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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 622 / 13.12.2016

Der Feind im eigenen Haus

International Für die Kommunen in Nordkurdistan ist die Zwangsverwaltung gravierend

Von Ercan Ayboga

Seit September 2016 hat die AKP-Regierung in einer extrem autoritären Weise 43 oppositionelle Kommunalverwaltungen in Nordkurdistan unter Zwangsverwaltung gestellt. Es begann am 11. September mit 24 Kommunen. In durch die Demokratische Partei der Völker (HDP) regierten Orten wurden Co-Bürgermeister_innen und Dutzende Stadträt_innen durch Treuhänder ersetzt. Dies ging einher mit der Inhaftierung dieser Co-Bürgermeister_innen und einer polizeilichen Besetzung der Rathäuser. Unter den in Beschlag genommenen Kommunalverwaltungen sind auch die größte kurdische Stadt und Provinz Diyarbak?r (Amed) und wichtige Städte wie Van, Mardin, Siirt und Dersim.

Mit diesem Akt der Besetzung hat die Repression gegen Oppositionelle in der Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 eine neue Phase erreicht. Sie richtet sich nun hauptsächlich gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Von der Repression sind auch Politiker_innen der HDP und ihrer Mitgliedspartei in Kurdistan, der DBP (Partei der Demokratischen Regionen), betroffen; gegenwärtig sind knapp 6.000 HDP- und DBP-Angehörige inhaftiert. Über 12.000 Beamt_innen und Angestellte des linken und prokurdischen Gewerkschaftsdachverbands KESK sind zudem von massenhaften Suspendierungen und Entlassungen betroffen. Aber für internationales Aufsehen und Protest sorgte vor allem die Inhaftierung von zehn Parlamentarier_innen der HDP, unter ihnen auch die beiden Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, am 4. November 2016.

Obwohl die Zwangsverwaltung der Kommunalverwaltungen für die politischen Strukturen vor Ort viel gravierender ist, muss mit den Inhaftierungen wohl eine Art rote Linie überschritten worden sein. In diesem Sinne ist auch der Entschluss des Europäischen Parlaments, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren, zu verstehen. Während die »demokratische« Weltöffentlichkeit die Inhaftierung der HDP-Abgeordneten kritisierte, zog die Zwangsverwaltung kaum Protest in Europa und der Welt nach sich.

Polizisten besetzen das Rathaus

In den politischen Strukturen der DBP verwendeten wir während der ersten Tage der Zwangsverwaltung in den westlichen Sprachen den Begriff des Treuhänders. Das entspricht dem türkischen »kayyum«. Später sprachen wir von Zwangsverwaltung; denn in der BRD kann ein Treuhänder in Kommunalverwaltungen eingesetzt werden, wenn diese zahlungsunfähig werden oder eine andere Notsituation eintritt - mit einer solchen Situation haben die Vorgänge in den Kommunen hier aber nichts zu tun. Zunächst wurden stets die Rathäuser abgesperrt, anschließend durchsuchten Polizei und Sondereinsatzkräfte stundenlang alle Räume. Die von Ankara bestimmten Zwangsverwalter besetzten daraufhin in Begleitung von Polizei die Rathäuser. Oft durften Mitarbeiter_innen danach das Rathaus ein bis zwei Tage nicht betreten. Dann folgten mehrere Tage, während derer ausschließlich Mitarbeiter_innen unter Vorlage ihres Dienstausweises ins Rathaus konnten. Zweifache Körperdurchsuchungen sind auch jetzt noch die Regel.

Diese erniedrigende Behandlung von Menschen, die sich jahre- oder gar jahrzehntelang in diesem Gebäude frei bewegt haben, liegt zum einen an der weit verbreiteten Angst des Staates vor dem jahrzehntelangen Widerstand in Kurdistan. Zum anderen soll sie den Mitarbeiter_innen vermitteln, dass sie unerwünscht sind. In vielen Kommunen dauerte es ein bis zwei Wochen, bis Menschen wegen bürokratischer Angelegenheiten unter Angabe eines wichtigen Grundes und nach einer umfangreichen Kontrolle das Rathaus betreten durften. In unserem Büro für internationale Beziehungen in Diyarbak?r (Amed) hatten wir vor der Zwangsverwaltung ungefähr alle zwei Tage Besuch, mittlerweile besucht uns niemand mehr.

Einer der ersten Schritte der Zwangsverwalter war es, das Personal des Sekretariats zu versetzen und das Sekretariat mit Polizist_innen zu besetzen. Auch in Diyarbak?r mussten wir unser Büro nach einer Woche räumen, da es sich direkt neben dem Sekretariat befand. Sie gaben uns einen Tag, um alles mitzunehmen, was uns wichtig war. In einem zweiten Schritt besetzten sie die Positionen der Abteilungsleiter_innen neu - meist mit konservativem älteren Personal, das noch vor der Zeit der HDP eingestellt worden waren, oder mit neuen Personen. In wenigen Tagen wurden Menschen hin und her versetzt, als ob es sich um Schachfiguren handelte.

Im September bemühte sich die AKP-Regierung noch, die städtischen Abgeordneten durch Treuhänder in den Stadtparlamenten zu ersetzen, um die Mehrheit zu erhalten. Nachdem sie vor Ort kaum Personen fand, die dazu bereit waren, und schließlich zwei von ihnen getötet wurden, gab die Regierung diese Strategie auf. Seit Beginn der Zwangsverwaltung wurde kein einziges Kommunalparlament zu einer Sitzung einberufen. Der Zwangsverwalter regiert per Dekret, die städtischen Abgeordneten sind entmachtet - und kein Gericht wird sich bei einer Klage gegen diesen Zustand stellen.

In den Korridoren der Rathäuser sind Polizisten mit Waffen postiert; unbekannte Personen bewegen sich in den Gebäuden und schauen immer wieder in die Räume, um die Mitarbeiter_innen einzuschüchtern. Die Kontrolle betrifft auch das Internet: Webseiten wurden gesperrt, kaum jemand öffnet noch vom Arbeitsplatz aus oppositionelle Webseiten, und beim Versenden von Emails beschränkt man sich auf das Minimum der für den Job nötigen Kommunikation.

Am 22. November 2016 entließ die AKP-Regierung etwa 650 Mitarbeiter_innen der kurdischen Kommunalverwaltungen - ein rein politischer Beschluss, dem keine Verwarnungen oder schriftliche Mitteilungen vorausgingen. Die Entlassenen gehören zu den mehr als 1.000 Menschen, die damit insgesamt seit September 2016 ihren Job verloren haben. Indirekt trifft dies sogar mindestens 7.000 Menschen, da die Mitarbeiter_innen in ihrer Familie oft die einzigen Personen mit einem regelmäßigen Einkommen sind. Zehntausende befürchten, ihren Job zu verlieren. Aber es gibt auch Dutzende, die gekündigt haben und aus Prinzip nicht mit den Zwangsverwaltern zusammenarbeiten wollen.

Die AKP zerstört gewachsene politische Strukturen

Angehörige der Kommunalverwaltungen und die politisch aktiven Teile der kurdischen Bevölkerung attestieren der Zwangsverwaltung eine kurze Lebensdauer: Spätestens nach den Kommunalwahlen in etwa zwei Jahren könnten die Verwaltungen wieder der Bevölkerung gehören. Die Zeit bis dahin, so heißt es oft, solle für umfangreiche Selbstkritik genutzt werden.

Viele befürchten jedoch, dass die AKP in diesen zwei Jahren einen großen Teil der sozialen und kulturellen Projekte und Initiativen zerschlagen wird. Die Mitarbeiter_innen der Kommunalverwaltungen sind traurig, weil diese sozialen, kulturellen und sportlichen Einrichtungen und Projekte in den vergangenen Jahren mit viel Mühe aufgebaut wurden. Kindergärten, in denen Kurdisch gesprochen wird, Festivals und Kulturzentren, erinnerungskulturelle Projekte zu den Foltergefängnissen oder den in der jüngeren Geschichte Ermordeten und Vertriebenen, außerschulische Bildung und über ein Dutzend Gemeinschaftshäuser in unterschiedlichen Stadtteilen - sie alle werden höchstwahrscheinlich Schritt für Schritt gestoppt oder zweckentfremdet werden. In einigen Orten wie Cizre und Silvan ist dies bereits eingetreten. Hinter jedem dieser Projekte stecken jahrelange Diskussionen, Vorbereitungen und Überzeugungsarbeit. Die Stadtentwicklung wird höchstwahrscheinlich in Zukunft neoliberalen Grundsätzen folgen. Gleichzeitig könnte das Ziel der Regierung sein, Projekte und Ressourcen mit der AKP nahestehenden Lokalpolitiker_innen, Unternehmen und kriminellen Strukturen zu verweben und so Tausende Mitarbeiterstellen mit eigenen Leute zu besetzen.

Mittlerweile tritt der türkische Staat offen als Besatzungsmacht auf. Auch wenn er in der Vergangenheit in manchen Orten mit seinem Vertretungsanspruch erfolgreich war, wird er mittelfristig in Kurdistan weiter an politischer Legitimität verlieren. Dass breite Teile der Bevölkerung aufgrund des Staatsterrors kaum auf die Straße gehen, ändert nichts daran.

Ercan Ayboga arbeitet in der Stadtverwaltung von Diyarbak?r und ist dort für den Denkmalschutz zuständig.