Das Märchen von der Konkurrenz
Wirtschaft & Soziales Die Unternehmen brauchen Arbeitskräfte en masse. Deshalb gibt es jetzt das Integrationsgesetz und neue Regeln bei Hartz IV
Interview: Jan Ole Arps
Sowohl das Integrationsgesetz als auch die Hartz-IV-Verschärfungen, die am 1. August unter dem Titel »Rechtsvereinfachungsgesetz« in Kraft getreten sind, tragen dazu bei, den riesigen Bedarf der Unternehmen nach Arbeitskräften zu bedienen. Wir haben mit Thilo Broschell darüber gesprochen, was die neuen Maßnahmen für Erwerbslose und Geflüchtete bedeuten.
Fangen wir mit der Konkurrenz von Geflüchteten und Einheimischen am Arbeitsmarkt an, die sich Rechtspopulisten wie Seehofer und die AfD zunutze machen wollen ...
Thilo Broschell: Das Gerede von der Konkurrenz am Arbeitsmarkt ist ziemlicher Quatsch.
Inwiefern?
Einmal gibt es gar nicht so viele Geflüchtete. Von den 800.000, die letztes Jahr gekommen sind, werden am Ende vielleicht 500.000 durch das Asylverfahren kommen und bleiben. Von denen sind schon 130.000 in Arbeit, auch weil das Integrationsgesetz viele Hemmnisse, die es gab, beseitigt hat. Früher musste immer geprüft werden, ob erst ein Deutscher oder ein Europäer den Job machen kann. Das fällt für die, die anerkannt sind, nun weg. Im Moment geht es eher darum, den Druck zur Aufnahme von Arbeit zu erhöhen, für Einheimische und Geflüchtete, und die Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu füllen.
Welche Lücken?
Es gibt fast eine Million offene Stellen in Deutschland. Das sind die Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die liegen etwas höher als die der Bundesagentur für Arbeit, weil die auch Stellen zählen, die nicht der Bundesagentur gemeldet werden. Es ist jedenfalls rekordverdächtig. Obwohl es so viele Erwerbstätige gibt wie noch nie: fast 44 Millionen, eine halbe Million mehr als letztes Jahr. Mit knapp 2,7 Millionen Jobsuchenden registrierte die Bundesagentur für Arbeit die niedrigste Augustarbeitslosigkeit seit 25 Jahren.
Woran liegt das?
Am deutschen Exportboom und an der verstärkten Teilzeitarbeit, vor allem von Frauen. Die Exportwirtschaft - aber nicht nur die - sucht verzweifelt nach Arbeitskräften. Nur sind viele der mittelständischen, exportorientierten Unternehmen in ländlichen Regionen angesiedelt. Die haben Probleme, von der mobilen, jungen Arbeitskraft, die nach Deutschland kommt, zu profitieren, denn die zieht es in die Großstädte. Das ist vorteilhafter und auch viel netter als in einem kleinen Kaff zu sitzen. Die wollen nicht nach Herzogenaurach oder Lübbecke in Westfalen.
Was ändert sich durch das Integrationsgesetz?
Jetzt haben die Unternehmen bessere Chancen, Arbeitskräfte zu bekommen, und mit der Wohnortfestlegung werden diese Arbeitskräfte auch örtlich gebunden. Außerdem beinhaltet das Integrationsgesetz Restriktionen. Wenn du Integrations- und Sprachkurse, Praktika oder Ausbildung verweigerst, winken Strafen, bis hin zum Widerruf des Aufenthaltstitels. Wer dagegen als Anerkannter eine Ausbildung macht, bekommt drei Jahre Zeit dafür und anschließend noch zwei Jahre einen sicheren Aufenthaltstitel. Danach kannst du nur noch schwer abgeschoben werden. Das Integrationsgesetz ist eigentlich ein Arbeitsgesetz. Integration bedeutet übersetzt: möglichst gute Bedingungen, damit die Unternehmen ihren Arbeitskräftebedarf auffüllen können.
Von was für Jobs sprechen wir hier?
Vor allem Pflege, Logistik, Transport. Aber auch Fachkräfte in Industrie und Handwerk werden gesucht. Der Bedarf ist riesig in vielen Bereichen. Man sieht das daran, dass sich die Industrieverbände mit Forderungen nach Lohndumping zurückhalten. Ein Transportunternehmer aus Baden-Württemberg hat in einem Interview gesagt, er könne sofort 20 Leute einstellen, der Mindestlohn sei überhaupt kein Problem. Sein Problem ist, dass er keine Leute kriegt. Aber es dauert natürlich eine Weile, bis die Bürokratie die neuen Bedingungen verinnerlicht.
In Bayern gab es schon Beschwerden.
In Bayern behindert die Landesregierung Geflüchtete bei der Aufnahme einer Ausbildung massiv. Die bayerischen Industrie- und Handelskammern haben schon einen Brief an den Ministerpräsidenten geschrieben, dass da ein paar Sachen falsch laufen und er das bitte abstellen möchte. Ich gehe davon aus, dass die bayerische Praxis sich bald ändern wird.
Wieso kann der Arbeitskräftebedarf in vielen Regionen nicht gedeckt werden? Es ist ja nicht so lange her, dass die Arbeitslosigkeit ziemlich hoch war.
Ein Teil der Arbeitslosen ist schlicht und einfach für den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen, zum Beispiel weil sie alt und kaputt sind. Dann gibt es welche, die noch ein Stück weit zu gebrauchen sind, aber trotzdem keinen Job in der Exportindustrie machen können. Die werden vielleicht noch an Sklavenhändler, also Leiharbeitsfirmen vermittelt, oder in einen Job beim Wachschutz. Und dann gibt es die berühmte »Passungenauigkeit«. Es gibt vielleicht einen passenden Bewerber in Rostock, aber die freie Stelle ist in Bayern, und der Mensch sagt: Da zieh ich nicht hin. Obwohl viele Arbeitslose verpflichtet sind, sich bundesweit zu bewerben, nimmt ein Teil zur Not auch Sperren in Kauf.
Das könnte sich mit dem »Rechtsvereinfachungsgesetz«, das seit August in Kraft ist, ändern.
Ja, da kann das schon als »sozialwidriges Verhalten« gewertet werden, wenn man eine zumutbare Arbeit nicht annimmt. Im schlimmsten Fall kann das Jobcenter die Hartz-Bezüge, Miete und Krankenkasse zurückverlangen und nochmal 30 Prozent einbehalten von deinem künftigen Hartz-IV, zusätzlich zu den 30 Prozent Sanktionen, die auf drei Monate begrenzt sind. Diesen »Ersatzanspruch« kann das Jobcenter bis zu drei Jahre anteilig einbehalten, danach verfällt der Rest. Weil Erwerbslose sowas meist nicht bezahlen können, werden daraus Schulden, die sogar vererbt werden können. Das erhöht den Druck, jeden Unsinn mitzumachen, natürlich enorm. Aber wie das genau gehandhabt wird, ist noch nicht klar.
Was gilt als sozialwidriges Verhalten?
Kündigung eines Jobs, ohne dass du einen besseren in Aussicht hast. Oder ein alkoholkranker LKW-Fahrer, der durch das Trinken die Fahrtüchtigkeit gefährdet. Oder wenn eine Antragstellerin ihr Vermögen verschenkt oder »vergeudet« hat. Dann sind die Leistungen für den Zeitraum zu erstatten, für den ihr wegen des Vermögens keine Leistungen zugestanden hätten. Die Weigerung der Mutter eines nichtehelichen Kindes, den Vater zu benennen, gilt ebenfalls als sozialwidrig. Oder wenn eine Frau die Wohnung verlassen muss, weil der Ehemann sie schlägt - dann muss der Ehemann zahlen. Solche Sachen.
Warum wird all das jetzt stärker sanktioniert?
Weil diese Sachen häufig vorkommen. Die Leute trinken eben oder haben keine Lust mehr auf ihren Job. Oder dass Frauen nicht wissen oder sagen wollen, wer der Vater ist - das kommt alles häufiger mal vor. Da will das Jobcenter auch Geld sparen. Bisher hatte es da keine rechtliche Handhabe. Zweitens will man die Leute zu »arbeitsmarktkonformem« Verhalten zwingen, ihren Eigensinn beschneiden. Wenn mir gleich Sperren und Rückzahlungen drohen, überlege ich es mir zweimal, ob ich einen Job aufgebe. Das gleiche bei der Miete. Wenn man jetzt von einer Stadt in die andere zieht, und in der neuen ist die Miete 50 Euro teurer, wird das nicht mehr übernommen, selbst wenn sie noch in der Angemessenheitsgrenze liegt. Auch bei einer Weiterbildung kann man zur Kasse gebeten werden, wenn es keine Aussicht gibt, danach einen Job zu finden. Da geht es darum, den Leuten zu sagen: Überleg dir das mal mit dem Heilpraktiker, werd mal lieber Elektriker oder Erzieher, da haben wir nämlich 25 offene Stellen und können dich sofort unterbringen. Durch die offiziellen Erwerbslosen kann der bestehende Arbeitskräftebedarf aber gar nicht gedeckt werden. Um das deutsche Exportwunder am Laufen zu halten, sind die Unternehmen auf Einwanderung angewiesen.
Auch Ein-Euro-Jobs werden wieder ausgebaut.
Obwohl die niemanden in den ersten Arbeitsmarkt bringen. Es gibt sowohl die neuen 80-Cent-Jobs für Geflüchtete als auch verstärkt Ein-Euro-Jobs für Ältere. Die dürfen das jetzt drei Jahre am Stück machen.
Wieso?
Das soll den Übergang in die Rente erleichtern. Meint Frau Nahles.
Wie das?
Ja, das fragt man sich. Bei 120 Stunden im Monat zu 1,50 Euro sind das 180 Euro - da kann man vielleicht was sparen für die Altersarmut, die einem droht, wenn man lang genug Hartz IV bezogen hat. Die größte Gruppe der Langzeitarbeitslosen sind die Über-50-Jährigen, man könnte auch sagen die Kranken, Alten und Verbrauchten.
Was ist die Perspektive für die älteren Langzeitarbeitslosen?
Gar keine. Die werden auf dem Arbeitsmarkt einfach nicht mehr gebraucht. Gelegentlich werden sie noch in eine Qualifizierungsmaßnahme gesteckt, wo sie dann Excel lernen, oder in Ein-Euro-Jobs. Das hat den Nebeneffekt, dass sie für diese Zeit aus der Statistik rausfallen und danach wieder normale Arbeitslose, also keine Langzeitarbeitslosen, sind. Aber dazu, dass sie wieder in reguläre Jobs kommen, führt das nicht. Die moderne Arbeitswelt hat zur Folge, dass die menschliche Arbeitskraft in immer kürzeren Abständen vernutzt wird, sowohl körperlich wie auch geistig. Und da ist man mit 50 für die Exportwirtschaft schlicht und einfach nicht mehr produktiv genug. Selbst wenn kein einziger Flüchtling nach Deutschland gekommen wäre, hätte keiner von denen noch einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen.
In Berlin arbeiten auch 4.000 Geflüchtete in Ein-Euro-Jobs.
Das sind vor allem Arbeiten in den Unterkünften: in der Küche oder bei der Reinigung. Allerdings müsste man die eher 80-Cent-Jobs nennen. Hier kann es sogar passieren, dass es zu Mitnahmeeffekten kommt und Geflüchtete die Festangestellten irgendwann ersetzen, zumal die Regelung, dass nur gemeinnützige Träger Flüchtlinge als Ein-Euro-Jobber beschäftigen dürfen, weggefallen ist.
Wie beliebt sind diese »Arbeitsgelegenheiten«?
Nicht besonders. Neben den 80-Cent-Jobs, den Integrations- und Sprachkursen gehen viele ja auch noch einer »Nebentätigkeit« nach, sprich Schwarzarbeit, weil sie Geld brauchen, um ihre Schlepper zu bezahlen oder es an die Familien zu schicken. Oder weil sie selbst mal was haben wollen. Die Ein-Euro-Jobs gehören sowieso abgeschafft. Wenn bezahlte Arbeit, dann zu gleichem Lohn. In Berlin-Tempelhof haben einige Geflüchtete schon durchgesetzt, dass sie 8,50 Euro Mindestlohn bekommen, statt 80 Cent pro Stunde. Auch in Waldenburg in Sachsen haben sich Geflüchtete gegen Ein-Euro-Jobs gewehrt. Die Männer sollten 20 Stunden die Woche bei einem Bauhof arbeiten, für 1,05 Euro. Das wollten sie nicht. Stattdessen haben sie 8,50 Euro gefordert. Einer meinte auch: »Wir sind die Gäste von Frau Merkel, wir wollen hier nicht für nichts arbeiten.« Darüber war der Bürgermeister sehr »enttäuscht«, so hat er es in der Presse gesagt. Am Ende sind die Geflüchteten wohl um die Jobs drumrum gekommen
Hast du eine Prognose, wie das Integrationsgesetz und das Hartz-IV-Gesetz wirken werden?
Bei den älteren Arbeitslosen kann ich mir vorstellen, dass die Ein-Euro-Jobs angenommen werden. Das sind ja immerhin 180 Euro mehr im Monat. Viele werden versuchen, diese Jobs an Stellen zu machen, die sie sich selber suchen. Oder herumzutricksen, dass man nicht immer da ist. Die Leute werden schon einen Umgang mit den Ein-Euro-Jobs finden, der für sie auch von Vorteil sein wird. Beim Integrationsgesetz kann man erst nächstes Jahr sehen, inwieweit das greifen wird. Die Voraussetzungen sind nicht schlecht, weil zwei der drei beteiligten Gruppen ein Interesse dran haben: die Unternehmen und die Geflüchteten. Viele Unternehmen schreiben ihnen ja doch eher positive Eigenschaften zu: leistungsbereit, anpassungsfähig und mit modernen Kommunikationsmitteln vertraut. Jemand vom Bundesverband der Deutschen Industrie hat mal gesagt, wer es allein von Syrien bis nach Deutschland schafft, der bringt alle Eigenschaften mit, die wir hier auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Die einzigen, die sich querstellen könnten, ist die Bürokratie, die das verwaltet.
Was mit denen geschieht, die wieder abgeschoben werden sollen, ist eine ganz andere Frage. Zu hoffen ist natürlich, dass das nicht klappt. Und eine dritte Frage ist, was mit den Über-50-Jährigen passiert, die aus ihren Jobs rausfallen, aber eigentlich noch bis 67 arbeiten sollen und in der ganzen Zeit kein adäquates Einkommen mehr erzielen können.
Thilo Broschell
ist Erwerbslosen- und Stadtteilaktivist und aktiv im Verein Teilhabe, der aus den Erwerbslosenprotesten in Berlin hervorgegangen ist. Er hat lange Zeit ein Arbeitslosenfrühstück organisiert, betreibt den Stadtteilgarten auf dem Tempelhofer Feld und macht Veranstaltungen zu sozialpolitischen Themen. www.teilhabe-berlin.de