Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 622 / 13.12.2016

Zwischen den Grenzen

Kultur Hauke Lorenz über seinen Film »Kreuzweg der Migrant_innen« und Migrationsbewegungen im mexikanischen Süden

Interview: Claudia Krieg

Hauke Lorenz ist Ethnologe, Filmemacher und Journalist, engagiert sich bei Amnesty International und in der politischen Bildungsarbeit zu Flucht und Migration. Im Interview spricht er über die Situation an der Südgrenze Mexikos und über die Bedeutung von Religion für die Migrant_innen. Sein Dokumentarfilm entstand zu großen Teilen in der Herberge »La72«, benannt nach 72 Migrant_innen, die am 24. August 2010 in San Fernando Tamaulipas bei einer Massenerschießung durch Mitglieder des Drogenkartells Los Zetas ermordet wurden.

Kurz vor unserem Interview warst du noch in Tijuana und hast dort deinen Film Viacrucis Migrante - Der Kreuzweg der Migrant_innen gezeigt. Wie war es dort?

Hauke Lorenz: Vor allem haben alle Bilder, die ich vorher im Kopf hatte, nicht funktioniert. Es war deutlich zu spüren, dass der Schrecken der Zeit, als in Tijuana Tote auf den Straßen lagen, ein wenig gewichen ist. Es kommen sehr viele Menschen an, die aus den USA abgeschoben werden und sehr viele aus Zentralamerika, die weiter nach Norden wollen. Ich habe in einem »Armenhaus« bei Franziskanerschwestern übernachtet, die mich eingeladen haben. Es gibt in Tijuana mehr Herbergen für Migrantinnen und Migranten als in allen anderen Orten, die ich kennengelernt habe. Diese versorgen zur Zeit am ehesten Menschen, die aus Haiti kommen, von dort nach dem großen Erdbeben 2010 nach Brasilien geflohen sind und dann mit der brasilianischen Wirtschaftskrise wieder aufgebrochen sind, um in die USA zu gehen. Dort gibt es eine Art temporären Schutzstatus für sie. Aber die US-Behörden geben am Tag nur 100 Exemplare der dazu benötigten Antragsformulare an die mexikanischen Behörden aus, mit der die Menschen über die Grenze in die USA gelangen können, um dort Asyl zu beantragen. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, bei Tausenden von Menschen, die die Grenze überqueren wollen. Deshalb sind die Einrichtungen in Tijuana überfüllt, viele Menschen schlafen auf der Straße. Aber sie werden zum Teil auch großzügig über Lebensmittelspenden von der lokalen Bevölkerung versorgt.

Und dort habt ihr den Film gezeigt?

Ja. Die Franziskanerschwestern hatten fünf Filmvorführungen organisiert. Zuerst sind wir über die Grenze nach San Diego gefahren und haben den Film nachts nach der Messe in einer mexikanischen Gemeinde gezeigt. Dann waren wir im Armenhaus, an Universitäten und beim 4. Filmfestival der Grenzüberschreitung. Tijuana war die letzte Station einer Filmtour im Rahmen des dualen Jahres Deutschland-Mexiko. Am Drehort, tausende Kilometer von Tijuana entfernt, 60 Kilometer von der Grenze Guatemala/Mexiko, haben wir die erste Vorführung mit mobilem Kino organisiert. Es sind über 500 Besucher gekommen. Die Leute von La72 haben sich sehr gefreut, dass es gelungen ist, so viele Menschen zu mobilisieren. Auch das mobile Kino, was es da nicht gerade häufig gibt, hat große Begeisterung ausgelöst. Die Helferinnen haben drei Tage vorher angefangen, Kartoffeln für den Kartoffelsalat zu schneiden. Wir haben mit typisch deutschem Essen geworben, einfach um die Leute dahin zu bekommen. Insgesamt war es eine eindrucksvolle Sache, auch für mich. Ich hatte nie damit gerechnet, irgendwann mal eine deutsche Kulturveranstaltung zu organisieren, zum Thema »Solidarität mit geflüchteten Menschen und Migrant_innen in Deutschland und Mexiko«. Wir haben es auf jeden Fall geschafft, ein paar Menschen für die Situation an der Südgrenze zu sensibilisieren.

Das überrascht mich etwas, ist die Migration nach Norden nicht sehr sichtbar? Und damit auch eine zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung - beispielsweise so, wie du es ja auch für Tijuana beschrieben hast: Die Leute engagieren sich, weil sie sehen, dass es einen großen Bedarf an Unterstützung gibt.

Mein Eindruck rührt von einer Amnestykampagne in der Region zum Thema Flucht und Migration. Der Rassismus und die Diskriminierung im Süden Mexikos gegenüber Transitmigrantinnen und Transitmigranten und geflüchteten Menschen ist sehr groß. Es gibt natürlich auch viel Solidarität, aber die kommt von den Leuten, die auch mit geflüchteten Personen in Kontakt kommen. In Tapachula, einer Stadt an der Pazifikküste, durch die viele Leute durchreisen, ist Migration sehr sichtbar. Dort kommen viele Leute aus Guatemala, El Salavador und Kuba durch, aber auch aus Asien und Afrika. Diese Region heißt Soconusco. Hier werden Erntehelferinnen und Erntehelfer saisonal beschäftigt. Migrantinnen und Migranten aus Guatemala sollen in vielen Fällen schlechter bezahlt werden als beispielsweise die indigene Bevölkerung Mexikos.

In Tapachula befindet sich auch das größte Abschiebegefängnis Lateinamerikas. Mexiko hat 2015 mehr als 200.000 Menschen abgeschoben, ca. 160.000 davon nach Zentralamerika. Als ich im August in dem Abschiebegefängnis war, wo eigentlich nur die Leute durchkommen, die nach Zentralamerika abgeschoben werden sollen, hatten die schon über 120.000 Leute in einem knappen halben Jahr durchgeschleust. Ich habe den Film auch dort an der Uni gezeigt und bei einer kleinen Bischofskonferenz, an der Bischöfe Zentral- und Lateinamerikas teilgenommen haben, die sich für das Thema einsetzen. Die haben mich dann mit in diesen Knast genommen, wo man sonst gar nicht hinkommt. Dort waren drei minderjährige Migranten, die den Film in Tenosique gesehen hatten und dann auf die ganz andere Seite der Südgrenze verfrachtet worden sind. Das war heftig, das zu erleben, aber genauso heftig ist es, wie viele Frauen mit Kindern, Babys, auch Männer, in diesem Knast sind. Da waren Menschen aus Pakistan, aber auch viele Menschen aus afrikanischen Ländern, mit denen Mexiko kein Abschiebeabkommen hat.

Was heißt das für die Menschen?

Ihnen wird ein Oficio de salida ausgestellt, mit dem sie das Land in zwei Wochen verlassen müssen. Damit können sie relativ sicher durch Mexiko reisen. Die Südgrenze ist ziemlich grün, also leicht per Boot, Floß oder zu Fuß zu überqueren. Aber das Land selbst ist eine vertikale Grenze, überall gibt es Kontrollen, Überfälle und Entführungen. Deshalb bleiben viele doch lieber dort, wo es gerade Arbeit für sie gibt. Einige beginnen, sich ein neues Leben aufzubauen, anstatt weiter in die USA zu ziehen und versuchen, Asyl zu beantragen. In San Felipe de Progreso gab es Studierende, deren Eltern schon in die USA ausgewandert waren. Viele konnten sich mit dem Thema des Films identifizieren. Wir konnten den Eindruck teilen: Wie kann es sein, dass hier die Migrationspolitik der USA umgesetzt wird und die Leute davon abgehalten werden, überhaupt an die Nordgrenze Mexikos zu gelangen?

Aber diese Haltung betrifft eher einen kleinen Teil der mexikanischen Gesellschaft?

Ja. Die Gesellschaft ist klassistisch geprägt. Niemand muss an dem Leben all der vielen Migrantinnen und Migranten teilnehmen. Aber das ist eben in Deutschland nicht anders als in Mexiko. Je näher du persönlich an den Menschen dran bist, desto weniger kannst du dich dem Thema entziehen. Die Bilder vom Mittelmeer haben uns abgestumpft. Personen werden zu einer homogenen Masse gemacht und so schaffen ihre Schicksale es kaum noch in unser Bewusstsein und auch immer seltener in die Medien. Nur die persönliche und direkte Konfrontation mit Ungerechtigkeit und Not veranlasst Menschen auch zum Handeln.

Wie kommt denn der Film in diesem Zusammenhang an? Du hast den jetzt in Zentralamerika und Westeuropa gezeigt und kannst das anhand der Rezeption sicher vergleichen.

Es gibt viele positive Rückmeldungen. In Tijuana hat eine Frau an der Uni gesagt: Wir sind hier direkt an der Grenze, und wir wissen gar nicht, was den Leuten auf dem Weg und ihrer Reise hierher passiert. Trotzdem: Menschen ins Kino zu bewegen zu einem Thema, von dem alle schon ziemlich genug von haben, ist schwierig. Dafür braucht es Gruppen, die das organisieren, in ihre Bildungsarbeit einbinden. Ich erstelle jetzt didaktisches Begleitmaterial, damit der Film im Unterricht an Schulen eingesetzt werden kann. Auf spanisch und deutsch. Ich glaube, das ist die beste Möglichkeit, um den Film zugänglich zu machen.

Wie bist du überhaupt dazu gekommen, den Film zu drehen?

Ich habe den Film gemacht, weil ich sozusagen selbst den Film gesucht habe. Es gab 2014 eine Karawane, genannt der Kreuzweg der Migrant_innen, den die Herberge La72 in Tenosique organisiert hatte. Sie wollten von Guatemala aus zu Fuß die Migrationsroute entlang bis nach Tenosique und dann auf dem Güterzug bis nach Palenque, eine Nacht lang. Dieser Zug ist dann aber nicht gefahren, obwohl die Leute schon zu Hunderten auf dem Zug saßen. Es waren auch Journalistinnen und Journalisten auf dem Zug, und als die Bahngesellschaft gesagt hat, dass sie das nicht mitmachen, sind sie eben zu Fuß losgelaufen. Zehn Tage, bis nach Mexiko Stadt, das letzte Stück mit Bussen. Es ist ihnen gelungen, mit der Regierung zu verhandeln und den Oficio de salida ausgestellt zu bekommen, diese Ausreise-Aufforderung für Menschen ohne Papiere. Damit konnten sie dann mit sicheren Verkehrsmitteln ohne Angst vor Kontrollen Richtung Norden reisen. Das Unglaubliche für mich war, dass das Ritual der katholischen Kirche und die Begleitung durch jemanden, der tatsächlich mit einem Kreuz vorweg gegangen ist, den Menschen eine gewisse Sicherheit gegeben hat. Und darüber wollte ich einen Film machen. Aber alle Karawanen, die sich danach zusammengefunden haben, um mit mehreren Hundert Menschen zu versuchen, sicher durch Mexiko durchzukommen, sind brutal zusammengeknüppelt und die Menschen direkt zu Hunderten abgeschoben worden. Deshalb ist es jetzt mehr ein Film über die Herberge und die Menschen, die dort hinkommen.

Wie seid ihr damit umgegangen, dass Religion eine große Rolle spielt?

Ich habe 2005/2006 zwei Monate an der Südgrenze in Tapachula Migrantinnen und Migranten zu ihren Rechten in Mexiko interviewt. Viele haben mir erzählt, dass sie möchten, dass ihre Kinder studieren oder überhaupt zur Schule gehen können - selbst wenn sie wissen, dass sie auf diesem Weg sterben können. Dabei hat sich eine Antwort wiederholt: Wenn Gott möchte, dass ich ankomme, um meiner Familie und meinen Kindern zu helfen, dann werde ich auch ankommen. Wenn ich nicht ankomme, dann ist es auch Gottes Wille. Sie haben Gott ihr Schicksal in die Hände gelegt. Fray Tomás, der La72 leitet, bestätigt, dass es größtenteils tiefgläubige Menschen sind, die sich auf diesen Weg machen. Ich glaube, es ist ein Glück für die Leute, dass sie diesen Glauben haben. Aber auch wenn sie nicht gläubig wären, würden sie sich auf den Weg machen. So helfen sie sich damit, das Elend auch auszuhalten.

Aber das scheint mir gerade angesichts der, freundlich ausgedrückt, Ambivalenz der katholischen Kirche doch auch eine Fortführung der mythischen Dialektik?

Als die mexikanische Regierung die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat, waren die Protestdemos, die Teile der katholische Kirche organisiert hat, massiv. Das sehen in der Kirche aber nicht alle so. In der La72 gibt es jetzt ein Haus für Angehörige der LGBT-Community. Ein positives Zeichen für die Arbeit der Kirche, so wie es in jeder Menschenrechtsorganisation oder Partei verschiedene Politiken gibt. In Mexiko ist die katholische Kirche eine besondere Institution, weil sie über 60 Migrant_innenherbergen betreut. NROs haben so etwas bisher nicht auf die Beine gestellt.

Der Film Viacrucis Migrante - Kreuzweg der Migrant_innen ist im Verleih der thede (www.diethede.de). Trailer, Termine und Informationen auf www.viacrucismigrante.com