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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 620 / 18.10.2016

Aufgeblättert

Liebe zum Leben

Uniformen würden ihm nur Unglück bringen, das hatte ihm schon die alte Hellseherin im katholischen Waisenhaus prophezeit. Es ist einer von mehreren Ratschlägen, die er in den Wind schlagen wird. So landet Bernhard Mares, der eigentlich Priester werden will, erst bei der SS und zieht in den Krieg, bevor er bei der Roten Armee in Dienst tritt, danach für die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei arbeitet und schließlich für lange Zeit im Gefängnis verschwindet. Dort halten ihn nur zwei Dinge am Leben: seine wahnsinnige Liebe zu der Jüdin Sophie, die er im Konzentrationslager Mauthausen kennengelernt hat, und seine lateinische Zitatensammlung, die er in seinem Rektum aufbewahrt. Lebensweisheiten für den Arsch. Josef Formáneks »Die Wahrheit sagen« ist ein bitterböser Roman über den politischen und ideologischen Irrsinn des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte beginnt auf einer Müllkippe, irgendwo im tschechischen Mittelgebirge. Dort begegnen sich der Schriftsteller Josef und der alte Mares zum ersten Mal: Mit über 80 Jahren ist dieser fertig mit seinem Leben und will »die Wahrheit sagen« - eine Wahrheit freilich, bei der gar nichts zusammenzupassen scheint, die so chaotisch und paradox ist wie die Zeit, von der der Roman handelt. Es geht um die Heimatlosigkeit, Einsamkeit und Trauer des elternlosen Findelkindes, um Gewalt, Hass und Verbrechen unter den Faschisten und Kommunisten - vor allem aber um das Überleben und Weiterleben und die Liebe, die dazu nötig ist.

Stephanie Bremerich

Josef Formánek: Die Wahrheit sagen. Ein brutaler Roman über die Liebe zum Leben. Gekko World, Trebitsch 2016. 477 Seiten, 23 EUR.

Vielfachkrise

Euro, Migration, Terrorismus oder Brexit: Seit Jahren wimmelt es nur so von sogenannten Krisen in Europa. Während andere Autor_innen die multiplen Krisenphänomene oft nur in ihren Eigenlogiken zu verstehen versuchen, begreift der französische Philosoph Étienne Balibar sie dezidiert als Ausdrücke eines Gesamtprozesses. In »Europa: Krise und Ende?« - einer Zusammenstellung öffentlicher Debattenbeiträge zwischen 2010 und 2015 - veranschaulicht er dies an den als »Euro«- und »Flüchtlingskrise« verhandelten Entwicklungen. Herrschaftskritisch analysiert Balibar diese als Resultate einer hegemonialen Austeritätspolitik sowie eines inhumanen Grenzregimes. Zugleich verdeutlicht er, wie sie infolge widerstreitender nationalstaatlicher Interessen etwa in Griechenland verheerend kumulieren. Dabei geht es ihm auch um das Ausloten emanzipatorischer Praxisperspektiven. Eine Transformation ist für ihn nur im gesamteuropäischen Schulterschluss zu erreichen, womit er auch gegen linke (Re-)Nationalisierungsbestrebungen Stellung bezieht. Insofern plädiert er für eine Mobilisierung aller progressiven europäischen, immer auch migrantischen Bürger_innen. Zwar wiederholen sich einige Aspekte allzu oft, auch verwendet er Begriffe (z.B. Volk oder Populismus) unscharf. Doch ein intellektueller Stichwortgeber für einen radikalen »linken Europäismus« von unten ist Étienne Balibar allemal - und das ist derzeit schon einiges wert.

David Niebauer

Étienne Balibar: Europa: Krise und Ende? Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2016. 276 Seiten, 24,90 EUR.

Erfolgreiches Scheitern

Nikolai Huke liefert mit seinem Buch die erste profunde, umfassende Analyse und chronologische Rekonstruktion der Krisenproteste in Spanien rund um die Bewegung 15-M, die Kämpfe gegen Zwangsräumungen, die Proteste im Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie den Aufstieg von Podemos. Auf Grundlage zahlreicher Interviews in den Jahren 2012 bis 2015 mit Aktivist_innen und der Auswertung von Zeitungsartikeln entsteht ein feingezeichnetes Bild des Protestzyklus seit 2011, das als Erfahrungsschatz zum »produktiven Ausgangspunkt für strategische Debatten sozialer Bewegungen« in Europa unabdingbar ist. Deutlich wird vor allem, wie emotional und körperlich erschöpfend die Organisation von Protesten gerade im Alltag der Beteiligten ist - ein Punkt, der noch intensiver theoretischer und praktischer Reflexion bedarf, um drohender Desillusionierung und Überforderung entgegenzuwirken. Illusionslos seziert Huke das »erfolgreiche Scheitern« der verschiedenen Bewegungen, politischen Strategien und Organisationsformen - die spanische Gesellschaft wurde zweifelsohne »grundlegend verändert«, aber die »Logik der repräsentativen Demokratie (...) als ein Herrschaftsverhältnis« wurde nicht entscheidend durchbrochen. Der Staat als Akteur und Brandmauer zeigte sich gegenüber den Interessen und Forderungen der Bevölkerung »in verhärteter Form«. Insofern ist der parlamentarische Weg von Podemos, wie Huke zu Recht schreibt, von vornherein als ambivalent und begrenzt zu bewerten.

Sebastian Klauke

Nikolai Huke: Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen. Edition Assemblage, Münster 2016. 175 Seiten, 14,80 EUR.

Der Feind im Osten

Dass eines Tages »die Russen kommen« würden, wenn man sie nicht aufhielt, gehörte in Westdeutschland zu den Standards der Kalte-Kriegs-Propaganda. Auch nach dem Ende der Sowjetunion besteht das Feindbild fort: Es ist seit Jahrhunderten im kollektiven Bewusstsein verankert. Diese unendliche »Geschichte einer Dämonisierung« erzählt der Wiener Publizist Hannes Hofbauer in seinem faktenreichen Buch »Feindbild Russland«. Eine Studie für das Jahr 2014 ergab, dass 90 Prozent aller Kommentare über Russland in vier deutschen Leitmedien negativ waren. Wer dagegen die Motive der russischen Politik überhaupt nur nachvollzuziehen versucht, gilt schnell als »Putin-Versteher«. In diesem Klima von Hetze und Verdummung wirkt Hofbauers Buch wohltuend, auch gelegentliche polemische Spitzen sind durchaus berechtigt. Apologetisch wird er, wenn er die Existenz eines russischen Nationalismus schlicht abstreitet: Russische »Patrioten« hätten lediglich »ein positives Gefühl zum Staat, in weiterer Folge sind es der Führer (sic!) - also Putin -, das Territorium, die Geschichte und die Kultur, zu der sich ein Patriot positiv bekennt.« Auch die Repression gegen Menschen, die anders sind - etwa LGBT-Aktivist_innen - verniedlicht er: Schließlich werde in Russland nur die »Werbung für Homosexualität« verfolgt. Hofbauers Buch könnte als eine Art Gegengift gegen die tägliche Indoktrination verstanden werden. Leider vertut er sich mitunter bei der Dosierung.

Jens Renner

Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Promedia, Wien 2016. 303 Seiten, 19,90 EUR.