Aufgeblättert
Der Fall Rosenberg
»Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen.« So beginnt Silvia Plaths Roman »Die Glasglocke«. Sie erinnert an die jüdischen Kommunist_innen Ethel und Julius Rosenberg, die wegen Atomspionage für die Sowjetunion am 19. Juli 1953 in New York hingerichtet wurden. »Der Antisemitismus war in dem Verfahren gegen die Rosenberg untrennbar mit dem Antikommunismus verbunden«, schreiben die Antisemitismusforscherin Sina Arnold und der Historiker Olaf Kistenmacher in ihrem Buch über den »Fall Rosenberg«. Sie weisen nach, wie sich das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« in den USA verbreitete, während zeitgleich die stalinistischen kommunistischen Parteien in Osteuropa gegen den jüdischen »Kosmopolitismus« mobil machten. In einem eigenen Kapitel widmen sich die Autor_innen der Hetze gegen Ethel Rosenberg. Ihr nahm der Großteil der Medien übel, dass sie als Mutter zweier Kinder nicht das Leben einer Hausfrau führte. »Im Tierreich spricht man davon, dass Weibchen die tödlicheren Spezies seien. Man kann das auf den Fall Ethel und Julius Rosenberg übertragen«, schrieb die Boulevardzeitung New York World Telegram. Arnold und Kistenmacher haben mit dem Buch einen neuen Zugang zum Fall Rosenberg gefunden. Die Literaturliste und das Verzeichnis der Theaterstücke und Filme zum Fall Rosenberg bieten denen Anregungen, die sich weiter informieren wollen.
Peter Nowak
Sina Arnold und Olaf Kistenmacher: Der Fall Ethel und Julius Rosenberg, Antikommunismus, Antisemitismus und Sexismus in den USA zu Beginn des Kalten Krieges. Edition Assemblage, 96 Seiten, 12,80 EUR.
Gesellschaftsanalyse
Die positiven Kritiken in den bürgerlichen wie linken Medien sind völlig berechtigt: Oliver Nachtwey liefert mit seiner Antwort auf die ursoziologische Frage: »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« eine plausible Analyse. »Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden«. Die von ihm diagnostizierte »regressive Modernisierung« ist gekennzeichnet von gesellschaftlichen Liberalisierungen, die einhergehen mit zunehmender ökonomischer Ungleichheit. Von einem Verschwinden der Klassengesellschaft kann keine Rede sein, stattdessen hat eine Differenzierung und Individualisierung der Klassengesellschaft stattgefunden. Der Finanzkapitalismus, eigentlich eine »Reaktion auf die Wachstumskrise« seit den 1970er Jahren, werde zunehmend selbst zur »eigenständigen Ursache dieser Krise«. Als »Triebkraft der Prekarisierung der Arbeit« identifiziert Nachtwey die Finanzialisierung als sich ausbreitenden Modus des Kapitalismus. Seine Analyse und Argumentation stützt er auf umfangreiche eigene empirische Studien in verschiedenen Unternehmen, in der die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Dass der (politische) Fokus auf Chancengleichheit anstelle von Gerechtigkeit gravierende soziale Folgen nach sich zieht, ist keine neue Erkenntnis, aber Nachtwey bindet auch diese in eine überzeugende Darstellung der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklung ein.
Sebastian Klauke
Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 264 Seiten, 18 EUR.
Pubertät in Belfast
»Die Leute glauben, die Monster aus den Gruselfilmen wären nicht echt. Sind sie aber. Sie leben in Ardoyne« - einem ärmlichen, überwiegend katholisch-republikanischen Viertel im Norden von Belfast. Dort wohnt Mickey Donnelly, der pubertierende Ich-Erzähler in Paul McVeighs packendem Roman, der in den 1980er Jahren spielt, der Zeit der »Troubles«. Mickey ist ein »guter Junge«, anders als die »harten Jungs«, vor denen er sich fürchtet. Am liebsten spielt er mit seiner kleinen Schwester Maggielein und seinem Hund Killer. Zugleich träumt er von einer glänzenden Karriere als Schauspieler in den Hollywood. Die triste Realität reißt ihn immer wieder aus seinen Träumen. Fünf Minuten von seinem Elternhaus, im Viertel der protestantisch-loyalistischen »Prods«, wird es lebensgefährlich für Angehörige der katholisch-republikanischen Community. In deren Bereich gibt es eine Art Doppelherrschaft: Neben den ständig patrouillierenden britischen Soldaten und der heimischen Polizei diktiert die Irish Republican Army (IRA) die Alltagsregeln: Wer zu viel redet kriegt Ärger. Vermeintlichen Verräter_innen der republikanischen Sache wird schon Mal die Kniescheibe durchschossen. Auch in der Familie - versoffener Vater, resolute Mutter - geht es alles andere als gewaltfrei zu. Und dann ist da noch der Stress mit der Sexualität. Mickey ist verliebt in die schöne Martine - aber vielleicht doch schwul? Der überraschende Schluss beantwortet längst nicht alle offenen Fragen.
Jens Renner
Paul McVeigh: Guter Junge. Roman. Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 256 Seiten, 22 EUR.
Abweichungen
Patsy l'Amour laLove hat in ihrem facettenreichen Sammelband Texte zusammengetragen, die sich mit sexueller und geschlechtlicher Abweichung von der heterosexuellen Normalität und deren Abwertung beschäftigen. Diese thematisieren das Verhältnis zwischen Selbsthass bezüglich des eigenen Begehrens oder der geschlechtlichen Identität und einer möglichen Emanzipation davon. Selbsthass umfasst für die Autor_innen die Internalisierung von Ablehnung gegenüber der eigenen Differenz und die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Norm. In dieser Gesellschaft sei es unmöglich, keinerlei Schwulenfeindlichkeit zu internalisieren. Die bewusste Auseinandersetzung damit und die Aufwertung von verleugneten Persönlichkeitsanteilen stelle demnach einen wichtigen Schritt zur Emanzipation dar. Bezüglich der Frage nach Integration oder Emanzipation im Sinne einer grundsätzlichen Infragestellung der gesellschaftlichen Verhältnisse plädieren die Verfasser_innen für ein selbstbewusstes Betonen der eigenen Differenz. Kritisch setzen sie sich mit Ansätzen auseinander, die eine Differenzen nivellierende Integration anvisieren. Queere Ansätze, die vermeintlich existierende sexuelle Freiheit und das sexuelle Leistungsprinzip werden innerhalb der Texte ebenso einer Kritik unterzogen. Insbesondere die theoretischen Referenzpunkte (Psychoanalyse, Kritische Theorie, Konzepte der Schwulenbewegung) sind bereichernd zu lesen. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch eine breite Leser_innenschaft erreicht.
Moritz Strickert
Patsy l'Amour laLove (Hg.): Selbsthass & Emanzipation: Das Andere in der heterosexuellen Normalität. Querverlag, Berlin 2016. 260 Seiten, 16,90 EUR.