Alton Sterlings Recht auf Stadt
USA Der Mord an Alton Sterling ist auch ein Angriff auf die Idee, dass der öffentliche Raum seinen Produzent_innen gehören sollte
Von Alexander Billet
Alton Sterling, der am 5. Juli von einem weißen Polizisten erschossen wurde, war in Baton Rouge bekannt als »der CD-Mann« - eine Figur, wie sie in fast allen US-amerikanischen Städten zu finden ist. In den Augen eines Polizisten, der dazu ausgebildet ist, alles verdächtig zu finden, was ein schwarzer Mann tut, war das ein Grund so gut wie jeder andere. Sterlings Tod erinnert unweigerlich an den von Eric Garner - der im Juli 2014 von einem Polizisten zu Tode gewürgt wurde, nachdem dieser ihn wegen des Verkaufs einzelner Zigaretten kontrolliert hatte - sowie an den Tod von Jordan Davis, den Michael Dunn erschoss, als Davis und seine Freunde sich weigerten, die von Dunn so bezeichnete »Rap-Scheiße« leiser zu drehen.
Was um alles in der Welt sollte so bedrohlich daran sein, etwas zu verkaufen oder anzuhören?
Die Antwort darauf lässt sich nicht in den Handlungen selbst finden, sondern darin, wie eine rassistische Gesellschaft reagiert, wenn bestimmte Personen sie ausüben. Diejenigen, deren Aufgabe es ist, »für Ordnung zu sorgen«, sind nicht einfach anfälliger für solche Reaktionen - es ist ihr Job, genau dieses Ungleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Warum starb Alton Sterling?
Sterling wurde nicht getötet, weil er CDs verkaufte oder weil er eine Waffe besaß. Er starb auf diese Weise, weil er in einem Land lebte, das auf Rassismus gebaut ist und von Rassismus am Laufen gehalten wird. Genau wie der Tod von Philando Castile (1) und zu vielen anderen vor ihnen ist auch Sterlings Tod das Ergebnis einer Kollision zwischen diesem Rassismus, dem langsamen Ausbluten des öffentlichen Raums und dem immer weiter ausgehöhlten Recht auf eine demokratische Kultur. Diese Faktoren sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Regeln darüber, wer den öffentlichen Raum wann und zu welchem Zweck nutzen darf, entspringen dem anhaltenden strukturellen Rassismus. Die Schilder aus den Zeiten der Jim-Crow-Gesetze (2), die bestimmte Orte als »Nur für Weiße« zugänglich markierten, mögen abgehängt worden sein. Doch unsere Geografie wurde privatisiert und so umgestaltet, dass diese Restriktionen im wesentlichen weiter wirken.
Die Bandbreite reicht von subtilen über dreiste bis hin zu schamlosen Beispielen. So sind etwa öffentliche Plätze heutzutage so angelegt, dass Besucher_innen diese eilig überqueren, anstatt dort zu verweilen. Aus Steuergeldern finanzierte städtische Parks werden plötzlich in ihrer allgemeinen Nutzbarkeit eingeschränkt, wenn dort bestimmte Versammlungen stattfinden - Occupy-Aktivist_innen können ein Lied davon singen. Bänke und Betonplatten werden in »defensive Architektur« verwandelt, um obdachlose Menschen daran zu hindern, dort zu schlafen.
Auch Kunst und Kultur sind von diesen Einschränkungen betroffen. In den meisten großen Städten wurden Straßenmusik und -Performances stark eingeschränkt. Künstler_innen müssen teure Genehmigungen erwerben, um ihr Handwerk präsentieren zu dürfen. Graffiti-Gesetze entscheiden willkürlich und undemokratisch darüber, was Kunst und was Vandalismus ist. (Der Tod von Israel Hernandez in Miami Beach vor zwei Jahren, den Polizist_innen mit einem Taser ermordeten, als er an einer leerstehenden McDonalds-Filiale sprühte, zeigt sehr deutlich, welche Konsequenzen diese Grenzziehung hat.)
Auch wenn Sterling kein Kulturproduzent war, war er doch Teil der Kulturindustrie. CD-Straßenverkäufer_innen vertreiben sowohl legale als auch raubkopierte Musik. Wenn sie selbst ambitionierte Musiksammler_innen sind - was bei vielen der Fall ist - haben sie oft seltene Platten im Angebot, die kaum anderswo zu finden sind. Sterlings Stammkund_innen erinnern sich, dass er, wenn eine bestimmte Platte nicht vorrätig war, wenn diese Stammkund_innen eine Woche später wiederkamen, diese Platte irgendwie aufgetrieben hatte.
Rassistische Raumordnung, rassistische Arbeitsmärkte
Natürlich sind CD-Verkäufer_innen in erster Linie Händler_innen. Aber obwohl (und in mancher Hinsicht gerade weil) sie sich außerhalb der »offiziellen« Handelsstrukturen der Musikindustrie befinden, sorgen sie dafür, dass die Stadt weiterhin ein Ort des Austauschs von Ideen und Kultur ist. In der revanchistischen Stadt (3) sind sie - genau wie Sprayer_innen, Straßenkünstler_innen und obdachlose Menschen - den Schikanen und Belästigungen durch die Polizei ausgesetzt.
Viele von ihnen sind, obwohl tragende Säulen des städtischen Lebens, von der regulären Wirtschaftssphäre ausgeschlossen, weil sie Probleme mit der Justiz hatten. Auch Sterling hatte eine Kriminalakte, und »New Jim Crow«, die Anti-Drogen-Politik, die sich vor allem gegen Schwarze richtet (4), sorgt dafür, dass verurteilte Verbrecher_innen und ehemalige Häftlinge nach ihrer Entlassung nur sehr schwer an »reguläre« Jobs kommen.
Die halblegale informelle Ökonomie ist für Menschen wie Sterling oft die einzige Alternative zu illegalen Geschäften, durch die sie Gefahr laufen würden, wieder im Knast zu landen. Wie viele von denen, die CDs, DVDs oder gebrauchte Bücher verhökern, tun das nicht, weil sie es gerne machen, sondern weil sie keine andere Wahl haben?
All dies führt zu einer beunruhigenden Schlussfolgerung: Die gleichberechtigte ökonomische und kulturelle Teilhabe schwarzer Amerikaner_innen wird nicht nur missbilligt, sondern von weiten Teilen des Landes klar als Bedrohung gesehen - vor allem dann, wenn People of Color die Bedingungen ihrer Teilhabe selbst bestimmen. Dass Arbeiter_innen der Zugang zu städtischen Gemeingütern verwehrt und das Recht auf die Stadt entzogen wird, ist nur möglich durch den Rassismus.
Der Gedanke, dass - acht Jahre nach der Wahl des ersten schwarzen US-Präsidenten - Hip-Hop-Kleidung und -Musik viele Amerikaner_innen noch immer nervös machen, ist beeindruckend. Selbst wenn Musiker_innen wie Janelle Monae und Kendrick Lamar am 4. Juli bei den Obamas auftreten, verweist die politische Botschaft ihrer Musik auf einen Widerspruch, den sie selbst nicht auflösen können.
Von Zoot Suits und Baggy Pants
Nach dem Mord an Davis wischte der stolze Waffenbesitzer Dunn Kritik an den »Stand Your Ground«-Gesetzen, die die tödliche »Selbstverteidigung« erlauben, vom Tisch und kritisierte stattdessen »die Gewalt und den Lebensstil, den Gangsta-Rap und Thug Life propagieren«. Die Polizei von Dallas verwies auf angebliche Verbindungen zwischen Micah Johnson (dem Schützen von Dallas, der im Juli 2016 fünf Polizisten erschoss) und dem Rapper Professor Griff von Public Enemy. Stadtpolitiker_innen machen allen Ernstes Vorschläge zur gesetzlichen Regulierung von Baggy Pants. Angesichts des dialektischen Verhältnisses zwischen Kultur und Gesellschaft verwundert es da kaum, dass afroamerikanische Subkulturen so häufig oppositionell besetzt wurden.
Das alles ist keine neue Entwicklung. Die »Zoot Suits«, elegante Anzüge der 1940er Jahre, mit ihrer engen Verbindung zur Big-Band- und Bebop-Kultur stehen sowohl für eine der ersten kulturellen Manifestationen der sich verändernden kosmopolitischen Erfahrung nach der »Great Migration« (5) als auch für eine Bedrohung des amerikanischen Lebensstils. Der Historiker Robin D. G. Kelley macht dies deutlich, wenn er in seinem Buch »Race Rebels« nachzeichnet, wie Malcolm X durch seine Zeit als »Zoot« geprägt wurde: »Der Anzug selbst war nicht als direktes politisches Statement gemeint, doch der soziale Kontext, in dem er geschaffen und getragen wurde, machte ihn dazu. Die Sprache und Kultur der Zoot Suiters standen für eine subversive Weigerung, unterwürfig zu sein. Junge schwarze Männer schufen eine schnelle, improvisierte Sprache, die in scharfem Kontrast zu dem passiven Stereotyp des stotternden, sprachlosen Sambo stand: In einer Welt, in der sie von Weißen standardmäßig als Boy angesprochen wurden, machten die Zoot-Träger einen Kult daraus, sich gegenseitig Man zu nennen.«
Ein Kampf um den öffentlichen Raum
Die Art und Weise, wie sich die Kultur des Zoot Suit gegen stereotype Wahrnehmungen schwarzer Amerikaner_innen richtete, hilft zu verstehen, warum zeitgenössische Bewegungen wie Black Lives Matter sich darauf konzentrieren, den öffentlichen Raum in Besitz zu nehmen. Die Aktionen spitzen den Konflikt um dessen rassistisch geprägte Nutzung zu - in der Hoffnung, sie endlich zu beenden.
Wenn Protestierende Autobahnen blockieren wie in Minneapolis, lenken sie die Aufmerksamkeit darauf, wie die städtische Infrastruktur zu modernen Formen der Segregation beiträgt. Die Graffitiwelle, die im Sommer letzten Jahres über Denkmäler für die Südstaatenkonföderation schwappte, wies auf den Fortbestand eines legalen Rassismus hin. Beide Aktionsformen machen deutlich, dass schwarze Menschen weniger Zugang zum öffentlichen Raum und weniger Rechte zur Teilhabe an kulturellen Gemeingütern haben. Außerdem zeigten die Aktionen, dass der zweitklassige Bürgerstatus von Afroamerikaner_innen heute zwar häufig schwerer zu identifizieren ist, dass er jedoch kein bisschen akzeptabler ist als vor 50 oder 100 Jahren.
Bei Alton Sterlings Tod geht es nicht nur um das Recht, unbehelligt Musik zu vertreiben - obwohl das etwas ist, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Vielmehr geht es um das Recht auf die Stadt - um die radikale Idee, dass die Kultur und der Raum denjenigen gehören sollten, die sie tatsächlich herstellen.
Alexander Billet ist Schriftsteller, Dichter und Kulturkritiker. Er ist Redakteur beim Red Wedge Magazine und lebt in Chicago. www.redwedgemagazine.com
Der Artikel erschien am 8. Juli unter dem Titel »Alton Sterling's Right to the City« auf www.jacobinmag.com. Übersetzung: Sarah Lempp.
Anmerkungen:
1) Philando Castile wurde am 6. Juli 2016, einen Tag nach der Ermordung Alton Sterlings, in Saint Paul, Minnesota, von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen. Castiles Freundin Diamond Reynols und ihre vierjährige Tochter saßen ebenfalls in dem Auto. Reynolds lud unmittelbar nach den Schüssen ein Live-Video von dem sterbenden Castile auf Facebook hoch, bevor sie selbst verhaftet wurde. Das Video wurde innerhalb weniger Stunden mehr als eine Million mal angesehen und sorgte dafür, dass der Fall schnell eine große Öffentlichkeit erhielt.
2) Jim-Crow-Gesetze ist ein Sammelbegriff für die Gesetze in den Südstaaten der USA, die zwischen 1890 und 1965 die auch als »Rassentrennung« bezeichnete systematische Diskriminierung schwarzer US-Bürger_innen bei der Nutzung öffentlicher Dienstleistungen, aber auch in Restaurants und an öffentlichen Orten festschrieben.
3) Der Begriff geht auf den schottischen Geografen Neil Smith zurück, der damit beschrieb, wie die Stadtregierung von New York City in den 1990ern die öffentliche Präsenz von Arbeiter_innen, Migrant_innen, Minderheiten zurückdrängte. Der Prozess erinnerte ihn an das Paris des späten 19. Jahrhunderts, in dem die nationalistische Bourgeoisie nach der Niederschlagung der Commune den Einfluss der Sozialist_innen und Arbeiter_innen auf das städtische Leben bekämpfte.
4) Die These, dass die Diskriminierung schwarzer US-Bürger_innen durch den War on Drugs eine ähnliche Wirkung wie die Jim-Crow-Gesetze haben, begründet die Juraprofessorin und Bürgerrechtlerin Michelle Alexander in ihrem 2012 erschienen Buch »The New Jim Crow«.
5) Wanderungsbewegung von etwa sechs Millionen Afroamerikaner_innen aus den ländlichen Gebieten der US-Südstaaten in die Industriestädte des Nordens, Nordostens und Westens zwischen 1910 und 1970.