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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 620 / 18.10.2016

Speerspitzen gen Osten

Militäroffensive Die NATO verschärft die Konfrontation mit Russland

Von Wilhelm Achelpöhler

Der Krieg in der Ukraine und die Besetzung der Krim waren ein »wake up call« für die NATO, befand der frühere NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Ganz eingeschlafen war die NATO zwar nicht. Hatte seit ihrer Gründung 1949 die gemeinsame Gegnerschaft zur Sowjetunion 40 Jahr lang den Daseinszweck gestiftet, so fand sie nach 1990 einen neuen Sinn in der Osterweiterung und in Kriegseinsätzen außerhalb des Bündnisgebiets.

Doch seit die friedliche Eroberung des Ostens in der Ukraine an eine Grenze gestoßen ist, hat sich nicht nur die Tonlage der Politik verändert. Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt inzwischen vor einem Rückfall »in Zeiten der Konfrontation zwischen zwei Großmächten« (FAZ, 8.10.2016), und der frühere Staatssekretär im Außenministerium, Wolfgang Ischinger, sah die »Gefahr einer militärischen Konfrontation«, wie sie seit Jahrzehnten nicht bestanden habe. Die aktuelle Politik der NATO könne von Russland nur als »Kriegsvorbereitungen« verstanden werden, setzte die LINKE-Fraktionsvorsitzende Sarah Wagenknecht in der Bundestagsdebatte um den NATO-Gipfel am 8./9. Juli in Warschau noch eins drauf.

Dort hatte die NATO beschlossen, vier Bataillone mit je 1.000 Soldat_innen in die östlichen NATO-Staaten in Marsch zu setzen. Als einziger EU-Staat neben Britannien ist Deutschland federführend dabei und wird ein Bataillon in Litauen führen, dabei auch den Großteil der Soldat_innen stellen. Die USA übernehmen in Polen die Führung, Kanada in Lettland und Britannien in Estland. Auch in Rumänien sollen die dortigen Streitkräfte durch die NATO verstärkt werden.

»Vorne-Präsenz« in den Frontstaaten

Dabei soll die »rotierende Stationierung« der NATO-Truppen an der russischen Grenze zumindest die Form wahren. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 hatte das westliche Militärbündnis versprochen, keine Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren, damit Russland die erste Stufe der NATO-Osterweiterung mit Polen, Tschechien und Ungarn akzeptierte. Wegen des ständigen Wechsels der Soldat_innen soll es sich angeblich nicht um eine »dauerhafte« Stationierung handeln. Mit der Stationierung ihrer Truppen im Baltikum geht die NATO noch deutlich über ihre bisherige Präsenz hinaus.

Auf ihrem Gipfel in Wales 2012 hatte die NATO die Schaffung einer »Speerspitze« beschlossen, im Niederländischen treffend »Supersnelle Flitsmacht« genannt, um die Reaktionsfähigkeit ihrer 40.000 Soldat_innen starken schnellen Eingreiftruppe (NRF) zu verbessern.

Die Speerspitze umfasst rund 5.000 Soldat_innen und ist innerhalb von 48 Stunden einsatzfähig. Entlang der Ostflanke wurden zudem Nato Force Integration Units aufgebaut. Diese aus je rund 40 Soldat_innen bestehenden Einheiten sind für die Aufnahme der Speerspitze zuständig, die dort Material und Infrastruktur vorfinden soll.

Bei einem russischen Angriff müsste die Speerspitze aber zuerst anreisen. Mit der nunmehr vorgesehenen »Vorne-Präsenz« soll die Bereitschaft zur Abschreckung demonstriert werden, sie ist weniger ein Beitrag zur realen Verteidigung dieser Länder. Angesichts ihrer exponierten Lage und überschaubaren Größe - Lettland ist etwas kleiner als Bayern - sind diese Länder, die selbst über keine wesentlichen Streitkräfte verfügen, militärisch gar nicht zu verteidigen. Mit einer »Bedrohungslage« der baltischen Staaten kann damit letztlich jede militärische Aufrüstungsmaßnahme, jeder Schritt zum Aufbau von mehr »Abschreckungspotenzial«, jede Verschärfung der Politik gegenüber Russland gerechtfertigt werden.

Ganz wie die alte Bundesrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges führen sich die baltischen Staaten als Frontstaaten auf. Das Antirussische ist dort geradezu Staatsraison, wie der schäbige Umgang belegt, den insbesondere die EU-Mitglieder Estland und Lettland mit ihrer russischsprachigen Bevölkerung pflegen. Obwohl das Lettische die Muttersprache von nur 58 Prozent der Bevölkerung ist, gilt das von 38 Prozent gesprochene Russisch nicht als Amtssprache. Die Sprachenpolitik ist dort also so nationalistisch, wie sich dies die ukrainischen Nationalist_innen mit der Abschaffung des Sprachengesetzes nach dem Sieg des Euromaidan 2014 gewünscht hatten.

Ähnlich Polen: Vor dem NATO- Gipfel in Warschau veranstaltete die polnische Armee ein Manöver unter dem Namen Anakonda, wie es die NATO in der ganzen Zeit nach dem Kalten Krieg nicht mehr durchgeführt hatte. 31.000 Soldat_innen nahmen daran teil, auf Drängen der polnischen Regierung beteiligten sich 24 Staaten an dem Manöver, allen voran die USA, die mit 14.000 Soldat_innen noch vor Polen die meisten Teilnehmer_innen stellten. Zusätzlich lud Polen auch noch Georgien und die Ukraine zur Teilnahme ein, denen eine NATO-Mitgliedschaft bislang verwehrt ist.

Deutsche Panzer in Polen

Auch Deutschland war dabei, aber nur mit einem verhältnismäßig kleinen Kontingent von 350 Panzerpionieren. Der britische Guardian registrierte gleichwohl aufmerksam: »Zum ersten Mal seit der Nazi-Invasion in das sowjetisch besetzte Polen am 22. Juni 1941 durchqueren deutsche Panzer das Land von West nach Ost«; wenige Jahre später fuhren die deutschen Panzer bekanntlich in umgekehrter Richtung. Fast zeitgleich mit Anakonda fand vom 3. bis zum 19. Juni 2016 die jährlich stattfindende Übung BALTOPS statt; beteiligt waren 4.000 Soldat_innen aus 14 Staaten, darunter die Nicht-NATO Mitglieder Finnland und Georgien.

So wurde das Ganze zu einer Demonstration der NATO-Präsenz im Osten Europas. Allerdings konnten Polen und die baltischen Staaten den Wunsch nach einer dauerhaften Präsenz der NATO nicht durchsetzen. Es bleibt bei verhältnismäßig kleinen Einheiten, die im Krisenfall innerhalb von zwei bis fünf Tagen mit den 5.000 Kräften der Very High Readiness Joint Task Force verstärkt werden können. Danach könnten mit der NATO Response Force zwar insgesamt bis zu 30.000 Soldat_innen zum Einsatz kommen, allerdings geht es bei den im Baltikum stationierten Truppen eher um eine erweiterte Abschreckung. Ein Angriff auf diese Staaten soll als Angriff auf die NATO insgesamt gesehen werden können - ganz so wie zur Hochzeit des Kalten Krieges. Gleichzeitig kann dieser Schritt aber auch eine Rüstungsdynamik in Gang setzen. Die nunmehr angekündigte Stationierung russischer Iskander-Raketensysteme in der Enklave Kaliningrad kann dafür als ein erstes Zeichen gesehen werden.

Die USA weiten darüber hinaus die Aufwendungen für ihre Truppen in Europa aus. Die Mittel für die nach der russischen Annexion der Krim im Rahmen ihrer European Reassurance Initiative vorgesehenen Verstärkungen sollen auf 3,4 Milliarden US-Dollar vervierfacht werden.

Die Wende der Rüstungspolitik wird auch bei den in Europa stationierten Atomwaffen deutlich. Anfang 2010 forderte der Bundestag noch den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. Wenig später leiteten die USA ein umfassendes Modernisierungsprogramm für ihre atomwaffenfähigen Trägersysteme und ihre nuklearen Sprengköpfe ein. »Die zeitlich ersten Projekte waren dabei die Einführung eines neuen Trägerflugzeugs für nichtstrategische Nuklearwaffen, des Joint Strike Fighters, und die Modernisierung jenes Atombomben-Typs, der auch in Europa stationiert ist, der B61«, berichtet der Friedensforscher Ottfried Nassauer. (ndrinfo, 2.7.2016)

Auch der Ton wird rauer. NATO-Oberbefehlshaber Philip Breedlove bezeichnete Russland als »existenzielle Bedrohung«, während Polens Außenminister Witold Waszczykowski meinte, Russland sei »für Europa eine größere Gefahr als der IS«. Hinzu kommen Forderungen wie die des dänischen NATO-Offizier Jakob Larsen »Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen« (spiegel.de 10.7.2016) oder Fantasien wie in dem Buch »2017 War with Russia« von Richard Shirreff, zwischen 2011 und 2014 stellvertretender NATO-Oberkommandeur in Europa.

Die EU will keine militärische Eskalation

Von Politiker_innen aus Deutschland, Frankreich oder Italien hört man dergleichen nicht. Den westeuropäischen EU-Staaten, insbesondere Deutschland und Frankreich, geht es gegenüber Russland letztlich um etwas anderes als den USA. Für die USA ist Russland mit seinem Atomwaffenarsenal die einzige potenzielle Gefahr auf dem Planeten (»small but real danger«) und mit seinen weltpolitischen Ambitionen, wie sie zur Zeit in Syrien demonstriert werden, ein machtpolitischer Gegenspieler. Es sei evident, »dass Amerika heute weiter der vorherrschende Führer, Partner und Unterstützer von Stabilität und Sicherheit in jeder Region auf der Erdkugel ist, wie dies seit Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall war«, erklärte US-Verteidigungsminister Ashton Carter anlässlich der Vorstellung des US-Haushalts. Russland soll auf den Status einer Regionalmacht verwiesen werden.

Anders liegen die Interessen der EU, jedenfalls ihres westeuropäischen Teils. Zwar ist sie mit den USA darüber einig, dass Russlands Anspruch auf eine »geopolitisch begründete Einflusssphäre« (Peter Rudolf, SWP Studien September 2016) nicht akzeptabel ist, was Russland in der Ukraine nachdrücklich demonstriert wird. Anfang 2012 formulierten die Mitglieder der Expertengruppe Östliche Partnerschaft der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik recht unbefangen: »Der außenpolitische Diskurs in Deutschland meidet die Thematisierung geostrategischer Überlegungen. Doch sollten die Realitäten anerkannt werden: Wenn Russland von Stabilität redet, wird dort in Kräfteverhältnissen und Einflusssphären gedacht. Genauso legitim ist es, die Östliche Partnerschaft auch unter geostrategischen Überlegungen zu betrachten. Die Europäische Union zielt mit diesem Konzept auf die Verbreitung ihrer politischen, rechtlichen sowie ökonomischen Spielregeln und damit auf eine schrittweise Anbindung der Region.«

Allerdings geht es Deutschland und den anderen EU Staaten eher darum, das frühere Verhältnis zu Russland zu stabilisieren - nachdem die Gewichte in der Ukraine zu Russlands Lasten verschoben wurden. Dazu ist eine starke Militärpräsenz dienlich, eine militärische Eskalation hingegen nicht.

Wilhelm Achelpöhler ist Rechtsanwalt in Münster und Mitglied der Grünen Friedensinitiative.