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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 620 / 18.10.2016

Industrie 4.0 - mehr als ein Marketingbegriff

Wirtschaft & Soziales Vernetzte Technik in den Betrieben ermöglicht lückenlose Kontrolle

Von Marcus Schwarzbach

Das klingt nach Zukunft und ist für den Siemens-Konzern in seiner digitalen Vorzeigefabrik in Amberg schon realisiert: Industrie 4.0. Alle Bauteile lassen sich identifizieren, jedes Produkt wird digital erfasst, einzelne Arbeitsschritte sind per Knopfdruck nachvollziehbar: Mit welchem Drehmoment wurden Teile zusammengefügt, bei welcher Temperatur hat die Maschine gelötet? Das Management spricht von mehr als 50 Millionen Datensätzen, die so täglich erfasst werden. Die Daten werden ohne Zeitverlust analysiert, bei Fehlern die Ursache rekonstruiert. »Auf den neuesten Produktionslinien zeigt sich, wie sich auch kleine Stückzahlen durch die Digitalisierung effizient produzieren lassen«, begeistert sich Mitbestimmung, die Zeitschrift der Hans-Böckler-Stiftung.

Euphorische Berichte wie diese rufen Kritiker_innen auf den Plan, die zu Recht darauf verweisen, dass ein »Musterbeispiel« noch nicht bedeutet, dass eine vierte Stufe der Industrialisierung ansteht. Bereits in den 1980er Jahren wurde die computergesteuerte menschenleere Fabrik der Ganzheitlichen Produktionssysteme (GPS) propagiert, Jahre später war von Computer Integrated Manufacturing (CIM) die Rede - der Quantensprung blieb aber aus. Dass viele skeptisch sind, was der Industrie-4.0-Hype überhaupt verändern soll, ist nachvollziehbar. Manche sehen es als reines Marketingthema, das Gabler Wirtschaftslexikon bezeichnet Industrie 4.0 als »Marketingbegriff« der Bundesregierung.

Wie immer geht es beim Einsatz neuer Technik um den Abbau von Arbeitsplätzen und die Umgestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsinhalten. Trends müssen rechtzeitig erkannt werden, um Gegenstrategien zu entwickeln. Digitale Technik hat schon heute gravierende Auswirkungen. So wird eine Arbeiter_in bei Amazon als »Picker« mit einem Chip am Arm eingesetzt, um beim Zusammenstellen der Pakete ständig erreichbar zu sein. »Dieser Chip ermöglicht aber auch, dass der Mitarbeiter an jedem Ort in der Halle ständig überwacht werden kann«, erläutert Matthias Jena, Vorsitzender des DGB Bayern, und berichtet von der Abmahnung eines Amazon-Mitarbeiters, der sich fünf Minuten nicht bewegt haben soll.

RFID-Chips werden immer häufiger genutzt. RFID als Technikinnovation der 1990er Jahre bezeichnet eine Technologie für Sender-Empfänger-Systeme zum automatischen und berührungslosen Identifizieren von Objekten. Der englische Begriff RFID (Radio-Frequency Identification) kann verstanden werden als Identifizierung mit Hilfe elektromagnetischer Wellen. In größeren Projekten wächst mit der Autonomie in der Produktion der Kommunikationsbedarf. Über RFID verknüpfte Werkstücke, Vorprodukte, Roboter und Maschinen erzeugen eine Datenmenge, die mit neuester Software ausgewertet und mit Arbeitnehmerdaten verknüpft wird.

Permanente Kontrolle

Ziel ist das Zusammenwachsen von Produktionsprozessen mit der Informationstechnologie. Versprochen werden dem Unternehmen die Steigerung der Produktivität und eine lückenlose Leistungs- und Verhaltenskontrolle der Beschäftigten. Bei einem Automobilzulieferer, der mit dem Betriebsrat den Einsatz des MES vereinbaren wollte, waren die Planungen schon sehr konkret: Die Maschinen sollten systematisch mit Software zur Steuerung und Überwachung ausgestattet und mit den IT-Planungssystemen verknüpft werden. So können Systeme zur Produktionsplanung und -steuerung (PPS) zu einer Datenbank vereinheitlicht werden.

Möglich wird so ein einheitliches Berichtswesen - das beim Betriebsrat für Alarmstimmung sorgte. Denn die Überwachung durch MES-Systeme ist hocheffizient, es bestehen umfangreiche Möglichkeiten der Rückverfolgung einzelner Arbeitsschritte. Mitarbeiterkontrolle wird so ein einfaches Unterfangen. Zumal jede Maschine eine eindeutige IP-Adresse erhält, damit sie im Netzwerk identifizierbar und anzusteuern ist. Der Betrieb kann so sämtliche Aktivitäten in der Produktion, Maschinenzustände und Stillstandszeiten systematisch protokollieren und analysieren. Da hierbei auch personenbezogene Daten erfasst werden, wird nicht nur der Arbeitsprozess, sondern auch jede/r einzelne Mitarbeiter_in durch und durch transparent. Das System ermöglicht auch, dass sich Fertigungsmaschinen bei Störungen zukünftig selbsttätig auf den Smartphones von Kollegen melden.

Den/die gläserne Arbeiter_in verhinderte bei diesem Beispiel eine Betriebsvereinbarung. Weitgehende Möglichkeiten hat allerdings ein Unternehmen ohne Betriebsrat - so wird eine besondere Problematik der Industrie-4.0-Logik deutlich: Große Datenmengen fallen an, die im Betrieb immer auch auf Beschäftigte bezogen werden können. Und die neue Technik macht es leicht, diese Datenmengen auszuwerten.

Tracking ist die Verfolgung anhand von Aufzeichnungen. Beispielsweise lassen sich über ein Smartphone Aufenthaltsdaten ermittelt. Werden Daten aus unterschiedlichen Quellen genutzt, entsteht ein »gläserner Mitarbeiter«. Die Gesichtserkennung bei Videoaufnahmen, der Ort des Einloggens im Rechner oder die Kantinenabrechnungen können kombiniert werden. Durch RFID-Technik kann die Logistik digital vernetzt werden. Fertigungsteile werden beispielsweise über einen RFID-Chip eingelesen. So eignet sich RFID ideal als Überwachungsinstrument.

Scoring ist aus den Medien eher bekannt bei Bankgeschäften, etwa der Beantragung eines Kredits. Auch im Betrieb kann diese Form der Auswertung erfolgen. Denn Scoring ist eine Methode, um die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten vorherzusagen. So können bestimmte Daten aus der Personalakte automatisch in ein Verhältnis gestellt werden, um Personalentscheidungen zu treffen. Etwa die Frage, ob ein interner Bewerber zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wird.

Die Beispiele zeigen: Big Data ist in vielen Betrieben Realität, permanente Kontrolle ist möglich. Es ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, Daten mit Personenbezug auszuwerten.

In welche Richtung sich der Technik-Einsatz im Industriebereich entwickelt, zeigt ein Beispiel aus der Automobilbranche. »Ungewohnt, eine Umstellung, wie das ebenso ist, wenn da plötzlich ein Neuer mit dabei ist im Team. Der Kollege, über den dermaßen unverblümt gesprochen wird, ist still, er arbeitet weiter, als sei nichts geschehen: schaut in die Transportbox, greift einen Kühlmittelausgleichsbehälter, legt ihn auf einen Tisch ab«, so schildert die IG Metall die Situation beim Audi-Werk Ingolstadt. (1) Bemerkenswert ist das, weil hier nicht zwei Menschen agieren: Es ist ein Roboter, mit dem der Arbeiter zusammenarbeitet. Mit ihm hat der Konzern erstmals in seinem Stammwerk einen Roboter im Serieneinsatz, der aus dem Sicherheitskäfig befreit ist, Hand in Hand mit den Menschen arbeitet. Seit ein paar Monaten steht er an der Montagelinie. Ein karottengelber Industrieroboter, umhüllt mit einer weichen Schutzhaut, ausgestattet mit integrierter Sicherheitssensorik, mit Motoren und viel Elektronik. Es ist die erste Mensch-Maschine-Kooperation im Volkswagen-Konzern. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Fabrik der Zukunft.

Interaktion Mensch-Maschine: Kollege Roboter

Das Beispiel zeigt ein entscheidendes Thema der Industrie 4.0 auf: Wer entscheidet bei der Kooperation zwischen Mensch und Roboter? Entlastet die Maschine bei schweren Handgriffen, erleichtert sie die Arbeit? Oder gibt die Technik dem Arbeiter vor, was zu tun ist? Wenn der Einsatz kooperierender Roboter dazu führt, anstrengende Routinetätigkeiten zu automatisieren, ohne dass damit Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, wenn mit ihnen ergonomisch ungünstige Arbeitsplätze verbessert werden - dann spricht nichts gegen deren Einsatz, so die Hoffnung der IG Metall. »Entscheidend ist für uns, wie die Entwicklung gestaltet wird. Die Beschäftigten müssen frühzeitig in die Veränderungsprozesse einbezogen werden. Und der Mensch muss die Maschinen steuern und nicht umgekehrt«. (2)

Mensch und Maschine werden enger zusammenarbeiten. Wie nahe sie sich dabei kommen, kann man bei DMG Mori Seiki in Bielefeld sehen. Mit Celos hat der Werkzeugmaschinenbauer ein System entwickelt, mit dem es möglich ist, von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt sämtliche verfügbaren Planungs- und Maschinendaten zu bearbeiten. Mit der Touchpad-Oberfläche können Daten verwaltet oder visualisiert werden. Ausgerüstet mit Apps wie beim Smartphone, kann der Beschäftigte komplexe Aufgaben erledigen, die Software erleichtert eine individuelle Bearbeitung von Aufträgen. Das Umrüsten der Maschine, das Bearbeiten von Aufträgen geschieht im Dialog zwischen Mensch und Maschine - »menügeführt«, wie Christian Thönes, Vorstand bei DMG sagt. »Durch eine intuitive Benutzerführung kann jeder mit Celos innerhalb von vier, fünf Stunden eine Werkzeugmaschine bedienen. Auch Untrainierte können schnell an komplexe Aufgaben herangeführt werden.«

Die rasche Verbreitung unterschiedlicher Formen von Automatisierung hat weitere Folgen. Der Arbeitsschutz steht vor großen Herausforderungen. Die IG Metall beschreibt bereits betriebliche Erfahrungen: »Ein Beispiel sind Roboter, die nicht mehr innerhalb von Schutzkäfigen eingesetzt werden, sondern als kollaborierende Roboter Hand in Hand mit den Beschäftigten arbeiten. Diese Leichtbauroboter können Zusammenstöße und Quetschungen verursachen. Solche Unfälle zu verhindern, ist derzeit eine große Aufgabe für die Arbeitsgestaltung.« (1)

Erhöhter Zeitdruck

Produktion »on Demand« ist ein wichtiges Schlagwort der Industrie 4.0 - für die Belegschaft heißt dies, direkt nach Kundenauftrag zu produzieren. Das bedeutet: erhöhter Zeitdruck. So formuliert das Institut für angewandte Arbeitswissenschaft die Anforderungen: »Mit der Gestaltung cyber-physischer Systeme eng verbunden ist das Ziel, die Flexibilität in Bezug auf Kundenerwartungen und -wünsche zu erhöhen. Das setzt neben flexibler Technik voraus, dass sowohl die Betriebs- als auch die Arbeitszeit flexibel bezüglich der Kapazitätsbedarfe ist«, formuliert Klaus-Detlev Becker, Institut für angewandte Arbeitswissenschaft. (3) »Wir werden viel kurzfristiger auf Dinge reagieren müssen. Dazu müssen wir relativ schnell unsere Daten verdichten und aufbereiten und zu Entscheidungen kommen«, betont Unternehmensgründer Manfred Wittenstein. (4)

Ein Beispiel verdeutlicht, wie schnell diese Entwicklung Nachteile für Arbeiter_innen haben kann. Statt wie bisher der Verwaltungsbereich wurden im Betrieb Arbeiter_innen mit Smartphones auf Firmenkosten ausgestattet. Die Begeisterung der Beschäftigten war groß, nachdem der Werksleiter verkündete, diese Geräte könnten auch privat genutzt werden. Als dann die Meister diese jedoch öfters am Wochenende oder im Urlaub für betriebliche Kommunikation nutzten und verkündet wurde, die Arbeiter_innen könnten jetzt über »WhatsApp-Gruppen« die Vertretung für Wochenendschichten untereinander »freiwillig« nutzen, wurden die Probleme sichtbar. Der Betriebsrat griff in diesem Fall regelnd ein. Das Beispiel zeigt aber, dass Probleme der ständigen Erreichbarkeit nicht auf den Dienstleistungsbereich begrenzt bleiben.

Das Volumen der finanziellen Förderung der digitalen Arbeit ist beachtlich. Allein das Bildungsministerium hat mit über 190 Millionen Euro Projekte gefördert. Das Wirtschaftsministerium ordnet 40 Millionen Euro den Fördermaßnahmen im Rahmen von »Autonomik für die Industrie 4.0« zu. Insgesamt sind allein für das Bildungsministeriumsprogramm »Innovation für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit für morgen« bis 2020 etwa eine Milliarde Euro vorgesehen. (5)

Ob diese Gelder zu einer »vierten industriellen Revolution« führen, sei dahingestellt. Aber es wird erhebliche Veränderungen für die Beschäftigten geben. Die geschilderten Entwicklungen müssen Gewerkschaften und Betriebsräte frühzeitig erkennen. Nur so kann eine Strategie aus Sicht der Beschäftigten entwickelt werden.

Marcus Schwarzbach ist Berater für Betriebsräte in Kaufungen.

Anmerkungen:

1) www.igmetall.de

2) zitiert nach Marcus Schwarzbach: Work around the clock? Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit und die Gewerkschaften. Unrast Verlag, Münster 2016.

3) zitiert nach Alfons Botthof/Ernst A. Hartmann: Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Springer-Verlag, Heidelberg 2015.

4) Frauenhofer-IAO: Produktionsarbeit der Zukunft - Industrie 4.0.

5) neues deutschland, 13.5.2015.