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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 622 / 13.12.2016

Welches Opfer, welcher Auftrag?

Faschismus Auch für heutige Neonazis ist der Nationalsozialismus Vorbild und Ideenpool

Von Maike Zimmermann

»Der Kampf um die Köpfe ist genauso wichtig wie der Kampf um die Straße«, schreibt das Nationale Medienkollektiv auf seiner Facebookseite. Auf die Frage »Wann habt ihr das letzte mal ein Buch zur Hand genommen?« folgt ein Foto. Darauf sind Bücher zu sehen wie die »Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes« oder auch »Volk ohne Raum« von Hans Grimm; das Buch »Auf den Strassen des Sieges« aus dem Jahr 1939 berichtet über die »Erlebnisse mit dem Führer in Polen«, und in »Blutzeugen« werden 220 Namen aufgezählt, chronologisch, »reich bebildert« und mit räumlicher Zuordnung - so wird es für die Leser_innen einfacher, »auch die regionalen Vorkämpfer der NS-Bewegung ausfindig zu machen«. So zumindest heißt es im Klappentext.

Bezüge auf den Nationalsozialismus gibt es in der extremen Rechten etliche. Die Anhänger_innen des deutschen Faschismus wissen dabei sehr genau, dass sie sich unter Umständen auf strafrechtlich schwierigem Terrain bewegen. Das Spektrum reicht daher von deutlichen Anspielungen am Rande des rechtlich Zulässigen bis hin zum vermeintlich unterschwelligen Aufgreifen von Traditionslinien, Symbolen oder Ritualen. So oder so: Der Nationalsozialismus dient verschiedenen Strömungen der extremen Rechten nach wie vor als Ideenpool.

Matefaschisten und Nipster Blog

Vor allem in sozialen Medien finden sich diverse Mehr- und Eindeutigkeiten mit nationalsozialistischem Hintergrund. Bei der Aktionsgruppe Lalendorf marschieren deutsche Soldaten - unter dem Foto steht: »Boys will be boys«. Auf der Seite der Stacheldrahtzieher steht auf einem Bild mit einem steinernen Reichsadler »Der Glaube lebt in uns weiter«. Die Matefaschisten erklären in einem kurzen Text den Nationalsozialismus und schließen ab mit einem Zitat von Herman Göring und einem Marschbild deutscher Soldaten vor »dem Führer«: »Einige Dinge würde ich ändern, ansonsten aber glaube ich, daß das Führerprinzip und der Nationalsozialismus für Deutschland die einzig mögliche Lösung waren.« Und der Nipster Blog (Nipster steht für »Nazi Hipster«) postet Fotos von Joseph Goebbels, Graffitis mit Herz und »NS oldschool« oder das »Nipster starter pack«: New-Balance-Sneaker, eine Originalausgabe von Hitlers »Mein Kampf«, Club Mate und Oberlippenbart. Auch »I feel like Adolf« findet sich hier sowie ein Porträt von Horst Wessel mit dem Zusatz »Die Fahne hoch«.

In der »realen Welt« ist es vor allem das Totengedenken, das in hohem Maße sinnstiftend und gemeinschaftsbildend wirkt. Es ist - ganz allgemein - Ursprung und Mitte dessen, was Erinnerungskultur bedeutet. Denn der Tod ist die Urerfahrung der Differenz zwischen Gestern und Heute, jede Gemeinschaft vergewissert sich ihrer Identität über die Rückbindung an die Toten. (Assmann: 61/63) Betrachtet man den Wandel der extremen Rechten in den letzten 20 Jahren, so fällt auf, dass das an den Nationalsozialismus angelehnte Totengedenken sämtliche politischen Konjunkturen überdauert hat. Der Bezug ist hier mehr oder weniger verklausuliert und wird hauptsächlich über verschiedene Varianten »deutscher Opfer« transportiert. Die generierten Botschaften verknüpfen die Vergangenheit mit der Gegenwart.

In der nationalsozialistischen Weltanschauung spielen heroische Idealbilder und Heldenmythen von Anfang an eine große Rolle. (Behrenbeck: 84) Eine initiierende Funktion hatten dabei vor allem Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Hitlers Heldenideal war geprägt von der Figur des Kriegers und Kämpfers, gemäß einer sozialdarwinistischen Grundüberzeugung vom Leben als Kampf ums Dasein. In dieser Vorstellung wird der Tod der gefallenen Kämpfer zur Verpflichtung der Lebenden in Gegenwart und Zukunft. Dieses spätere »Standardmotiv nationalsozialistischer Propaganda« (Behrenbeck: 88) benutzte er bereits in den frühen 1920er Jahren hinsichtlich der sogenannten Dolchstoßlegende. Zum Schlüsselerlebnis für Hitlers Einstellung zum Heldentum wurde der gescheiterte Putschversuch vom 8./9. November 1923. Der sich hieraus bildende Mythos war wichtige Voraussetzung sowohl des Führerkultes als auch aller späterer Heldenverehrung und Märtyrerkonstruktionen. Zunächst diente er jedoch der Umdeutung des als »Marsch nach Berlin« proklamierten Debakels, der als »Marsch zur Feldherrnhalle« im Kugelhagel der bayerischen Polizei endete: 16 Putschisten starben, Hitler und seine Anhänger wurden verhaftet, die NSDAP in der Folge verboten.

Im Nationalsozialismus wurde der sogenannte Hitler-Putsch zum Ursprungsmythos des »Dritten Reichs«, die Toten wurden zu »Blutzeugen«, die bei diesem Anlass mitgeführte Fahne zur »Blutfahne« der Bewegung. Sie wurde bei den Reichsparteitagen zur Weihung der SA und SS eingesetzt. Über die »Gleichsetzung von Totenheer und Lebendenheer« wurden die Lebenden den Toten geweiht, um darüber die eigene Schlagkraft dem Feind gegenüber zu erhöhen. (Karow: 28) Das Totengedenken an die »Märtyrer der Bewegung« war integraler Bestandteil jeder nationalsozialistischen Feierhandlung.

Gedenken mit Fackeln und Fahnen

Auch heute gedenken Neonazis der »Blutzeugen« des 9. November. So erschien auf dem Nipster Blog am diesjährigen 9. November ein Post mit allen 16 Namen, hinter jedem einzelnen steht geschrieben: »HIER!« Auch die Freien Kräfte Niedersachsen Süd/Harz veröffentlichten zum 9. November die 16 Porträts inklusive der Namen und des Spruchs »Ihr Opfer - unser Auftrag«. Hier ist die Vorstellung wirkmächtig, dass die Toten »nicht umsonst« gestorben sein dürfen, dass man ihre Aufgabe zu Ende bringen müsse. Kombiniert wird dies mit Ritualen, die jenen des NS-Totenkults entlehnt sind.

Dazu gehört die Form des Marschierens, so zum Beispiel bei einer Gedenkveranstaltung in Niederkaina im Jahr 2015. In einem YouTube-Video werden zunächst Aufnahmen von Wehrmachtsoldaten und Jugendlichen des Volkssturms gezeigt. Es folgt ein Schnitt, Fackeln werden angezündet, man sieht einen nicht enden wollenden Fackelmarsch durch die Dunkelheit, dazu den Schriftzug »Wenn das Licht des Lebens erlischt, erhalten wir den Schein der Erinnerung«. Es folgen erneut Bilder von Wehrmachtsoldaten an der Front, Waffen werden dort ausgegeben, im Bild ist eine Armbinde »Deutscher Volkssturm Wehrmacht«. Diese Veranstaltung wurde dieses Jahr in fast identischer Form wiederholt - auch das ist ein wichtiges Element zur Verinnerlichung.

Diese Form des Gehens erinnert stark an rituelles Schreiten. Das langsame Marschieren erhält so weihevollen Charakter, es symbolisiert die Bewegung der Bewegung. Die Fackeln sind dabei die wohl eindeutigste Übernahme vom historischen Vorbild. Hinzu kommen weitere Kernelemente nationalsozialistischer Feierordnung: Neben dem Einmarsch und dem Antreten der Fahnenabordnungen erfolgte im Nationalsozialismus zumeist die Begrüßung, das »Lied vom guten Kameraden« mit gesenkten Fahnen sowie eine Hauptrede. Alle diese Elemente sind, wenn auch zum Teil in leichten Abwandlungen, auch heute noch bei verschiedenen neonazistischen Veranstaltungen zu finden.

Bei dem Gedenkmarsch am Rheinwiesenlager in Remagen im diesjährigen November war es zwar noch zu hell für Fackeln, dafür wurde jedoch mit Trommeln marschiert, mit Kränzen und den obligatorischen gesenkten Fahnen. Das Motto des Aufmarsches lautete: »Eine Million Tote rufen zur Tat« - eine Art Wortsymbol. In dem Buch »Kampf um Berlin« erörtert Joseph Goebbels die Bedeutung des SA-Mannes als »politischem Soldaten«. Im Gegensatz zum militärischen Soldaten stehe der »politische Soldat« nicht außerhalb politischer Vorgänge. Vielmehr sei er »aus der Politik hervorgegangen und damit ein für allemal für die Politik bestimmt«. Seine Bedeutung gehe aber über die des »gewöhnlichen Parteigenossen« hinaus, da er die Bewegung gegen feindliche Angriffe zu schützen habe. Aus diesem Grund sei sein »Kampfgebiet« statt der Front die Straße. Nicht nur, dass die Vorstellung des »politischen Soldaten« auch unter Neonazis sehr beliebt ist. Auch wird dieses Kapitel illustriert mit einer Zeichnung von Horst Wessel auf seinem Totenbett, mit Hakenkreuzfahne und einer Notenzeile aus »Die Fahne hoch!«. Die Bildunterschrift: »Horst Wessel. Ein Toter ruft zur Tat!«

Auch bei einem Trauermarsch zu Ehren von Rudolf Heß im Jahr 2004 im bayerischen Wunsiedel wurde ein Transparent mitgeführt mit der Aufschrift: »Rudolf Hess. Ein Toter ruft zur Tat.« Die Festspielstadt hatte in der Neonaziszene seit dem Tod des Hitler-Stellvertreters im Jahr 1987 bis zum Verbot der sogenannten Heßmärsche im Jahr 2005 eine zentrale Rolle in der neonazistischen Erlebniswelt. Das Gedenken an Rudolf Heß ist in Wunsiedel zwar seitdem juristisch untersagt. Doch der Ort, an dem sich bis 2011 das Grab des »Friedensfliegers« befand, hat für die Neonaziszene nie an Anziehungskraft verloren.

So titelt ein Bericht vom diesjährigen November: »Ein Traum wird wahr«. Am 12. November marschierten rund 250 Neonazis am Rande der Stadt zum »Heldengedenken« mit Fackeln, Trommeln, gesenkten Fahnen und zu Musik von Richard Wagner. »Tot sind nur die, die vergessen werden!« lautete das Motto. In dem dazugehörigen Mobilisierungsvideo sieht man ein weiteres zentrales Element neonazistischen Gedenkens, wie es auch in Remagen und bei vielen anderen Anlässen zelebriert wird: die Totenehrung. Ein Sprecher sagt: »Ich rufe die Kameraden des Heeres.« Der Rest der Gruppe ruft: »Hier!«. Es geht weiter mit den »Toten der Luftwaffe«, den »Toten der Marine« und so weiter. Dem Ruf folgt jedes Mal ein mehr oder weniger einstimmiges »Hier!«. Man ruft die Toten zu sich, denn, so lernen es Neonazis schon im sogenannten Horst-Wessel-Lied »Die Fahne hoch!«: »Kam'raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, Marschier'n im Geist in unser'n Reihen mit«.

Die Übertragbarkeit ins Jetzt

Nicht nur im November, auch zu anderen Anlässen versuchen Neonazis an nationalsozialistische Traditionen anzuknüpfen. In Demmin am 8. Mai zum Beispiel. Hier ist eine der treibenden Kräfte die NPD. Generell lässt sich sagen, dass die Hauptakteure neo-nationalsozialistischer Vergegenwärtigung eher aus den Reihen der Partei Der Dritte Weg (Wunsiedel), der Partei Die Rechte (Remagen) und aus dem Spektrum der Freien Kameradschaften kommen.

Der Bezug zur Gegenwart wird bei all diesen nicht nur über den vermeintlichen Auftrag hergestellt, das »wahre Deutschland« (sprich: den Nationalsozialismus) wieder auferstehen zu lassen. All diese Erzählungen verbindet zudem das gleiche Feindbild: die Alliierten. Auffällig dabei ist, dass der Fokus auf den Westalliierten liegt. Aus der Sicht der Übertragbarkeit ins Jetzt macht das durchaus Sinn: Die »Besatzer« von damals sind die »Besatzer« von heute. Nach neonazistischer Überzeugung ist die Bundesrepublik nicht nur ein unrechtmäßiger Staat, hervorgegangen aus einer unrechtmäßigen Niederlage und dem »Verbrechertribunal« von Nürnberg; sie werde darüber hinaus von einer Marionettenregierung geführt - in Wirklichkeit würden die Geschicke noch immer von den »Besatzern« gelenkt, gerne antisemitisch verknüpft mit »der Ostküste«.

Die neo-nationalsozialistische Traditionsbildung geht selbstredend über die wenigen hier genannten Beispiele hinaus - sei es in der Bildsprache, in Schriftzügen, in Redewendungen, in Gedichten, Liedern oder Bandnamen, bei Sonnenwendfeiern, Julfesten oder der »Runenkunde«. Manchmal sind diese Anleihen für Außenstehende kaum zu erkennen. Manchmal bleiben keine Fragen offen, zum Beispiel bei Bandnamen wie Blutzeugen, Stahlgewitter oder Übermensch.

Es sind auffällig junge Menschen, die diese vermeintlichen Traditionen reproduzieren - in zwar aktualisierter, aber doch sehr ähnlicher Form wie es ihre »Kameraden« vor zehn oder 15 Jahren getan haben. Die Narrative bleiben die selben, sie leben tatsächlich fort.

Literatur:

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.

Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945. Vierow bei Greifswald 1996.

Yvonne Karow: Deutsches Opfer. Kultische Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen der NSDAP. Berlin 1997.