Revolution geht auch ohne Social Media
Diskussion Ein Gespräch über Widerstand gegen Herrschaftsstrukturen in der digitalen Welt
Interview: Britta Rabe
Ende September fand in Köln die Konferenz »Leben ist kein Algorithmus. Solidarische Perspektiven gegen den technologischen Zugriff« statt. Drei Aktivist_innen aus Tunesien, Indien und dem Kongo schildern aus der Perspektive des globalen Südens ihren Kampf gegen die brutalen Ausbeutungsverhältnisse bei der Herstellung von Smartphones und Laptops, den Widerstand gegen Facebooks koloniales Schmalspurinternet »Free Basics« und sprechen über die Bedeutung von Social Media für Revolte(n).
Die Bloggerin Lina Ben Mhenni lebt in Tunis und war in der Rebellion in Tunesien aktiv, der Schauspieler und Künstler Yves Ndagano war Kindersoldat im Kongo, wurde als Kind in den Coltan-Minen von Nord-Kivu ausgebeutet und engagiert sich jetzt dort gegen die brutalen Lebensverhältnisse. Der Hacker und Opensource-Aktivist Anivar Aravind lebt in Bangalore und war am erfolgreichen Widerstand gegen das Facebookprojekt »Free Basics« beteiligt.
Yves, du musstest als Kind in den Coltan-Minen arbeiten. Aus Coltan wird der Rohstoff Tantal gewonnen, der für die Herstellung von Elektronikartikeln benötigt wird. Wie waren die Arbeitsbedigungen im Kongo?
Yves: Ich habe mit elf Jahren in den Minen gearbeitet, wusste aber ebenso wie die anderen nicht, was Coltan ist oder wozu es dient. Als Minenarbeiter gruben wir völlig ohne jede Sicherheitsvorkehrungen, die Stollen konnten jederzeit über uns einstürzen, es gab viele, auch tödliche, Unfälle. Eine weitere lebensbedrohliche Gefahr stellen damals wie heute die Rebellengruppen dar, die unter anderem den Rohstoffabbau kontrollieren. Wir mussten täglich über 12 Stunden arbeiten, für sehr geringen Lohn.
In einem Theaterstück, das du hier in Deutschland aufgeführt hast, sammelst du die Smartphones der Besucher und Besucherinnen ein und zerstörst sie vor ihren Augen. Erst später stellt sich heraus, dass es ein Fake ist und die Telefone noch ganz sind. Was willst du mit der Aktion ausdrücken? Verwendet keine elektronischen Geräte?
Yves: Nein, ich will zeigen, dass jede und jeder ein Stück Coltan mit sich herumträgt, der Rohstoff wird mit dieser Aktion freigelegt und sichtbar. Ich lenke damit den Blick auf die Menschen, die das Coltan abbauen und auf die kriegerischen Konflikte um das wertvolle Gut. Die negativen Folgen der Produktion von Smartphones und Tablets sind immens. Ich würde aber nicht sagen, man soll kein Smartphone benutzen - ich selbst besitze zwei. Wir müssen stattdessen dafür sorgen, dass die Produktion diejenigen Menschen respektiert, die im Kongo dafür arbeiten. Wir brauchen eine andere Gesellschaft, ohne Ausbeutung und Krieg.
Lina, vor und während der Tunesischen Revolution war für dich das Internet zentral, um auf deinem Blog öffentlich die Situation in Tunesien zu beschreiben. Welche Vor- und Nachteile hatten Social Media damals?
Lina: Ich habe schon lange vor der Revolution damit begonnen zu bloggen. Es gab damals keinerlei Möglichkeiten, seine Meinung frei zu äußern, weder über TV, Zeitungen noch über Radio; alle Medien waren unter Kontrolle des Regimes. Auch bei Privatgesprächen im Café musste man immer damit rechnen, abgehört zu werden. Das Internet war der einzige freie Raum, wo wir darüber schreiben konnten, was in Tunesien tatsächlich vor sich ging. Wir haben auch über Social Media mobilisiert, zu unseren Demonstrationen und Aktionen. Als Aktivistinnen und Aktivisten wurden wir trotz Sicherheitsvorkehrungen wie Anonymisierung von der Cyperpolizei entdeckt und viele von uns wurden verhaftet und gefoltert, ein Blogger wurde sogar ermordet, schon vor der Revolution.
Anivar, du hast in Indien die Kampagne gegen »Free Basics« mitinitiiert. Facebook sagt, es »ermöglicht Menschen den Zugang zu nützlichen Diensten für ihr Mobiltelefon - dort, wo sich wenige Menschen einen Internetzugang leisten können.« Was ist das Interesse von Facebook und welche Strategie verfolgt »Free Basics«, indem es den Menschen nur limitierten Zugang zum Internet gewährt?
Anivar: Unsere Kampagne richtete sich nicht allein gegen Facebook, sondern zielte in erster Linie auf die Netzneutralität insgesamt. Indien hat eine Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen, 400 Millionen haben bislang Zugang zum Internet. 100 Millionen davon gingen erst im letzten Jahr online. Bei uns haben die wenigsten Menschen einen Computer, das Internet ist in Indien gleichbedeutend mit dem Smartphone. Hier in Europa heißt Netzneutralität vor allem, wie schnell man wieviel Gigabyte herunterladen kann. In Indien ist es dagegen eine Kostenfrage: Wer kann es sich leisten, überhaupt das Internet zu nutzen? Indien ist für Giganten wie Facebook der letzte große lohnende Markt, der erschließbar ist. Daher behauptete Facebook, den Menschen Internet zum Nulltarif anzubieten, quasi ein kostenloses Basisinternet. Hätte Facebook sich mit »Free Basics« durchgesetzt, gäbe es neben Facebook nur Zugang zu Seiten von einigen Vertragspartnern, wie Wetter, Wörterbuch und ein paar Seiten mehr, jedoch kein Email, kein Twitter, auch kein Google, aber die Menschen hätten Facebook für »das Internet« gehalten! Wenn Leute meinen, ein Basisinternet sei doch besser für »die Armen« als gar kein Netz, dann sage ich, das ist gegen die Selbstbestimmung der Userinnen und User, niemand anders soll für sie entscheiden, was sie brauchen!
Lina, wie ist die Situation in Tunesien heute bezüglich der Internetzensur?
Lina: Heute gibt es zwar keine Zensur von Seiten der Regierung mehr, aber damit ist die Zensur nicht aufgehoben. Nun herrscht bei uns Selbstzensur, einige Bloggerinnen und Blogger haben aufgehört zu schreiben. Recht bald nachdem Ben Ali geflohen war, fingen die Regierung und andere Akteure an, Social Media zu nutzen, um Gerüchte und Diffamierungen in die Welt zu setzen und Hasspropaganda gegen Dissidenten zu verbreiten. Zuvor wurde das Internet vor allem zu Unterhaltungszwecken genutzt, jetzt ist es gleichfalls Waffe der Gegenseite. Es gibt Morddrohungen von religiösen Fanatikern, auch gegen mich, es gab auch wieder Tote. Aktuell stehen etwa 100 Aktivistinnen und Aktivisten, darunter auch ich, deshalb unter ständigem Polizeischutz. Ich kann aber sagen, dass ich weiterhin die Polizeigewalt mehr fürchte, denn die sehe und erlebe ich ständig. Heute wie damals ist Tunesien ein Polizeistaat.
Yves, sind Produkte wie das Fairphone, das unter möglichst fairen Bedingungen hergestellt wird, die Lösung, oder was braucht es, um Ausbeutung und Krieg im Kongo zu verhindern? Die Abstinenz von jeglicher Form elektronischer Geräte? Sollten wir alles, was wir in der Lage sind herzustellen, auch wirklich benutzen?
Yves: Das Fairphone kann keine Lösung sein. Es ist vielleicht in Europa bekannt, aber im Kongo kennt es niemand. Wir im Kongo müssen selbst die Bedingungen verändern, dies kann nicht von außen mit einem Produkt wie dem Fairphone erreicht werden. Außerdem wird zwar behauptet, dass das Fairphone Standards in der Herstellung erfüllt, aber wer überprüft das? Für die Menschen im Kongo hat sich trotz der Selbstverpflichtung von Unternehmen wie Apple und Samsung oder wegen des Fairphones nichts geändert.
Anivar: Aus der Free-Software-Community gibt es eine Menge Kritik am Fairphone, weil es nicht Opensource basiert ist, also keine offene Hard- und Software benutzt. Das Fairphone arbeitet wie jedes andere kommerzielle Unternehmen auch: Sie behalten die Baupläne für sich. Unabhängige Softwareentwickler können daher nicht zum Fairphone beitragen und es damit unterstützen.
Wie unabhängig sind wir von Manipulation und vom Zugang zu Social Media, gerade in Zeiten des Ausnahmezustandes?
Lina: Als Bloggerin bin ich angewiesen auf das Internet; mein Facebook- und mein Twitteraccount wurden aber zeitweise auch gesperrt. Heute ist die Situation wieder - oder noch - genauso schlimm wie vor der Revolution. Wir haben freie Wahlen, aber unsere Situation hinsichtlich Arbeit, Freiheit und Würde ist unverändert. Unsere Situation ist jedoch in den Medien, auch im Ausland, kein Thema. Heute verfolgen Polizei und Regierung Aktivistinnen und Aktivisten über Facebook. Hier wird gefordert, extremistische Internetseiten von als terroristisch eingestuften Gruppen zu verbieten, aber als Netzaktivistin lehne ich solche Verbote ab, da sie schnell auf andere unliebsame Personengruppen übertragen werden können.
Anivar: Viele Regierungen versuchen inzwischen, Aufstände mit Gesichtserkennung zu unterdrücken. 2010 war das Mittel der Gesichtserkennung in den Social Media noch ungenügend. Inzwischen ist die Gesichtserkennung über Facebook fast genauso entwickelt wie das menschliche Hirn. Bei hochgeladenen Videos, in denen Gesichter sich bewegen, liegt die Quote sogar bei 100 Prozent. Gibt es Proteste, werden Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft im Internet aufgespürt und verfolgt.
Lina, in Ägypten wurde während der Revolution das Internet durch die Regierung für fünf Tage komplett abgestellt. Hat das die Dynamik der Revolte befördert? Ohne ein funktionierendes Smartphone waren ja die Leute gezwungen, auf die Straße zu gehen, um Informationen zu erhalten.
Lina: Ja, das stimmt. Die Revolte begann am 25. Januar, und drei Tage später wurde das Internet durch die Ägyptische Regierung abgestellt, in der Hoffnung, damit den Aufstand unter Kontrolle zu bekommen. Die Leute waren zu der Zeit schon auf den Straßen und protestierten. In den fünf Tagen, in denen es gar keinen Zugang zum Internet gab, haben die Menschen andere Wege gesucht, ihre Meinung kundzutun und miteinander zu kommunizieren. Hier in Tunesien hat man sogar das Faxgerät wiederentdeckt. Weder in Tunesien noch in Ägypten kann man aber von einer »Facebook-Revolution« sprechen, wie sie gern genannt wird. Die Menschen sind nicht wegen oder durch Social Media auf die Straße gegangen. Das Internet ist nur ein nützliches Werkzeug, das schnellere Kommunikation ermöglicht. Die Menschen waren total unzufrieden und wollten das Regime stürzen. In so einem Fall findet man immer einen Weg zur Gegenwehr. Das Internet hat uns dabei geholfen, aber auch vor dem Internet gab es ja Revolutionen. Wir können Revolutionen auch völlig ohne Social Media machen.