Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 620 / 18.10.2016

Ausnahmezustand im Vorzeigestaat

International Die Regierung Äthiopiens versucht gewaltsam zu verhindern, dass sich Proteste gegen ihre Politik weiter ausbreiten

Von Bakara Merle

In Alem Gena, einem südlichen Teil Addis Abebas, bot sich an einem Tag Anfang Oktober ein seltsames Bild: Eine Gruppe von etwa 20 Menschen bewegt sich mit heulenden Rufen auf einer strategisch wichtigen Straße gen Süden - die Arme als internationales Zeichen der politischen Unterdrückung an den Handgelenken verschränkt, warfen dann die zumeist jungen Protestierenden alles auf den Asphalt, was sich am Straßenrand finden ließ: große Steine, Bänke, Geschäftsschilder, volle Müllsäcke. Wenige Minuten später kommt ein Pickup mit in blauem Camouflage gekleideten Bundespolizist_innen vorgefahren. Die Polizist_innen steigen aus und fordern die umstehenden Menschen auf, sich daran zu beteiligen, die Straße wieder freizuräumen. In rasendem Tempo weichen weitere Pickups - diesmal geladen mit Soldat_innen - den Gegenständen und Menschen aus. Danach kehrt beängstigende Ruhe ein bis Protestierende erneut die Straße entlanglaufen und sich die gesamte Szene wiederholt. Busse voller vermeintlich Aufständischer werden abtransportiert.

Diese Geschehnisse sind nur ein Ausdruck der seit etwa einem Jahr immer wieder aufflammenden Unruhen in Äthiopien. Sie begannen im November 2015 als das administrative Gebiet Addis Abebas auf Kosten des umliegenden Bundeslandes Oromia ausgeweitet werden sollte. Die seitdem anhaltenden Proteste und Repressionen haben aktuellen Schätzungen zufolge zwischen 500 und 800 Menschen das Leben gekostet. Auch nach der Rücknahme der geplanten Ausweitung ebbten die Proteste nicht ab. Die äthiopischen Sicherheitskräfte gehen brutal dagegen vor: In Jimma wurde berichtet, dass Schüler_innen gefoltert wurden, weil ihnen eine Beteiligung bei der separatistischen Oromo Liberation Front (OLF) unterstellt wurde.

Aktuell haben tragische Ereignisse am 2. Oktober zur weiteren Verschärfung der Situation geführt. An diesem Tag wurde das oromische Fest Raja begangen, zu dem mindestens eine Million Menschen in die Stadt Debre Zeit Bishoftu kamen. Als dort über Lautsprecher politische Ansprachen gehalten wurden, setzte die Polizei Nebelbomben und Tränengas ein. Unter den feiernden Menschen brach Panik aus, als zusätzlich Schüsse fielen. Etwa 400 Personen starben als sie aufgrund der schlechten Sehverhältnisse und des Gedränges in Gruben fielen oder zertrampelt wurden.

Der Einsatz von scharfen Geschossen wurde anschließend von offizieller Seite bestritten und setzte damit eine Welle des Protests in Gang. Während auf den nationalen Fernsehkanälen Trauerbekundungen liefen, wurden im Umkreis der Hauptstadt Ferienressorts und Fabriken in Brand gesteckt und Regierungskonvois angegriffen.

Aber die Proteste beschränken sich nicht allein auf die ethnische Gruppe der Oromia. So gab es vor anderthalb Monaten Ausschreitungen im Bundesland Amhara in Gonder und in Bahir Dar, der Hauptstadt Amharas. Hier ging es um einen schon länger anhaltenden Konflikt über die Zugehörigkeit eines kleinen Distrikts zwischen den Bundesländern Tigray und Amhara. Um eine Ausbreitung der Konflikte zu vermeiden, sind seit zwei Wochen das mobile Internet sowie mehrere Social Media gesperrt.

Als Reaktion auf diese Entwicklungen wurde am 10. Oktober von der äthiopischen Regierung für sechs Monate das Kriegsrecht ausgerufen - zum ersten Mal seit dem 25jährigen Bestehen der Föderalen Demokratischen Republik Äthiopien. Die Präsenz der Polizei und des Militärs in der Hauptstadt wurde massiv verstärkt und deren Rechte ausgeweitet.

So können Menschen auf Verdacht ohne gerichtlichen Prozess festgehalten werden. Die Regierung ist einzig verpflichtet, monatlich Auskunft über die Zahl von Verhaftungen zu geben.

Der alltägliche Ausnahmezustand

Die aktuellen Entwicklungen können auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken. Bis 1991 befand sich Äthiopien in einem erbitterten Bürgerkrieg. Die Widerstandsgruppen der Ethiopian People's Revolutionary Democratic Front (EPRDF) setzten das autoritäre Regime Mengistu Haile Mariams ab und versuchten, den Wandel zu einem demokratischen System einzuleiten. Ihre Übergangsregierung verabschiedete 1995 eine neue Verfassung, mit der der äthiopische Föderalismus Einzug hielt. Seitdem ist die EPRDF mit einem Parlamentsanteil von etwa 90 Prozent der Sitze als de facto alleinherrschend an der Macht.

Von Beginn an forcierte die EPRDF eine Aufteilung Äthiopiens entlang ethno-linguistischer Grenzen. Die Partei setzte sich damit gegen oppositionelle pan-äthiopische Strömungen durch. Letztere sprachen sich gegen den ethnischen Regionalismus der ethno-föderalen Verfassung aus und genossen vor allem in der Hauptstadt Addis Abeba großen Rückhalt.

Zwar sollte der Föderalismus die Gefahr von zukünftigen Abspaltungen bannen, aber die gewalttätigen »ethnisch motivierten« Konflikte, für die Äthiopien bekannt ist, konnte er weiterhin nicht verhindern. Das Land, das trotz zeitweiliger italienischer Besatzung keine längere formale Kolonialherrschaft erlebte, liefert ein exponiertes Beispiel dafür, wie sich Staatlichkeit im Widerspruch zwischen Universalismus und Partikularismus ausformt.

Meles Zenawi, von 1995 bis zu seinem Tod 2012 Premierminister Äthiopiens, rechtfertigte das politische System, dass er selbst mit geschaffen hatte, mit der Abspaltung Eritreas, die 1992 nach einem 30-jährigen Unabhängigkeitskrieg per Referendum entschieden wurde. Der Kampf um die Unabhängigkeit Eritreas war von brutalen Maßnahmen vonseiten des äthiopischen Kaiserreichs und später Mengistus Regime gegen die eritreische Bevölkerung befeuert worden. Aber es handelte sich, entgegen Zenawis Argumentation, dabei keineswegs um einen ethnischen Konflikt. Auch bei dem äthiopischen Bürgerkrieg gegen Mengistu ging es um die Befreiung von einem blutigen, autokratischen System, dem zuvor zehntausende Menschen zum Opfer gefallen waren. Allerdings diente Ethnizität dabei als kostengünstige wie zuverlässige Mobilisierungsressource. Auch Meles Zenawi stand später unter dem Verdacht, sich das ethno-föderale System zunutze zu machen, indem er die Interessen der Gruppe der Tigrinia, die seit der Abspaltung hauptsächlich in Eritrea leben, vertrete.

Ethnizität als politisches Instrument

Die aktuellen Konflikte zwischen der EPRDF-Regierung und äthiopischen Bevölkerungsgruppen geschehen im Kontext des ethno-föderalen Systems Äthiopiens. Die offizielle Anerkennung als Ethnie ist hier entscheidend, da grundlegende politische Rechte wie das Wahlrecht an sie gebunden sind. So dürfen ethnische Amharen im Bundesland Oromia nicht wählen, wohl aber Oromo im Bundesland Amhara. Ethnische Zugehörigkeit spielt auch bei der Besetzung von Ämtern und der Verteilung von Ressourcen eine Rolle. Menschen, die sich keiner ethnischen Gruppe zuordnen können oder wollen, haben in diesem System nur beschränkte demokratische Beteiligungsmöglichkeiten. Auch die ethnisch stark gemischte Hauptstadt Addis Abeba hat keinen Sitz im Bundesrat, der zusammen mit dem Volksrepräsentantenhaus die Parlamentarische Bundesversammlung bildet.

Allein die Integration von Ethnizität in das politische System kann aber Sezessionsbestrebungen und ethnische Konflikte nicht beseitigen. Ganz im Gegenteil: Sie werden noch explizit geschürt. Das zeigen zum Beispiel die wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Zentralregierung und den ethnischen Gruppen der Oromo und äthiopischen Somalier_innen. So wird der äthiopischen Regierung vorgeworfen, gegen das per Verfassung zugesicherte ethnische Selbstbestimmungsrecht zu verstoßen, indem sie seit Jahren militärisch gegen die separatistischen Organisationen Oromo Liberation Front (OLF) und die somalische Ogaden National Liberation Front (ONLF) vorgeht. Als Antwort stürmten dann beispielsweise am 24. April 2007 schwer bewaffnete ONLF-Mitglieder ein Ölfeld in Obole und töteten 65 äthiopische Arbeiter_innen und neun chinesische Techniker. Unabhängige Organisationen wie Human Rights Watch werfen beiden Seiten Menschenrechtsverletzungen vor. Das in der äthiopischen Verfassung eingeräumte Sezessionsrecht wird durch die Militärinterventionen somit faktisch ausgehebelt.

Verfassungsnorm und -realität klaffen aber auch an anderer Stelle weit auseinander. Kritiker_innen werfen der vorgeblich multiethnischen EPRDF-Einparteiregierung vor, dass nicht alle Ethnien gleichgestellt sind und die Gruppe der Amharen sowie die Tigarynia sich selbst bevorzugen würden. Das deklarierte Ziel ethno-föderaler Verfassungen, die Hegemonie einer Ethnie zu vermeiden und inter-ethnische Ressentiments einzuhegen, bleibt in Äthiopien somit unerfüllt.

Allerdings handelt es sich hierbei bei weitem nicht nur um eine mangelhafte Umsetzung der Verfassung. Das Problem liegt im politischen System Äthiopiens an sich. Durch die Gewährung von politischen Rechten entlang ethnischer Grenzen wird ethnisches Bewusstsein verstärkt bzw. erst geschürt. Das wurde insbesondere nach der Einführung der Verfassung im Jahr 1995 deutlich: Dabei forderte die Übergangsregierung die ethnischen Gruppen auf, das ihnen »rechtmäßig« zugehörige Land zu deklarieren. In der Folge brachen vielerorts blutige Verteilungskonflikte aus, die zahlreiche Tote und Vertreibungen zur Folge hatten.

Mit der politischen Verwaltung entlang ethnischer Kriterien ähnelt das äthiopische System zudem dem kolonialen Herrschaftssystem: Herrschaftsausübung wird durch die Bestimmung privilegierter Gruppen, zumeist ethnisch definiert, erleichtert. Dadurch verhalten sich letztere kooperativer, und Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen erschweren Aufstände gegen das herrschende Zentrum. Aktuelle Forschungen der Afrikanistik zeigen, dass ethnische oder tribalistische Strukturen in Afrika - entgegen der gängigen Wahrnehmung - mit der Kolonialisierung erst konsolidiert oder gar geschaffen worden sind. Kolonialherren haben selbsternannte Stammeshäuptlinge dazu aufgefordert, Stammesgebiete inklusive einer gemeinsamen Stammesgeschichte und -tradition zu identifizieren. Dadurch legitimierten sich Kolonialisten und lokale Autoritäten gegenseitig.

Ethnoföderalismus als schlechter Kitt

Ethnisches Bewusstsein auf dem afrikanischen Kontinent war in vorkolonialen Zeiten viel flexibler, als es gängige Mythen über vermeintlich jahrhundertealte, ethnische Fehden suggerieren. Ethnizität ist also kein unumstößlicher Teil menschlicher Gruppenidentität, der auf objektiv bestimmbaren Merkmalen basiert, sondern vielmehr gesellschaftlich konstruiert und kontextuell - und damit auch verhandel-, manipulier- und insofern auch instrumentalisierbar. Das äthiopische ethnoföderale System zeigt, dass sich unter dem Schlagwort der ethnischen Zugehörigkeit Verteilungskonflikte über politische Privilegien und Ressourcen bis hin zur gewalttätigen Auseinandersetzung enorm mobilisieren lassen.

Als Resultat garantiert der ethnisch definierte äthiopische Föderalismus weder nationale Integration, noch beendet er ethnische Ressentiments. Vielmehr sind ethnische Ressentiments dem aktuellen politischen System geschuldet. Dabei handelt es sich bei Äthiopien keineswegs um einen Sonderfall. Konflikte unter ethnischem Deckmantel existieren - auch wenn sie nie als solche bezeichnet werden - ebenfalls in OECD-Ländern wie Irland, Belgien oder Spanien. Auch der Ethnoföderalismus, wie er u.a. in der bosnischen Verfassung festgeschrieben wird, die seit dem Vertrag von Dayton 1995 mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft eingesetzt wurde, garantierte kein Ende der gewalttätigen Auseinandersetzungen. Auf der anderen Seite gibt es auch viele politische Systeme in Afrika, in denen Ethnizität als politisches Kriterium aus der Verfassung explizit ausgeklammert ist, wie etwa in Nigeria.

Zunächst gilt es zu verfolgen, was aktuell in dem ehemaligen, wegen seiner hohen Wachstumszahlen vorbildlichen Staat am Horn von Afrika geschieht. Eine Bankenkrise als Reaktion auf die Deklaration des Ausnahmezustandes ist bislang ebenso ausgeblieben wie eine Einschränkung der Lebensmittelversorgung. Auch die Lebensmittelpreise scheinen bisher stabil. Aber diese Effekte, sowie die Entwertung der lokalen Währung Birr, die eine Verteuerung der Importe nach sich ziehen würde, müssen als reale Risiken dieser drastischen Politik in Betracht gezogen werden. Unbeeindruckt von den aktuellen Geschehnissen flog Bundeskanzlerin Angela Merkel am 11. Oktober nach Addis Abeba, um über die »Flüchtlingsproblematik« zu sprechen. Gleichzeitig stellte sie eine mögliche Demokratie-Beratung der Polizei- und Sicherheitskräfte in Aussicht, damit Proteste zukünftig »weniger eskalieren«, was einer Legitimation der Repressionen vonseiten der äthiopischen Regierung gleichkommt.

Bakara Merle ist Politologin. Sie lebt momentan in Addis Abeba.

Der äthiopische Ethnoföderalismus

ist eine Sonderform des Föderalismus. Föderale Einheiten sind hier entlang ethnischer Kriterien definiert und die ethnische Zugehörigkeit der Staatsbürger_innen ist Ausgangspunkt politischer Konstitution und Entscheidungen. Die Republik ist auf regionaler Ebene in neun Bundesländer und zwei freie Städte unterteilt. Auf subregionaler Ebene folgen Woredas (Distrikte) und Kebelles (Nachbarschaftszusammenschlüsse) als administrative Einheiten. Jeder föderalen Einheit sind bestimmte Ethnien zugeordnet. Die Bundesländer Amhara und Oromio beispielsweise »gehören« allein den ethnischen Gruppen der Amharen und Oromi. Der Southern Nations, Nationalities and Peoples Region (SNNPR) werden mehrere Dutzend Ethnien zugeschrieben.