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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 620 / 18.10.2016

Gemeinsam für eine progressive Politik

International Das neue arabisch-jüdische Wahlbündnis Israels muss sich beweisen

Von Hana Amoury, Yossi Bartal und Tsafrir Cohen

»Arabische Wähler gehen in Massen in die Wahllokale, linksorientierte Organisationen bringen sie in Bussen dorthin.« So hatte Benjamin Netanyahu die jüdische Öffentlichkeit kurz vor den Parlamentswahlen 2015 gewarnt. Mit Erfolg: Viele unentschlossene rechte Wähler_innen ließen sich an die Urnen locken und der Likud ging als eindeutiger Gewinner aus diesen Wahlen hervor.

Netanjahus Äußerung folgt einer Kampagne: Seit 2009 versucht seine Regierung alles, um die palästinensischen Staatsbürger_innen und ihre politischen Vertreter_innen zu delegetimieren, deren politische Grundrechte wie Rede- oder Meinungsfreiheit zu beschneiden oder auch das öffentliche Gedenken an die Nakba unter Strafe zu stellen. Wiederholten Versuchen, ein direktes Verbot von arabischen Parteien durchzusetzen, gebat nur der Oberste Gerichtshof Einhalt. 2014 hatte die Netanjahu-Regierung bereits eine verschärfte Sperrklausel für die Knesset durchgesetzt.

Die Vertreter_innen der davon betroffenen arabischen Wahllisten beschlossen, diesen Verschärfungen mit der Bildung eines bis dahin nie dagewesenen parteiübergreifenden Bündnisses zu begegnen: der Gemeinsamen Liste. Daran beteiligt sind die arabisch-jüdische sozialistische Chadasch/al-Jabha (Demokratische Front für Frieden und Gleichheit), die sozialdemokratisch gefärbte und palästinensisch-national ausgerichtete Balad/al-Tadschamu' (Nationales demokratisches Bündnis), die konservative Islamische Bewegung (südlicher Flügel) sowie die liberale Ta'al (Arabische Bewegung für Veränderung). Über Jahrzehnte hinweg waren Chadasch, Balad und die Islamische Bewegung politische Gegner gewesen. Themen wie die Repräsentation von Frauen, die Sichtbarkeit christlicher Praxen oder weltlicher Kulturen in der Öffentlichkeit oder der Kampf für die Rechte von LSBTTIQ (1) hatten immer wieder zu heftigen Kontroversen geführt. Einwände gab es insbesondere in den Reihen der Chadasch, wo man sich Sorgen um die Zukunft der jüdisch-arabischen Partnerschaft machte. Während sich einige führende Persönlichkeiten der Chadasch explizit gegen eine Beteiligung an der Gemeinsamen Liste aussprachen, stimmte die überwältigende Mehrheit der Mitglieder auf einem Parteitag dafür.

Zwischen Volksfront und nationaler Einheit

Die Verhandlungen hatten begonnen, nachdem im Dezember 2014 - als Ergebnis einer Krise der Regierungskoalition - überraschend Neuwahlen angesetzt worden waren. Bis Ende Januar 2015 mussten sich alle an der Gemeinsamen Liste beteiligten Parteien die Zustimmung ihrer Mitglieder einholen und sich auf ein gemeinsames Programm sowie eine Kandidatenliste einigen. Unumstritten waren Forderungen nach voller Gleichstellung der palästinensischen Israelis, nach Rückzug Israels aus den seit 1967 besetzten Gebieten, nach Anhebung des Mindestlohns und einer Überwindung jeglicher Form von Rassismus in der israelischen Gesellschaft. Es wurden aber auch solche Forderungen aufgenommen, zu denen sich Mitglieder der Islamischen Bewegung nur schwer öffentlich bekennen konnten, darunter die vollständige Gleichstellung von Frauen in allen Lebensbereichen und eine klare Ablehnung religiös begründeter Konflikte.

Was den Erfolg des Projekts zwischenzeitlich infrage stellte, war ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis vom politischen Charakter der gemeinsamen Wahlliste. Eine Gruppierung vor allem von Chadasch-Mitgliedern sah in der Gemeinsamen Liste eine breite antirassistische Front und suchte die Zusammenarbeit mit den zionistischen Mitte-links-Parteien, um eine machtpolitische Alternative zur nach rechts gerückten Netanjahu-Regierung aufzubauen. Die meisten Mitglieder von Balad und der Islamischen Bewegung verstanden die Gemeinsame Liste wiederum als einen nützlichen Schritt zur Förderung der kulturellen und politischen Autonomie der Palästinenser_innen in Israel und lehnten deshalb Verbindungen mit zionistischen Mitte-links-Parteien strikt ab. Ayman Odeh verkörpert die mehr »auf Integration ausgerichtete« Tendenz und positioniert die Gemeinsame Liste als ein Bündnis, das jede Art von Diskriminierung bekämpft und nicht nur als Repräsentantin der palästinensischen Israelis. Wie er über die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung sprach sowie über die Notwendigkeit, die Besatzung zu beenden, ohne ständig die Legitimität der zionistischen Ideologie grundsätzlich infrage zu stellen, brachte ihm Popularität unter liberalen jüdischen Israelis ein, während er damit jedoch die radikaleren antizionistischen Mitglieder der Gemeinsamen Liste verprellte. Um mit diesen widersprüchlichen Ansprüchen umzugehen, konzentrierte man sich auf die politischen Gemeinsamkeiten, ... vor allem die, der palästinensischen Minderheit in Israel eine stärkere parlamentarische Vertretung zu verschaffen.

Gemeinsame Liste als game changer

Trotz weit verbreiteter Ressentiments gegen die Likud-Partei und ihre Sozialpolitik erwies sich Netanjahus extrem polarisierender Wahlkampf als erfolgreich. Es gelang ihm, seine Wählerbasis zu mobilisieren und damit seiner Partei ein Viertel der Parlamentssitze zu sichern. Die Ergebnisse der anderen rechten Parteien gewährleisteten den Fortbestand der Regierung Netanjahus und machten jede Hoffnung auf eine Mitte-links-Koalition, die die Gemeinsame Liste eventuell hätte unterstützen können, zunichte.

Vor diesen Entwicklungen fand das gute Ergebnis der Gemeinsamen Liste relativ wenig mediale Aufmerksamkeit. Dabei war es ihr gelungen, die Wahlbeteiligung der israelischen Palästinenser_innen deutlich zu erhöhen und 85 Prozent der Stimmen in den mehrheitlich arabischen Ortschaften auf sich zu versammeln. Allerdings blieb die Zahl der jüdischen Wähler_innen mit weniger als zwei Prozent hinter den Erwartungen zurück. Die Gemeinsame Liste errang am Ende 13 Sitze (von insgesamt 120). Das machte sie trotzdem zu einem Akteur in der Knesset, der über mehr Einflussmöglichkeiten verfügt als jede parlamentarische Vertretung der palästinensischen Israelis jemals zuvor. Als zweitgrößte oppositionelle Fraktion spielt sie eine entscheidende Rolle in der Oppositionsarbeit. Unter anderem bekam sie den Vorsitz des Knesset-Ausschusses zur Förderung von Frauen zugesprochen. Vorsitzende ist Aida Touma-Suleiman, feministische Aktivistin und Mitglied von Chadasch. Damit hat zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Staatsbürgerin die Kontrolle über einen ständigen Knesset-Ausschuss mit tatsächlichen Gesetzgebungsbefugnissen. Touma-Suleiman repräsentiert die Perspektive mehrfach diskriminierter Gruppen. Themen wie der Abriss von Häusern in den besetzten Gebieten und die Auswirkungen auf Frauen und Kinder, die Situation auf Entbindungsstationen, wo palästinensische und jüdische Frauen getrennt voneinander behandelt werden, sowie das Thema sexuelle Gewalt durch Polizei bekommen so im Parlament Aufmerksamkeit. Dass es gelingt, die spezifischen Anliegen von palästinensischen Frauen, Frauen aus der Arbeiterklasse und von LSBTTIQ zu thematisieren, zeugt von dem Potenzial der Gemeinsamen Liste, der in Israel herrschenden Segregationspolitik entgegenzutreten.

Der wahrscheinlich größte Erfolg, den sie sich zuschreiben kann, ist die Zustimmung der Regierung zu einem Haushaltsplan, mit dem in den nächsten fünf Jahren rund 3,5 Milliarden Euro in Projekte in mehrheitlich von arabischen Menschen bewohnten Kommunen fließen sollen.

Die Annäherung von zuvor verfeindeten politischen Gruppierungen in der Gemeinsamen Liste hat auch Kampagnen gegen Waffengewalt und insbesondere gegen Gewalt gegen Frauen gestärkt. Nachdem die Organisatorin des ersten Frauen-Marathons in der arabischen Stadt Tira Morddrohungen von fundamentalistischen Islamisten erhalten hatte und auf ihr Auto geschossen worden war, wurde ein Solidaritätsbesuch von Mitgliedern aller beteiligten Parteien, einschließlich der Islamischen Bewegung, organisiert. Auch der direkte Kontakt mit konservativen Kreisen macht notwendige politische Annäherungen möglich. Aida Touma-Suleiman berichtet von der erstmaligenZusammenarbeit als feministische Kommunistin mit Beduinenfrauen in den sehr religiösen Bevölkerungskreisen des Negevs, vermittelt über die Islamische Bewegung. Die Bedenken der mehrheitlich säkular ausgerichteten linken Aktivist_innen, dass ein Pakt mit der Islamischen Bewegung den progressiveren Teilen der Gemeinsamen Liste schaden könnte, haben sich nicht bestätigt. Der Dialog in Israel zwischen Linken und der Islamischen Bewegung, die ihre Positionen etwa in Bezug auf Frauenrechte im Laufe des letzten Jahres erheblich liberalisiert hat, kann als ein positives Modell für die Zusammenarbeit mit verschiedenen islamischen Gruppen in der gesamten Region dienen. Eine funktionierende Partnerschaft zwischen verschiedenen religiösen (muslimischen, christlichen, drusischen, jüdischen) und säkularen Kräften, die alle an einem gemeinsamen politischen Projekt beteiligt sind, verkörpert die reale Möglichkeit, Konflikte demokratisch und gemeinwohlorientiert zu lösen. Mit der Zunahme sektiererischer Gewalt in der arabischen Welt, die durch den Krieg in Syrien weiter angefacht wird, gewinnt diese Botschaft an Relevanz.

Hana Amoury ist palästinensisch-israelische Aktivistin. Yossi Bartal ist Aktivist und freier Autor. Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Anmerkung:

1) LSBTTIQ: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Transsexual, Intersexual, Queer

Eine lange Fassung diesen Artikels ist auf www.rosalux.co.il erschienen, eine neue Plattform für Informationen, Analysen und Debatten der Rosa Luxemburg Stiftung Israel, deren Ziel es ist, die Vielfalt an emanzipatorischen Stimmen in Israel einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.