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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 622 / 13.12.2016

Vom Frühling in den Bürgerkrieg

International Der Krieg in Syrien geht in sein sechstes Jahr. Über seine ethnoreligiösen und sozialen Hintergründe

Das Assad-Regime und Russland wollen vor dem Amtsantritt Donald Trumps Fakten schaffen. Nach monatelangen Luftangriffen eroberte die syrische Armee weite Teile Aleppos von den Aufständischen. Mit dem Fall Aleppos hätte Assad auch ein Symbol des Aufstands blutig zerschlagen. Nach sechs Jahren Bürgerkrieg, der Hunderttausenden Menschen das Leben kostete und Millionen zur Flucht zwang, blicken wir zurück auf den Beginn der Protestbewegung, ihre Akteure und Interessen und die Bedingungen, die zur militärischen Eskalation geführt haben.

Von Bikoret Khatira

Kurz nach Beginn der Kämpfe um Mosul im Norden des Irak begann das syrische Regime, unterstützt von Russland und dem Iran, mit einer Großoffensive auf die belagerte Enklave Ostaleppo. Nach Jahren relativer Stagnation hat es massive Veränderungen an den Fronten gegeben. Assad-treue Truppen und alliierte Milizen rücken um Damaskus und in Aleppo vor; nach Iran und Russland ist zudem auch die Türkei mit Bodentruppen in Syrien aktiv geworden. Gleichzeitig ist die Miliz IS nicht nur im Irak sondern auch in Syrien in der Defensive. In Tagen, in denen das syrische Regime stündlich Erfolge im Kampf gegen »Terroristen« meldet, im sechsten Jahr eines brutalen Abnutzungskrieges, der Hunderttausende Todesopfer gefordert, mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus ihren Häusern vertrieben und mehr als 85 Prozent der Menschen in Armut gestürzt hat, scheint es angebracht, sich noch einmal seinen Kontext und seine Ursachen bewusst zu machen.

Ethnoreligiöse und soziale Hintergründe des Krieges

Häufig war in den vergangenen Jahren die Rede von Assads »alawitischem Regime« - die Konstruktion von homogenen Kollektiven, die einfache Antworten verspricht, erfreut sich großer Beliebtheit. Der Hintergrund ist jedoch wie immer komplexer. So rekrutierte sich die Anhängerschaft der nationalistischen Baath-Partei in den 1940er Jahren zu einem großen Teil aus Mitgliedern ethnoreligiöser Minderheiten, die sich von deren säkularem Programm eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position versprachen. Ein großer Teil des Militärs und seines Offizierskorps waren zudem - alawitische - Bewohner ländlicher Gebiete, während die überwiegend sunnitische Stadtbevölkerung unterrepräsentiert war.

Nach Richtungskämpfen in der Partei, mehreren Putschen konkurrierender Militärs und Säuberungsaktionen gelangten schließlich im Jahr 1970 Hafiz al-Assad, der Vater von Bashar al-Assad, und die militärische Baath-Fraktion an die Macht. Diese Offiziere aus alawitischen Familien installierten enge Vertraute und Verwandte in zentralen Positionen - die Geburt des »alawitischen Regimes«.

Doch paradoxerweise wurde die Ausübung alawitischer Rituale eingeschränkt und eine massive Missionierungskampagne gestartet. Auslöser war die Ablehnung, die Hafiz al-Assad von Seiten sunnitischer Autoritäten entgegenschlug. Um sich der Bevölkerungsmehrheit gegenüber zu legitimieren, begann Assad, regelmäßig die Moschee zu besuchen. Während er zunächst das Wirken schiitischer Geistlicher unterstützte, schränkte er nach der »Islamischen Revolution« im Iran 1979 iranische und schiitische Aktivitäten in Syrien ein und bestärkte sunnitische Geistliche beim Aufbau eines Netzwerkes von Koranschulen im ganzen Land. Gegen Gewerkschaften und linke Parteien ging Assad derweil massiv vor - eine Parallele zur Entwicklung in Ägypten.

Gleichzeitig zerschlug das Regime brutal die »sunnitisch-islamistische« Rebellion der Jahre 1976-1982. Die ethnokonfessionelle Gewalt im Zuge der Rebellion hatte ihrerseits durchaus Einfluss auf die Reaktionen des Regimes. In Hama, einer Bastion traditioneller sunnitischer Eliten und der Muslimbrüderschaft, tötete die Armee in Reaktion auf einen gescheiterten Aufstandsversuch zwischen 10.000 und 25.000 Aufständische und Zivilist_innen. Zudem verübte das Regime Massaker an politischen Gefangenen. Eine blutige, aber erfolgreiche Aufstandsbekämpfung, die für die strategischen Entscheidungen des Regimes im Jahr 2011 Pate gestanden haben dürfte.

Von Hafiz al-Assad zu Bashar al-Assad

Nach der Machtübernahme Bashar al-Assads im Jahr 2000 verstärkte sich der iranische Einfluss wieder, nicht zuletzt, da das iranische und das Assad-Regime mit ihrer Kooperation die Stärkung ihrer jeweiligen regionalen Position anstrebten. Assad versprach sich von einer »Schiitisierung« zugleich das Abstreifen des alawitischen Stigmas. Der Fokus des syrischen Regimes lag nun auf der Unterstützung schiitischer Aktivitäten im ganzen Land. Zahlreiche Schreine wurden mit iranischem Kapital neu gebaut oder renoviert, Pilgerzentren errichtet und schiitische, oft explizit antisunnitische Propagandasendungen im Staatsfernsehen ausgestrahlt. Das Regime bürgerte zudem Tausende schiitische Flüchtlinge aus dem Irak ein.

Die Entwicklungen trafen die sunnitische Bevölkerungsmehrheit auch materiell. Dutzende iranische Großbauprojekte etwa zogen massive Veränderungen der Boden-, Immobilien- und Lebenshaltungskosten nach sich; der iranische Geldsegen für schiitische Einrichtungen und Konvertit_innen sorgte mancherorts für Frust und Neid. Sunnitische Geistliche und Gruppierungen wie die Muslimbrüder reagierten ihrerseits mit verstärkter Propaganda, zudem schalteten sich die Golfstaaten, insbesondere Saudi-Arabien ein und beschworen die drohende »Gefahr für den sunnitischen Glauben«.

Die innerhalb von Strukturen von Korruption und »Vetternwirtschaft« forcierte Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik und der Rückbau des Sozialstaats schufen jedoch in ungleich größerem Maße sozialen Sprengstoff. In den 2000ern - die EU war wichtigster Handelspartner Syriens, und die USA kooperierten im Rahmen des extralegalen Überführungsprogramms der CIA zur Folter von Gefangenen im »Kampf gegen den Terror« mit dem syrischen Geheimdienst - ergriff das Regime unter der Ägide des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank umfangreiche »Strukturanpassungs«- und Privatisierungsmaßnahmen, die vor allem den Agrarsektor und die ländlichen Gebiete hart trafen. Um Städte wie Damaskus wuchs ein Armutsgürtel von größtenteils sunnitischen Landflüchtlingen.

In der sozialen Misere kamen die Gewinner_innen - ob Alawit_innen, Sunnit_innen oder Christ_innen - aus den Städten, die Verlierer_innen größtenteils aus ländlichen, traditionell sunnitisch geprägten Gegenden, die stark verelendeten. So stieg die Armutsrate in den ländlichen Gebieten bis 2004 auf 32 Prozent (Städte: 28,6 Prozent), im Jahr 2007 lag sie bereits bei 37 Prozent (Städte: 30,7 Prozent). Am höchsten war der Anteil der Familien, die unter extremer Armut litten und sogar weniger Mittel zur Verfügung hatten, als zur Versorgung mit der notwendigen Mindestmenge an Kalorien nötig ist, im Jahr 2009 in Idlib (34,2 Prozent), Rif Damaskus (25 Prozent), Homs (24,2 Prozent) und Daraa (23,4 Prozent) - alle vier überwiegend von Sunnit_innen bewohnte Provinzen waren zwei Jahre später Zentren der Protestbewegung gegen Assad.

Ungleichbehandlungen etwa im Bereich staatlicher Investitionen verschärften die Lage zusätzlich - und forcierten ihre Wahrnehmung durch ethnoreligiöse Raster. So betrug das Realwachstum der Kaufkraft zwischen 2004 und 2009 in der überwiegend von »Alawit_innen« bewohnten Provinz Lattakia 2,4 Prozent, übertroffen nur von der Provinz al-Sweida mit 3,5 Prozent. In vielen »sunnitischen« Regionen war das Wachstum negativ, am stärksten in den ländlichen Provinzen im Osten Deir al-Zor (minus 10 Prozent) und al-Raqqa (minus 4 Prozent), beides in den letzten Jahren IS-Bastionen, sowie in den Provinzen Idlib (minus 5,1 Prozent) und Daraa (minus 5,9 Prozent).

Vom »Frühling« in den Bürgerkrieg

Das war die Ausgangssituation für die Proteste in Syrien im Frühjahr 2011, die heute nahezu vergessen sind. Dabei begannen diese mit Massendemonstrationen von Zivilist_innen, mit politischen Parolen. Eine auf Reformen zielende Protestbewegung in den Städten schaffte es damals allerdings nicht, einen »syrischen Frühling« auszulösen. Erst die Mobilisierung entlang tribaler Identitäten und Loyalitäten führte zu ersten Massendemonstrationen. Die Stadt Daraa, wo die Verhaftung von Schulkindern deren Familien auf die Straße brachte, ist das Symbol dieser Zäsur. (ak 561)

Ab März 2011 gab es Demonstrationen in Hunderten Dörfern und Städten, die monatelang gewaltfrei blieben. Eine kritische Masse erreichten die Proteste vor allem durch die Mobilisierung eines größeren Teils der Hunderttausenden von Armut und Marginalisierung betroffenen Syrer_innen, die in den letzten zehn Jahren von den neoliberalen Umstrukturierungsmaßnahmen, Privatisierungen und Massenentlassungen sowie einer massiven Dürre getroffen worden waren und die sich teilweise als Sunnit_innen diskriminiert oder unterdrückt sahen. Dazu trugen die ethnokonfessionellen Elemente der Politik Assads bei, die ihr Spiegelbild in der Identitätspolitik sunnitischer religiöser Figuren und »sunnitisch-islamistischer« Strukturen fand.

Organisiert wurden die Demonstrationen meist lokal und von sehr unterschiedlichen Kräften: von lokal einflussreichen Personen, organisierten Studierenden, oppositionellen Gruppen, teils von religiösen Strukturen wie der Muslimbruderschaft. Vielerorts entstanden Organisationskomitees, Aktivist_innen verbreiteten Videos von den Protesten. Das Regime antwortete früh mit Repression. Waren zunächst Dutzende etablierte Bürgerrechtler_innen und oppositionelle Aktivist_innen im ganzen Land verhaftet worden, begann im April 2011 eine gigantische Verhaftungswelle. Nicht nur tatsächliche oder vermeintliche oppositionelle Aktivist_innen, sondern auch Tausende überwiegend männliche Jugendliche und Erwachsene aus Orten, in denen es Demonstrationen gab, wurden inhaftiert. Mehrere zehntausend Menschen wurden seit 2011 verhaftet, verhört, eingeschüchtert und mit Schlafentzug, Elektroschocks, Vergewaltigungen mit Gegenständen, Aufhängen an der Decke oder Essensentzug gefoltert und getötet. Doch die sich ausweitenden Verhaftungen und gewaltsamen Reaktionen auf Demonstrationen verfehlten ihr Ziel. Der Protest wurde nicht erstickt, er militarisierte sich.

Bereits im April 2011 ging das Militär mit Scharfschützen und Panzern gegen »Unruhezentren« vor. In den ersten zwei Monaten der Proteste zählten Oppositionelle bereits 1.000 Tote. In diesem Moment begann der Übergang der Unruhen in einen bewaffneten Konflikt. An verschiedenen Orten griffen Familien und Mitglieder politischer Gruppen zu den Waffen, zudem kam es zu Desertionen vor allem aus unteren Ebenen der syrischen Armee. »Sunnitische« Netzwerke etwa aus dem Libanon schmuggelten Waffen und andere Güter nach Syrien.

Eskalation der ethno-konfessionellen Dynamik

Zusätzlich begannen salafistisch inspirierte Gruppen, sich zu organisieren und zu bewaffnen, teilweise um militante Kader, die der syrische Geheimdienst genau in diesem Moment zu Hunderten aus dem Gefängnis entließ. (ak 596) Diese Kader, die oft bereits im Irak bei Operationen gegen US-Besatzungstruppen, die irakische Zentralregierung und Schiit_innen aktiv gewesen waren, konnten teils auf bestehende Netzwerke wie al-Qaida-Strukturen zurückgreifen. Während ihrer Aktivität im Irak waren diese Strukturen auch beim Transit durch und Aufenthalt in Syrien von Geheimdienst und Sicherheitsapparat geduldet worden. Die meisten wurden erst bei ihrer »Rückkehr« nach Syrien in Haft genommen. Schnell fanden sie nun ausländische Förderer vor allem in den Golfstaaten.

Doch die ersten bewaffneten Auseinandersetzungen waren lokal begrenzt - gewaltsame Reaktionen von lokalen Akteuren und Deserteuren auf die Eskalation. Das Label der »Freien Syrischen Armee« (FSA) wurde in Umlauf gebracht, es gab rudimentäre Organisationsversuche von durch Freiwillige wachsende Milizenverbänden. Im Winter 2011/2012 eskalierte das Regime das Vorgehen gegen Städte, in denen es Massendemonstrationen und eine bewaffnete oppositionelle Präsenz gab. Das Militär setzte massiv Artillerie ein, bombardierte Wohnviertel, auch in Großstädten wie Homs. Immer stärker wurden auch die vor allem von Alawiten gestellten sogenannten »Shabbiha«-Milizen mobilisiert, was eine weitere Entgrenzung der Gewalt entlang ethnoreligiöser Linien forcierte.

Armee und Milizen zielten auf Abschreckung und Demoralisierung. Bei Razzien nach Demonstrationen und bei Militäraktionen gegen vermeintlich mit oppositionellen Kämpfern sympathisierende Teile der Bevölkerung wurden in mehreren Orten Menschen ermordet, auch vergewaltigt. An die Stelle von Demonstrationen traten Hit-and-Run-Aktionen, dann organisiertere Angriffe von übergelaufenen Soldaten, bewaffneten Oppositionellen sowie salafistischen, darunter auch dschihadistischen Milizen. Hatte bereits die militärische Niederschlagung der zivilen Proteste international keine nennenswerten Reaktionen hervorgerufen, begünstigte die fortschreitende Militarisierung die salafistisch orientierten Gruppen, die etwa in Saudi-Arabien und den Golfstaaten oder der Türkei großzügige Förderer hatten. Nicht-salafistische, eher säkulare syrische Milizen unter dem Label der FSA fanden keine vergleichbar großzügigen Mäzene, auch wenn sie etwa in einem Programm der CIA mit mobilen Lenkwaffensystemen ausgerüstet wurden.

Die Eskalation der ethnokonfessionellen Logik zwang die Menschen in Syrien in Geiselhaft. Viele Alawit_innen hatten bald allein aus Angst vor Racheakten ein Interesse am Überleben des Regimes. Gleiches gilt für viele Christ_innen, etwa in Aleppo. Mittlerweile ist Syrien ein Flickenteppich, der von verschiedensten das Regime verteidigenden oder bekämpfenden, teils konkurrierenden und sich untereinander bekämpfenden staatlichen (syrischen und ausländischen), semistaatlichen oder nichtstaatlichen Militäreinheiten und Milizen mit unterschiedlichsten Ideologien und Interessen kontrolliert wird.

Der Fall Aleppos im sechsten Bürgerkriegsjahr

Aleppo ist die bedeutendste Front im syrischen Krieg. In der zweiten Hälfte des Jahres 2012 überrannten Aufständische aus dem Umland Teile der Stadt, die nach monatelangen heftigen Kämpfen in einen von Loyalisten kontrollierten Westteil und einen von aufständischen Milizen kontrollierten Ostteil gespalten wurde. Bereits Mitte 2013 wurden über 10.000 Tote gezählt, die bei Kämpfen oder Bombardements des Ostteils umgekommen oder von Geheimdienst, Polizei und Shabbiha, seltener von oppositionellen Milizionären ermordet worden waren. In den Folgejahren änderte sich wenig an den Fronten, es gab nur immer mehr Tote. Wohngebiete, aber auch das Weltkulturerbe der Altstadt wurden zerstört - am verheerendsten durch Luftangriffe des Regimes.

Im Ostteil der Stadt organisierten zivile oppositionelle Aktivist_innen zusammen mit den überwiegend unter dem FSA-Label operierenden Milizen den Alltag. Der Schulbetrieb wurde dabei ebenso organisiert wie die Müllabfuhr. Dabei war und ist die Versorgung mit Energie, Wasser und Nahrungsmitteln in der ganzen Stadt, vor allem aber im Ostteil, eingeschränkt; in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten herrschten in den letzten Jahren Armut und Mangelversorgung.

Die Lage wurde zuletzt durch die Schließung eines Belagerungskessels um Ostaleppo verschärft, den auch eine massive Offensive oppositioneller Milizen unter Führung der mit dem al-Qaida-Netzwerk verbundenen Jabhat Fatah al-Sham (»Front zur Eroberung Großsyriens«) im Sommer dieses Jahres nicht brechen konnte. Nun will das Assad-Regime, vermutlich aber vor allem Russland, vor dem Amtsantritt Donald Trumps Fakten schaffen. Nachdem die Enklave im Osten der Stadt in den letzten drei Monaten bei Luftangriffen auf weit über 1.000 Ziele und andauerndem Artilleriebeschuss mit Hunderten zivilen Opfern »sturmreif« geschossen worden war, eroberten die syrische Armee und loyalistische Milizen in den letzten November- und ersten Dezembertagen weite Gebiete von den Aufständischen.

Iran und Russland, Kurd_innen und Islamisten

In den Kämpfen in Aleppo und Nordsyrien überkreuzen sich komplexe und verworrene regionale und internationale Konfliktlinien und Allianzen, Interessen und Machtansprüche: Da wäre zuerst die Seite des syrischen Regimes, ein Machtzentrum von Familien, Armee-, Geheimdienst- und Parteistrukturen, die in der Figur Assads zusammenlaufen. Es hat früh auf die totale militärische Lösung des Konflikts gesetzt. Als seine militärischen Kapazitäten erschöpft waren und sein Kollaps drohte, begann zunächst der Iran zu intervenieren, mit eigenen Militärs, Waffen und insbesondere mit der libanesischen Hizbollah, die Eliteeinheiten an die Front schickte. Nach und nach wurden zudem massive Verbände irakischer »schiitisch-islamistischer« Milizen und afghanischer Söldner mobilisiert, oft unter dem Banner der »Verteidigung der heiligen Schreine« der Schiit_innen in Syrien. Zudem wurde landesweit eine paramilitärische Zivilmiliz aufgestellt und vom Iran ausgerüstet, die »Nationalen Verteidigungskräfte« (NDF). Manche Verbündete des Regimes gründeten zusätzliche Milizen und fungieren nun als regionale Warlords.

Nach dem Iran griff zudem Russland aktiv in die Kampfhandlungen ein, mit Waffenlieferungen und dem Einsatz von Spezialkräften, vor allem aber mit seiner Luftwaffe. Russland hat ein strategisches Interesse an der Erhaltung des Regimes, es unterhält in Syrien die einzige Marinebasis außerhalb der Russischen Föderation. Das Engagement in Syrien hat jedoch noch eine andere Bedeutung. Es beweist, dass Russland ohne Rücksicht auf die UN, vor allem auf die USA, nach eigenem Gutdünken agieren kann. Im Nahen Osten kann es faktisch die alte US-Position als Ordnungsmacht einnehmen, während die USA widersprüchlich und halbherzig agieren und das Vertrauen aller Beteiligten, auch ihrer Alliierten, verspielen. So setzt das Pentagon im Kampf gegen den IS auf Kooperation mit den kurdischen Peschmerga des Barzani-Regimes im Nordirak und den Volksverteidigungseinheiten der YPG in Nordsyrien, Kräfte, die miteinander verfeindet sind. Die CIA unterstützt in Zusammenarbeit mit der Türkei und Saudi-Arabien zudem gleichzeitig verschiedene »sunnitisch-islamistische« und unter dem FSA-Label operierende Milizen und rüstet sie aus. Diese wiederum bekämpfen nicht nur den IS und das Assad-Regime, sondern auch die kurdische YPG.

Alliierte der USA im Kampf gegen den IS sind zudem die irakische Regierung und »schiitisch-islamistische« Milizen, iranische Proxys, die wiederum in Syrien an der Seite des Regimes kämpfen. Alles in allem steht der Iran neben Russland und dem syrischen Regime auf der Gewinnerseite. Er baut seine Position als zentrale Regionalmacht aus, die von ihm finanzierten, ausgerüsteten und kontrollierten Milizen nehmen Schlüsselpositionen im Irak, in Syrien und auch im Libanon ein.

Die Türkei in der Sackgasse?

Das Erdogan-Regime in der Türkei hat sich derweil in eine explosive Sackgasse manövriert. Nach jahrelanger Unterstützung »sunnitisch-islamistischer« und salafistischer Milizen und einer Projektion der neoosmanischen türkischen Einflusssphäre bis Aleppo fand es sich noch kürzlich auf direktem Kollisionskurs mit Russland wieder, eine Situation, der es nicht gewachsen war. Seine Offensive gegen »Terroristen« und der Einmarsch mit Bodentruppen in Nordsyrien musste mit Russland und dem Regime abgekartet werden.

Dass der Osten Aleppos nun plötzlich fällt, hat mit diesen seismischen Veränderungen zu tun. Die Türkei hat nämlich im Zuge ihres Einmarschs Milizenverbände von den Kämpfen in Aleppo abgezogen - und augenscheinlich auch die totale Zerschlagung der Enklave im Osten Aleppos abgenickt, wohl im Tausch für freie Hand beim Errichten einer »Pufferzone« in Nordsyrien und einer Front gegen die dortigen kurdischen Enklaven, deren Selbstverwaltungskonzept und politische Führung (PKK und PYD) die Türkei als Hauptfeind betrachtet.

Kurzfristig profitieren von diesen Verschiebungen sowohl die Türkei, die die Vereinigung der kurdischen Kantone in Nordsyrien verhindern konnte, als auch das Assad-Regime und seine Schutzmächte, da Assad das syrische Rumpfgebiet konsolidiert, die zweitwichtigste Stadt Syriens wieder kontrolliert und blutig und mit absolutem Zerstörungswillen das Symbol des Aufstands zerschlägt.

Jetzt, wo Ostaleppo fällt, ist ein Abzugsdeal denkbar, wie er in den letzten Wochen für kleinere Rebellenenklaven umgesetzt wurde. Die aufständischen Milizionäre würden dann freies Geleit zum Abzug in die Provinz Idlib bekommen, die von Jabhat Fatah al-Sham und Ahrar al-Sham kontrolliert wird. Letztere sind potentielle Gewinner - sie können nach dem Fall Aleppos auf Zulauf von desillusionierten Kämpfern anderer Milizen hoffen. Für die Türkei könnte die Entwicklung unangenehm werden. Zehntausende Milizionäre würden sich in der Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei aufhalten. Sollten diese sich nicht gegen die kurdischen Kantone mobilisieren lassen, könnten sie im Falle einer Regimeoffensive gegen die türkischen Grenzen drücken. Viel hängt davon ab, ob Russland oder die USA die kurdische Selbstverwaltung fallen lassen, die dann zwischen der Türkei und dem Regime zerrieben würde.

Eine Gruppe ist zuletzt ausschließlich den Verlierern zuzuordnen. Es sind diejenigen, die an eine zivile und friedliche Protestbewegung geglaubt hatten, es sind die Aktivist_innen der lokalen Komitees, die Demonstrant_innen, die auf Kundgebungen gegen Assad und gegen Salafistenmilizen »Freiheit« skandierten, es sind die Menschen auf allen Seiten der Fronten, die die Gewalt nicht gewählt haben, aber von Granaten und Fassbomben getroffen und von Soldaten und Milizionären ermordet wurden - es wird von bis zu 100.000 getöteten Zivilist_innen ausgegangen - oder fliehen mussten. Diejenigen also, die in den letzten sechs Jahren als einzige von keiner regionalen und internationalen Macht unterstützt und beschützt worden sind.

Bikoret Khatira

ist ein Blogprojekt, das von drei Politik-, Geschichts- und Islamwissenschaftler_innen gestartet wurde. Es will Informationen und Hintergründe zu Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten verfügbar machen, die in den Medien zu kurz kommen, und zum Hinterfragen oft unterkomplexer linker Positionen anregen. Mehr auf bikoretkhatira.wordpress.com und bei Facebook .