Kampf um die Ordnungsmacht
International Die Militäroffensive zur Vertreibung des Islamischen Staates aus Mossul hat begonnen
Von Karin Mlodoch
Am Abend des 16. Oktober 2016 trat der irakische Ministerpräsident al-Abadi vor die Fernsehkameras: Selbst in Kampfuniform und umringt von neun Generälen, verkündete er den Beginn der gemeinsamen Militäroffensive der irakischen Armee und kurdischer Peshmerga zur Vertreibung der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) aus der Großstadt Mossul. Im Januar 2014 eroberte der IS Teile der zentralirakischen Provinzen Anbar und Salahaddin, im Juni 2014 die Provinz Dyala und die Erdölstadt Mossul. Im August verübte er im Sinjar-Gebirge grausame Massaker an der jesidischen Bevölkerung und verschleppte Tausende jesidischer Mädchen und Frauen. Irakische Armee und kurdische Peshmerga waren damals unfähig, die Bevölkerung vor dem IS zu schützen - eine Schmach, die ihnen seither anhaftet.
Der Vormarsch des IS war nur möglich durch die Unterstützung, die er aus Teilen der arabisch-sunnitischen Bevölkerung erfuhr. Letztere hatte die US-geführte Invasion 2003 zum Sturz des Baath-Regimes als Machtverlust erlebt und war durch De-Baathifizierungsgesetze und eine Regierungsbildung nach ethnisch-religiösem Proporz politisch ausgegrenzt worden. Weitere Marginalisierung erlebte sie unter der schiitisch dominierten Regierung von Al-Maliki. Nun kämpften ehemalige Baath-Militärs und sunnitische Clans an der Seite des IS, und dieser wurde von Teilen der arabisch-sunnitischen Bevölkerung als Alternative zur schiitischen Vorherrschaft begrüßt. Nur so ist zu erklären, dass der IS in der einst multiethnischen und multireligiösen Metropole Mossul staatsähnliche Strukturen und eine funktionierende öffentliche Verwaltung errichten, Steuern eintreiben und die Sharia-Gerichtsbarkeit durchsetzen konnte.
Von den einstmals drei Millionen Einwohner_innen leben nach wie vor 1,5 Millionen in Mossul. Zweifellos ist nach zweieinhalb Jahren islamistischen Terrors, der Zerstörung historischer und kultureller Güter, der Verbannung von Frauen aus dem Arbeits- und öffentlichen Leben, der Durchsetzung von Alkohol-, Rauch- und Fußballverboten eine etwaige Zustimmung für den IS längst Geschichte. Heute kann der IS die Mossuler_innen nur noch mit Terror und Androhung drastischer Strafen bei Fluchtversuchen in der Stadt halten. Es bleibt dennoch die Frage, wie sich die Einwohner_innen beim Einmarsch der irakischen Armee verhalten: Werden sie die Armee unterstützen, oder überwiegt die Angst vor einer Rückkehr der schiitischen Vorherrschaft und rachsüchtigen schiitischen Milizen? Werden sie - wie von vielen prognostiziert - zu Hunderttausenden fliehen? Werden sie angesichts der IS-Strategie, sich inmitten von Zivilist_innen zu verschanzen, überhaupt eine Handlungsoption haben?
Nach dem Vormarsch des IS im Jahr 2014 musste der irakische Ministerpräsident al-Maliki abtreten. Sein Nachfolger al-Abadi kündigte eine Politik der Inklusion der arabisch-sunnitischen Kräfte an, die bis heute auf sich warten lässt. Die schiitische Dawa-Partei sitzt weiter an den Schalthebeln der Macht. Die Regierung ist in einem Sumpf aus Korruption und Misswirtschaft versunken. Zwar konnte die irakische Armee den IS an vielen Stellen zurückdrängen und seine Verbindungswege zwischen Nord- und Zentralirak kappen. Dies war aber nur möglich mit der Hilfe schiitischer Milizen, die unter dem Dach der »Hashd al-Shaabi« (Volksmobilisierungseinheiten) agieren, an der Seite der irakischen Armee gegen den IS kämpfen und in den von ihnen eroberten Gebieten Racheakte an der arabisch-sunnitischen Bevölkerung verüben. Viele der irakischen Binnenflüchtlinge, die zurzeit in der kurdisch-irakischen Region Zuflucht suchen, kehren aus Angst vor den schiitischen Milizen nicht in ihre längst vom IS befreiten Heimatorte zurück.
Unausgeräumte Spannungen
Die Rolle der Milizen bei der Mossul-Offensive war ein zentraler Punkt in den Verhandlungen zwischen irakischer Regierung und internationaler Anti-IS-Koalition. Mit der Maßgabe, dass während der Mossul-Offensive einzig die irakische Armee in das Stadtgebiet von Mossul einmarschieren wird, die schiitischen Milizen im Westen sichernde Aufgaben übernehmen und auch kurdische Peshmerga nur bis zur Stadtgrenze vorrücken, versucht al-Abadi nun, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und die irakische Regierung und Armee als zentrale Ordnungsmacht im Irak zu etablieren. Für eine zukünftige politische Ordnung in Mossul, die von der arabisch-sunnitischen Bevölkerung nicht als erneute Besatzung erlebt wird, ist es von entscheidender Bedeutung, ob es al-Abadi gelingt, die schiitischen Milizen aus der Stadt herauszuhalten.
Nach den Angriffen des IS auf die jesidische Bevölkerung im Sinjar-Gebirge waren es zunächst Kämpfer_innen der türkisch-kurdischen PKK und der syrisch-kurdischen YPG, die die Korridore zu den bedrängten Jesid_innen öffneten und viele von ihnen dadurch retteten. In der Folge erkämpften sich die Peshmergaverbände der kurdischen Regionalregierung bei der Befreiung von Gebieten in Dyala, Kirkuk und Sinjar ihren Ruf als Kämpfer_innen gegen den IS zurück. Dabei weiteten sie ihre Kontrolle auf bisher zwischen irakischer und kurdischer Regierung umstrittene Gebiete wie Kirkuk und Khanaqin aus.
Mit dem Rückenwind internationaler politischer Aufwertung der kurdischen Peshmerga als Verteidiger_innen der Demokratie setzte der kurdische Präsident Massud Barzani 2014 ein Referendum für die staatliche Unabhängigkeit der kurdischen Region im Irak auf die politische Tagesordnung. Diese selbstbewusste kurdisch-nationale Politik Barzanis steht in krassem Gegensatz zur aktuellen humanitären, wirtschaftlichen und politischen Krise innerhalb der kurdischen Region.
Seit 2014 beherbergt die kurdische Region ca. 1,6 Millionen Geflüchtete aus den vom IS kontrollierten Gebieten. Die Solidarität der kurdischen Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten ist groß, aber es gibt auch Spannungen: Aus Sicht irakischer Kurd_innen sind die arabisch-sunnitischen Geflüchteten Teil der ehemaligen Tätergruppe und stellen aufgrund ihrer bisweilen unklaren Beziehungen zum IS ein hohes Sicherheitsrisiko dar. Trotz der Präsenz internationaler Hilfsorganisationen ist die kurdische Region mit der Versorgung der Geflüchteten überfordert. Seit 2014 leidet sie unter einer akuten Wirtschaftskrise: Als Reaktion auf eigenständige kurdische Erdölgeschäfte verhängte die irakische Regierung eine Finanzmittelblockade gegen die kurdische Region.
Dazu kommt die innenpolitische Krise: Seit Präsident Massud Barzani trotz Ablauf seiner Amtszeit mit Verweis auf die instabile Lage im Amt blieb, haben sich die Gräben zwischen Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (DPK) sowie den Parteien Patriotische Union Kurdistan (PUK) und Goran verschärft. Die Sitzungen des kurdischen Regionalparlaments sind ausgesetzt. Auch Barzanis Beharrlichkeit in der Unabhängigkeitsdebatte mitten in Krisenzeiten ist Gegenstand heftiger Debatten. Seine Befürworter wollen die derzeitige zentrale Bedeutung der kurdischen Region als Bündnispartner des Westens im Kampf gegen den IS nutzen, um Staatlichkeit durchzusetzen. Kritiker verweisen auf die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von unberechenbaren Nachbarn und votieren zunächst für eine Stabilisierung durch Verhandlungen mit Bagdad.
Angesichts der irakisch-kurdischen und innerkurdischen Konflikte ist das Zustandekommen einer gemeinsamen Strategie der irakischen und der kurdischen Regierung, wenn auch nicht ohne den Druck vor allem US-amerikanischer Vermittler, bemerkenswert. Der historischen Verkündung der gemeinsamen Militäroffensive durch al-Abadi folgten weitere Gesten der ausgestreckten Hand: Al-Abadi besuchte kurz nach Beginn der Offensive die kurdische Hauptstadt Erbil, die irakische Regierung zahlte kurzfristig 8,4 Millionen Dollar für ausstehende Peshmerga-Löhne. Es bleibt abzuwarten, ob die für die Mossul-Offensive gezimmerte Koalition ein Schritt zur Aufhebung der Wirtschaftblockade und eine Annäherung zwischen Erbil und Bagdad sein kann.
Offensive ohne schnelles Ende
Bislang hält diese Koalition. Irakische Truppen haben die östlichen Stadtviertel von Mossul erreicht. Kurdische Peshmerga kommen vom Nordosten und sollen an der Stadtgrenze von Mossul haltmachen. Die US-geführte internationale Anti-IS-Koalition gewährt Luftunterstützung, internationale und vor allem US-amerikanische Militärberater unterstützen die Kampfverbände. Vom Iran unterstützte schiitische Milizen kappen im Westen Nachschubwege des IS.
Kurz vor Beginn der Offensive hatte der türkische Ministerpräsident Erdogan massive Ansprüche auf eine Beteiligung der türkischen Armee an der Offensive erhoben und eine neue Runde fieberhafter Verhandlungen ausgelöst. Bislang beteiligt sich die Türkei nur indirekt über eine von ihr ausgebildete sunnitische Miliz um den ehemaligen Gouverneur von Mossul. Hoffnungen auf ein schnelles Ende der Offensive haben sich bereits zerschlagen: Abu Bakr al Baghdadi rief seine Anhänger zum erbitterten Kampf auf. Der IS-Angriff auf Kirkuk am 20. Oktober zeigt die Gefahr dezentraler IS-Aktionen. Die vorrückenden Kampfverbände stoßen auf Sprengfallen, unterirdische Tunnelsysteme und Scharfschützen. In Mossul unterbindet der IS jeglichen Kontakt der Bevölkerung zur Außenwelt und verschanzt sich sprengstoffbeladen in Wohnvierteln. Nur wenigen Menschen ist bislang die Flucht aus Mossul gelungen. Von der verzweifelten Lage der 1,5 Millionen Mossulis in der belagerten Stadt berichtet der Blog von Mosul eye täglich auf facebook. Seine Eintragung am 7. November 2016 endet mit den Worten: »Maybe the sun soon will rise in Mossul, and it will be liberated by then, or maybe not. But I ask, if we die, who will bury us? Do not forget Mossul.«
Karin Mlodoch ist Mitglied des Vereins HAUKARI e.V., in ak 597 schrieb sie über die Anti-IS-Koalition.