Gegen Diskursaufhübschungen
Selbstbestimmung Vier Thesen für eine radikale Behindertenpolitik
Von Michael Zander
Für eine politische Debatte über Behinderung gibt es derzeit vielerlei Anlässe. Das im Gesetzgebungsverfahren befindliche Bundesteilhabegesetz steht massiv in der Kritik, und eine neue Generation von behinderten Menschen spielt in den Protesten eine wichtige Rolle. (ak 620) Die UN-Behindertenrechtskonvention ist seit ihrem Inkrafttreten 2009 in den Fachdebatten präsent. Und schließlich gab es in den vergangenen Jahren verstärkt Lohnkämpfe von Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitsbereich. Dies betraf etwa den Bereich der Persönlichen Assistenz (ak 591) oder den Streik an der Berliner Charité. Vor diesem Hintergrund wurden die folgenden vier behindertenpolitischen Thesen als Diskussionsbeitrag formuliert.
1. Behinderung ist (auch) ein gesellschaftliches Verhältnis
Ein wichtiges Anliegen der in den 1970er Jahren aufkommenden Behindertenbewegung war es, Behinderung neu zu definieren. Es ging darum, mit der traditionellen Auffassung zu brechen, »Behinderung« sei identisch mit einer medizinisch beschreibbaren Beeinträchtigung eines Individuums. Die aus der Bewegung hervorgegangenen Disability Studies unterscheiden zwischen individueller Beeinträchtigung (impairment) und gesellschaftlicher Behinderung (disability). Der britische Behindertenrechtsaktivist und Sozialwissenschaftler Michael Oliver prägte den Ausdruck vom »sozialen Modell von Behinderung«. Die Beeinträchtigung ist demnach ein Charakteristikum des Körpers; Behinderung dagegen hat nichts mit dem Körper zu tun. Behinderung umfasst alle gesellschaftlichen Schranken, die Menschen mit Beeinträchtigungen auferlegt werden: vom persönlichen Vorurteil bis zu institutioneller Diskriminierung, von unzugänglichen öffentlichen Gebäuden bis zu unbenutzbarem öffentlichen Nahverkehr, von segregierenden Bildungseinrichtungen bis zu ausgrenzenden Arbeitsverhältnissen. Beeinträchtigung ist allenfalls ein »Aufhänger«, aber nicht die Ursache von gesellschaftlicher Behinderung; so wenig wie Geschlechtsmerkmale oder Hautfarbe die Ursachen von Sexismus beziehungsweise Rassismus sind. Behinderung und Beeinträchtigung werden im Alltag kulturell gedeutet, z.B. als »Tragödie« oder als Ungerechtigkeit.
Durch diese Definition werden erstens die gesellschaftlichen Ursachen von Behinderung neu lokalisiert, zweitens wird die traditionelle Allzuständigkeit klinischer und »helfender« Berufsgruppen für behinderte Menschen zurückgewiesen. Die Relativierung des medizinischen Aspekts heißt nicht, dass er gänzlich bedeutungslos wäre. Behinderte Menschen brauchen angemessenen Zugang zu medizinischen und therapeutischen Leistungen, aber darin unterscheiden sie sich nicht von allen anderen Menschen.
2. Die kapitalistische Ökonomie spielt eine wichtige Rolle
Während in den USA emanzipatorische Behindertenpolitik eher als Bürgerrechtsbewegung verstanden wurde, betonten vor allem britische Aktive die Bedeutung der ökonomischen Rahmenbedingungen. Behinderung gilt dabei auch als historische Aussonderung aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess (die im Extremfall bis zum Mord gehen konnte). Nicht zufällig sprachen Behörden in der Bundesrepublik vor 2001 von einer amtlich festgestellten »Minderung der Erwerbsfähigkeit«, heute Grad der Behinderung.
Ausgrenzung behinderter Menschen hat es auch in nichtkapitalistischen Gesellschaften gegeben, etwa im »realen« Sozialismus des 20. Jahrhunderts. (1) Trotzdem sind es kapitalistische Ökonomien, innerhalb derer heute Rahmenbedingungen für Behindertenpolitik gesetzt werden. Die Rede von »dem« Kapitalismus ist dabei in der Regel zu abstrakt. Offensichtlich gibt es große Unterschiede zwischen, sagen wir, dem schwedischen Sozialstaat und den USA, wo jährlich viele Menschen sterben, weil sie nicht ausreichend krankenversichert sind.
Und doch macht sich - auf vielfach vermittelte Weise - die kapitalistische Verfasstheit der Welt praktisch geltend. Behinderte Menschen leben, auch in der BRD, mit einem deutlich erhöhten Erwerbslosigkeits- und Armutsrisiko. Die seit 2008 anhaltende Weltwirtschaftskrise hat tiefgreifende Folgen: Behinderte Menschen sind davon besonders betroffen, etwa in Griechenland oder Spanien. Zudem haben Untersuchungen zufolge Sozialabbau und behindertenfeindliche Einstellungen zugenommen. In Großbritannien wurden massive Kürzungen mit den Folgen der Krise begründet. Dies hat zur Gründung des Netzwerks Disabled People Against Cuts geführt, einer sehr aktiven, heterogenen und antikapitalistischen Behindertenorganisation. (2)
Individuelle Rechte, um die es in der Behindertenpolitik unter anderem geht, gibt es nicht im luftleeren Raum, sondern müssen in der jeweils vorgefundenen Gesellschaft durchgesetzt werden. Es wäre ein Fehler, deren kapitalistische Organisationsprinzipien zu ignorieren.
3. Care Revolution: Die Diagnose ist interessant, die Therapie problematisch
Seit einer ersten Konferenz im Jahr 2014 macht das Netzwerk Care Revolution von sich reden, das sich auch mit behindertenpolitischen Fragen beschäftigt. Ursprünglich diente der feministische Begriff der »Sorge« (Care) dazu, meist unentgeltlich verrichtete Arbeiten von Frauen kenntlich zu machen, etwa die Sorge innerhalb der Familie, insbesondere für Kinder. Diese wurde ignoriert, obwohl sie zum Erhalt einer Gesellschaft nicht weniger wichtig ist als (industrielle) Lohnarbeit. Von daher versteht sich, dass hier die Perspektive der (weiblichen) Arbeitenden im Mittelpunkt steht. Bildet man um das Konzept allerdings ein politisches Netzwerk, entwickeln sich daraus Probleme.
Die Behindertenbewegung entstand auch als Kritik an Care, das heißt an traditionellen Hilfeformen in Pflege und »Betreuung«, sofern diese die Selbstbestimmung von Behinderten missachteten. Das Netzwerk hat Gruppen der Behindertenbewegung einbezogen, tendiert aber doch dazu, Care zu idealisieren, etwa wenn es sich in einer Resolution emphatisch auf eine »Kultur der Fürsorglichkeit« beruft. Eher unterbelichtet bleiben auch Interessengegensätze zwischen Akteur_innen im Care-Bereich, etwa zwischen Betreiber_innen von Behindertenwerkstätten, denen es um den Erhalt ihrer Einrichtungen geht, und der Behindertenbewegung, die diese als ausgrenzend kritisiert. Man kann sich natürlich auch trotz Interessenkonflikten zusammenschließen, wenn es Gemeinsamkeiten gibt, aber zuerst muss man diese Gegensätze austragen. (3)
Die theoretische Grundlage für das Netzwerk hat die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker mit ihrem 2015 erschienen Buch »Care Revolution« geliefert. Ihre empirisch unterfütterte Kernthese lautet, dass mit der Erosion des fordistischen Familienmodells und dem mit der Agenda 2010 forcierten Sozialabbau die gesellschaftliche Reproduktion insgesamt in einer Krise steckt. Das Buch ist lesenswert, die These interessant. Aber die Schlussfolgerungen kann man für problematisch halten. Winker sieht Potenziale für eine »Care Revolution«, die in eine »solidarische Gesellschaft«, in ein »bedingungsloses Grundeinkommen«, in eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich und ähnliches mehr münden soll. Dabei abstrahiert sie von den gegebenen politischen Bedingungen und zieht die relative Schwäche der Linken ebenso wenig in Betracht wie die Unwahrscheinlichkeit dieser »Revolution«.
4. Es gibt eine Sprachpolitik »von oben«
Je erfolgreicher soziale Bewegungen sind, desto eher werden einige ihrer Anliegen und Akteur_innen gesellschaftlich integriert. Für die Bewegungen ist das ein zwiespältiger Prozess. Einerseits werden auf diese Weise einige ihrer Forderungen umgesetzt, andererseits bleibt die Bewegung geschwächt zurück, bis mit einer neuen Generation unter veränderten Ausgangsbedingungen ein neuer Protestzyklus beginnen kann. Ein Aspekt der Integration ist die Übernahme von ursprünglich oppositionellen Begriffen. Jede Einrichtung der konventionellen Behindertenhilfe, die etwas auf sich hält, schreibt heute Inklusion in ihr Leitbild. Regierungspolitiker_innen berufen sich auf den Slogan der Behindertenbewegung: »nichts über uns ohne uns« (nothing about us without us). Bei der Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes 2016 wurden wesentliche Forderungen nicht erfüllt, aber aus »behinderten Menschen« wurden nun »Menschen mit Behinderungen«. Und ein Gesetz, das von Behindertenorganisationen scharf kritisiert wird, heißt »Teilhabegesetz«.
Es gibt eine Sprachpolitik »von oben«, die, polemisch gesprochen, der Diskursaufhübschung dient. Das Problem ist dabei nicht, dass Sprache »enteignet« wird - Sprache gehört niemandem -, sondern dass Sprache hier auf Beschönigung hinausläuft, und die Realität, die eigentlich repräsentiert sein sollte, verschleiert wird. Teile der Linken neigen dazu, den realitätserzeugenden Aspekt von Sprache zu verabsolutieren und die Frage der Realitätsangemessenheit zu vernachlässigen. Wenn es eine Sprachpolitik von oben gibt, dann sollte diese auch kritisiert werden.
Michael Zander ist aktiv in der Behindertenbewegung und Mitglied der AG Disability Studies.
Anmerkungen:
1) Siehe etwa das Interview mit Petra Stephan in der Zeitschrift Mondkalb (mondkalb-zeitung.de/aehnliche-systeme/).
2) Siehe diverse Beiträge in den behindertenpolitischen Beilagen der Tageszeitung junge Welt 2013 und 2015 sowie Kirsten Achtelik: Wenn Kürzungen töten (http://www.gen-ethisches-netzwerk.de/GID/234/achtelik/wenn-kürzungen-töten).
3) Für eine ausführlichere Auseinandersetzung siehe Michael Zander: »We care« - aber wer ist wir? (http://www.zeitschrift-luxemburg.de/we-care-aber-wer-sind-wir) sowie ak moB - Arbeitskreis mit_ohne Behinderung (http://www.ak-mob.org/2014/03/29/jedem-krueppel-seinen-knueppel-zur-care-revolution-ausgabe-der-zeitschrift-contraste/).