschinen. Kurze internationale Aufmerksamkeit erhielt Terolar, als am 3. April Wasserwerfer und schwer bewaffnete Gendarmerieeinheiten das Protestcamp räumten: Tausende Alevit_innen und Linke waren versammelt, viele waren aus anderen türkischen Städten angereist. Bei der Räumung befanden sich Frauen in der ersten Reihe. »Ich war die erste, die sie festnehmen wollten, angeblich, weil ich die Rädelsführerin gewesen bin«, erzählt Fatma, die sich selbst als Hausfrau vorstellt, und lacht: »Was hätten sie mich ausfragen wollen? Wie man Eier aufschlägt?« Tatsächlich aber spielten die Frauen des Dorfes eine zentrale Rolle: Sie übernahmen nachts die Wache vor dem Cemevi und gründeten ein eigenes Frauentreffen, zu dem wöchentlich immer noch bis zu 30 Frauen kommen.

Der Protest gegen das Camp hat sich schnell in eine Kraftprobe zwischen dem türkischen Staat und der alevitisch-kurdischen Bevölkerung verwandelt. Ab Anfang April kontrollierten Polizei und Gendarmerie über zweieinhalb Monate hinweg den Zugang zum Dorf, von außerhalb Angereisten verweigerte die Gendarmerie den Zutritt. Am 7. Mai wollte die Polizei aufgestellte Zelte beschlagnahmen; um dem zuvorzukommen, brannten einige Jugendliche diese kurzerhand selbst ab - AKP-nahe Medien schrieben, dass die Zelte syrischer Flüchtlinge abgebrannt worden seien. Seit Mai sind alle öffentlichen Veranstaltungen und Zusammenkünfte untersagt, zahlreiche Aktivist_innen wurden festgenommen und verhört.

Wie zur Zeit der Hochphase des Protestes versammeln sich die Bewohner_innen immer noch jeden Abend vor dem Cemevi, um dort auf Plastikstühlen Tee zu trinken und gemeinsam zu essen. Sate, eine Frau um die 70, beschwert sich: »Jeden Tag sind hier Gendarmerie und Geheimdienst mit Autos unterwegs. Wir schlafen nachts deshalb nicht mehr auf dem Balkon.« Ihr Sohn wurde beim Maras-Massaker getötet, danach flüchtete sie für fünf Jahre zu ihrer Tochter nach Darmstadt. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit Flucht und Migration widersprechen viele der Darstellung, dass es sich um flüchtlingsfeindliche Proteste handelt. Das Camp sei zu klein für die Anzahl der Flüchtlinge, mit weniger Leuten hätte niemand ein Problem. So und ähnlich äußern sich einige der 50 Menschen, die sich an diesem Abend versammelt haben.

Noch im Juli antworteten die Protestierenden vor dem Cemevi auf den Abbruch ihrer Zelte durch Gendarmerie mit dem an die Geziproteste angelehnten Slogan »Überall ist Terolar, überall ist Widerstand«. Der Zusammenhalt innerhalb des Dorfes sei stark gewachsen, hören wir immer wieder - die Erfahrung von Repression und die Diskussionen um Inhalt und Form der Proteste haben viele politisiert. Gerade wirkt es dennoch so, als ob der Protest zu Ende geht. Auch in der alevitischen Community in Deutschland und anderen europäischen Ländern war der Bau des Camps Thema. Ende April war eine Delegation der alevitischen Gemeinde zu Berlin in Terolar; eine breitere Öffentlichkeit erreichen sie kaum.

Einige Befürchtungen unserer Gesprächspartner_innen in Pazarc?k und Terolar gehören in das Reich der Projektionen. Andere sind nicht von der Hand zu weisen, wie zum Beispiel die, dass der türkische Staat hier keine hehren Absichten verfolgt und die Infrastruktur unzureichend ist. Aber nicht zuletzt sind die Flüchtlinge Thema, die in das neue Camp umgesiedelt werden sollen: »Wir haben gehört, dass sie auch nicht nach Terolar wollen, und möchten uns mit ihnen treffen. Es gibt da einen Hilfsverein für die Syrer, der Kontakte herstellen kann«, erzählt uns Kibar, Sprecherin der Maras Yasam Platformu, vor unserer Abreise - eine Hoffnung darauf, dass die Rechnung des Staates, sunnitische Syrer_innen gegen Alevit_innen auszuspielen, vielleicht am Schluss doch nicht aufgeht.

Johanna Bröse, Alp Kayserilioglu und Hannah Schultes besuchten im August das Dorf Terolar.

Anmerkungen:

1) Ein Cemevi ist ein alevitisches Gemeindehaus, in dem Versammlungen, Tänze und Rituale stattfinden.

2) Die Mehrheit der Alevit_innen ist türkisch, eine Minderheit kurdisch. Das Alevitentum zeichnet sich aus durch eine ausgeprägte Verehrung von Ali, dem Schwiegersohn Mohammeds; es gilt als humanistisch, und trägt Züge vorislamischer Religionen und des Sufismus. Für Sunnit_innen und Schiit_innen geltende Verbote und Gebote aus dem Koran befolgen Alevit_innen in der Regel nicht.