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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 622 / 13.12.2016

Die fatale Fixierung auf die Wähler der Rechten

Diskussion Warum jetzt vieles nötig ist, aber sicher kein »linker Populismus«

Von Jan Ole Arps

Wer hat Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt, und warum hat Hillary Clinton verloren? Über diese Fragen wird seit dem 8. November diskutiert. Haben die Demokraten soziale Themen vernachlässigt und sich zu sehr auf »Identitätspolitik« konzentriert? Ist die Linke gar Teil des liberalen, urbanen, kosmopolitischen Milieus, das sich nicht mehr für materielle Fragen interessieren muss, wie es Sebastian Friedrich in der letzten ak-Ausgabe beschrieb? Vernachlässigt »die Linke« »die Arbeiterklasse«, die sich nun enttäuscht von ihr ab- und der Rechten zuwendet? Und brauchen wir deshalb einen »linken Populismus«? Was in diesen Nachbetrachtungen der Wahl oft zur Nebensache wird, sind die Motive der Wähler_innen.

In einer Befragung des Instituts Edison Research überwogen für Trump-Wähler_innen die Themen Einwanderung (64 Prozent) und Terrorismus (59 Prozent). Wer wirtschaftliche Themen für zentral hielt, gab eher Hillary Clinton seine Stimme. Eine überwältigende Mehrheit der Trump-Wähler_innen sprach sich für den Bau eines Zauns zu Mexiko und die Abschiebung von Einwanderer_innen ohne legalen Aufenthaltsstatus aus. Man sollte diese Aussagen ernst nehmen. Trump-Wähler_innen, die gern als Globalisierungs- oder Modernisierungsverlierer beschrieben werden, formulieren in diesen Umfragen ein rechtes Weltbild, das sich wenig von dem unterscheidet, das auch die Anhänger_innen von AfD und FPÖ, Front National und UKIP vereint.

Woher bezieht die Rechte ihre Anziehungskraft?

Woher bezieht dieses Weltbild seine Anziehungskraft? Die Politologin Silja Häusermann hat dazu in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung WOZ gesagt: »Sie müssen sich die drei wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 40 Jahre vor Augen halten: die Expansion des Bildungswesens, die veränderte Stellung der Frau in der Gesellschaft und die Tertiarisierung, also der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft.« Insbesondere männliche Beschäftigte in der Industrie empfänden diese Entwicklung als relativen Abstieg. Nicht die Armen und Prekarisierten, sondern der Mittelstand wähle rechtsnational. Diese Menschen »erheben Anspruch auf einen Status, den sie nicht mehr haben - als Arbeitnehmer, als männliche Ernährer der Familie. (...) Die Wurzeln des Rechtsnationalismus mögen ökonomisch sein, aber das Problem der sogenannten Modernisierungsverlierer ist in erster Linie ein identitäres. Deshalb ist die Politik, die verfängt, auch eine identitäre.«

Eine ähnliche Geschichte erzählt die Juristin Joan C. Williams im Harvard Business Review. Sie berichtet dort von ihrem Schwiegervater, der sich aus totaler Armut in eine stabile Mittelklassenexistenz hochgearbeitet hat. Er hatte sein Leben lang mehrere Jobs gleichzeitig, seinen Beruf hasste er. Aber noch mehr hasste er die technischen Angestellten, Vorgesetzten, Lehrer_innen und Ärzte - Leute, die keine Ahnung von seinem Leben hatten, aber ihm pausenlos erzählten, was er tun sollte und was nicht. Williams Schwiegervater war ein erzkonservativer Republikaner-Wähler.

Das Problem vieler Linker sei, so Williams, dass sie, wenn sie über die Arbeiterklasse sprechen, eigentlich die Armen meinten. Doch die meisten Leute aus der Arbeiterklasse verstünden sich selbst als Mittelklasse - wie ihr Schwiegervater. Und die Statistiken geben ihnen Recht: Das mittlere Einkommen in den USA liegt bei 64.000 US-Dollar. Diese Mittelklasse, zu der große Teile der weißen Arbeiterklasse gehörten, interessiere sich wenig für eine Krankenversicherung für die Ärmsten oder den Mindestlohn. »White Working Class Men ist es egal, ob sie bei McDonalds für 15 Dollar statt 9,50 Dollar die Stunde arbeiten können. Sie wollen, was mein Schwiegervater hatte: unbefristete, sichere Vollzeitjobs, die den 75 Prozent US-Amerikanern ohne Uniabschluss ein solides Mittelklasseleben ermöglichen«, schreibt Williams.

Rassismus und Sexismus verteilen materielle Vorteile

Dass die Rechte vor allem von Menschen gewählt wird, die einen Status zu verteidigen und Privilegien zu verlieren haben, ist das eine, und es war schon immer so. Rassismus und Sexismus sind Systeme, die materielle Vorteile verteilen: vor allem an weiße Menschen bzw. an Männer. In jeder Klasse sind Weiße besser gestellt als Nicht-Weiße, Männer besser als Frauen. Man braucht sich nur die fortdauernden Gehaltsunterschiede von Frauen und Männern ins Gedächtnis zu rufen (22 Prozent in Deutschland), daran denken, wer mit Hausarbeit und Kindererziehung belastet ist oder wie sich die Herkunft bei der Wohnungssuche auswirkt.

Wenn nun mehr Frauen, Migrant_innen, People of Color etc. auf den Arbeitsmarkt drängen, Programme zur Gleichstellung und Minderheitenförderung aufgelegt werden (das ist in der Regel gemeint, wenn von der »Identitätspolitik« der Demokraten die Rede ist), kratzt das am Status und den verinnerlichten Selbstverständlichkeiten derjenigen, die bis dato privilegierteren Zugang zu halbwegs gut bezahlten Jobs und Aufstiegschancen hatten. Die Wut darüber ist keine richtungslose Wut. Donald Trumps Wahlsieg ist in der Tat Ergebnis eines Kulturkampfs - mit materieller Basis. Es ist ein Kulturkampf weißer Männer aus allen Klassen zur Verteidigung ihres gesellschaftlichen Status - gegen die, die weiter unten stehen. Mit seinen rassistischen und Frauen verachtenden Sprüchen hat Trump es meisterhaft vermocht, an die gekränkten Gefühle dieser Gruppe zu appellieren. Das Gleiche tun AfD und Co. in Deutschland mit ihren Klagen über Genderterror, PC-Diktatur und die Islamisierung Europas. (Häusermann in besagtem Interview: »Ich kenne keine Evidenz dafür, dass Sie diese Wähler mit sozialpolitischen Themen zurückgewinnen können. Das hat nirgendwo funktioniert.«)

Die Integration durch Privilegierung ist auch in der Arbeiterklasse keine Unbekannte. Schon immer wird das Klassenverhältnis auch dadurch »regiert«, dass ein Teil des Proletariats betriebliche und soziale Aufstiegschancen erhält - auf Kosten anderer Teile. Karl-Heinz-Roth hat vor mehr als 40 Jahren in seinem Buch über die »andere Arbeiterbewegung« untersucht, wie durch den Einsatz von Zwangsarbeiter_innen im Zweiten Weltkrieg ein betrieblicher Aufstieg deutscher Facharbeiter ermöglicht wurde, wie diese betriebliche Hierarchie nach 1945 erhalten wurde, indem die härtesten und unangenehmsten Jobs mit den Vertriebenen aus dem Osten besetzt wurden, und als dieses Arrangement nicht mehr trug, wurden die »Gastarbeiter_innen« für die Drecksjobs angeheuert. Mit dem Ergebnis, dass in den wilden Streiks von 1973 deutsche Kernbelegschaften die Solidarität mit ihren streikenden migrantischen Kolleg_innen nicht selten verweigerten oder sogar, wie bei Ford in Köln, aktiv mithalfen, diese Streiks zu zerschlagen.

Die Spaltung in Kern- und Randbelegschaften, anerkanntere und weniger wertgeschätzte Berufsgruppen setzt sich bis heute fort. Folgerichtig werden die längsten und härtesten Arbeitskämpfe inzwischen meist in Branchen geführt, in denen überdurchschnittlich viele Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte arbeiten. Die Streiks der Erzieher_innen und Postbot_innen, der Beschäftigten im Einzelhandel und bei Amazon.

Das heißt nun nicht, dass abstiegsbedrohte Facharbeiter, weiße Männer oder heterosexuelle Kleinfamilien sich automatisch nach rechts orientieren - oder dass Arme, Migrant_innen, Frauen gegen die AfD immun wären. Es ist ja auch niemand nur »weißer Mann«, sondern dazu noch vieles andere: vielleicht schwul, leidenschaftlicher Cineast, christlicher Fundamentalist oder depressiver Einzelgänger. »Wir alle sind Teil mehrerer Wirs«, hat der französische Philosoph Didier Eribon kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin gesagt - um davor zu warnen, Menschen auf eindimensionale Identitäten zu reduzieren, und die Existenz von Differenz und Konflikten ins Gedächtnis zu rufen. Viele Dinge haben Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen und wahrnehmen. Und unsere soziale Existenz macht uns empfänglicher oder weniger empfänglich für rechte Lösungen.

Populismus in Zeiten des rechten Vormarschs

Vielleicht wäre es also nicht die schlechteste Idee, die Fixierung auf die konservativen Wähler_innen aufzugeben und den Blick auf jene Menschen zu richten, deren Interessen derzeit massiv bedroht sind: Frauen, Migrant_innen, Geflüchtete, Prekäre, LGBTI, Erwerbslose etc. Oder anders: Vielleicht macht es mehr Sinn, statt über Gruppen über Themen und Interessen zu sprechen. Dann folgt nämlich die nächste Erkenntnis auf dem Fuß: Dies ist keine Zeit der Offensive, sondern eine der Abwehrkämpfe. Die Zahl rassistischer Angriffe explodiert, homophobe Gewalt nimmt zu.

Womit wir bei der Populismusfrage wären. Stimmen aus allen linken Lagern schlagen seit den rechten Wahlsiegen mit immer mehr Nachdruck einen »Linkspopulismus« vor. Ein gefährliches Manöver, denn es setzt methodisch auf Vereinheitlichung und Homogenisierung - und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo Abweichung, Komplexität und Differenz bedroht sind wie lange nicht.

Populismus zielt auf die Herstellung einer Gruppe auf der Grundlage einer konstruierten Gemeinsamkeit. Durch Bündelung von Kräften soll ihre politische Schlagkraft gesteigert werden. Zum Populismus gehören Ideen wie »Wir hier unten gegen die da oben«, »das Volk gegen die Elite« oder »die 99 Prozent gegen das eine Prozent«. Die Begrifflichkeiten variieren, die Methode ist die gleiche: Vereinfachung, Ausblendung »interner« Differenzen und Widersprüche zugunsten der Sammlung gegen einen äußeren Gegner.

Es gibt Situationen, in denen soziale Konflikte in polarisierten Konfrontationen ausgetragen werden. Raul Zelik schreibt dazu an anderer Stelle in dieser Ausgabe mehr. In einer Zeit politischer Defensive scheint mir eine solche Strategie fatal. Es ist eine Operation mit konservativen Verlockungen. Das »geeinte Volk« gegen die »korrupte Elite« - in Deutschland sollte man sich noch erinnern, wozu das geeinte Volk fähig ist.

Kein populistisches Projekt ist zudem denkbar ohne seine Architekt_innen und Choreograph_innen. Damit ist es nicht nur höchst anfällig für politische Übernahmen aller Art, es zieht Personen, die nach Führungsrollen streben, geradezu systematisch an. Und es bietet ihnen mit seinen Appellen an einfache Botschaften und der Ablehnung alles Widersprüchlichen und Langsamen ideale Bedingungen.

Wenn Linke sich in der aktuellen bedrohlichen Lage etwas vornehmen möchten, dann vielleicht nicht gerade die Kopie rechter Formen und reaktionärer Harmoniesucht. Wenn das Recht aller auf ein menschenwürdiges Leben ein guter politischer Kompass ist, gibt es mehr als genug zu tun. Die Verteidigung des Rechts, keine rassistische, religiös motivierte, sexuelle oder homophobe Gewalt zu erleben, der Kampf für das Recht auf Flucht und Migration, für das Recht, nicht im Mittelmeer zu ertrinken oder von Bomben getötet zu werden. Und nicht zuletzt - in Deutschland wie in den USA - der Kampf für das Recht, nicht abgeschoben zu werden.

Vielleicht ergibt sich aus einer solchen Praxis dann auch die gesellschaftliche Erzählung, die manche Linke gerade so sehr vermissen.

US-Wahl: Was sagen die Zahlen?

Etwa 58 Prozent der 231,5 Millionen Wahlberechtigten in den USA sind zur Wahl gegangen. Knapp 63 Millionen wählten Donald Trump, etwa 65,5 Millionen Hillary Clinton. Einige Millionen wählten andere Kandidat_innen, fast 100 Millionen wählten gar nicht. Eine große Zahl US-Bürger_innen ist von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen. Wer eine Strafe verbüßt oder wegen bestimmter Delikte verurteilt wurde (kurioserweise gilt das nicht bei Verurteilung wegen Wahlbetrugs), darf in vielen Bundesstaaten nicht wählen. USA-weit betrifft das fast sechs Millionen Menschen - 2,5 Prozent der über 18-jährigen Bevölkerung, aber fast acht Prozent der Schwarzen Erwachsenen. In manchen Bundesstaaten sind besonders viele Menschen nicht wahlberechtigt, etwa im Swing State Florida. Hier darf jeder Zehnte nicht wählen - allerdings 30 bis 40 Prozent der erwachsenen Schwarzen Männer. Das US-Wahlsystem bevorzugt zudem dünn besiedelte ländliche gegenüber dicht besiedelten, städtisch geprägten Bundesstaaten. Gegenüber 2012 hat Donald Trump auch bei Wähler_innen mit geringem Haushaltseinkommen, bei denen traditionell die Demokraten vorne liegen, hinzugewonnen (allerdings nicht so massiv, wie manche Kommentare nahelegen) - vor allem aber hat Hillary Clinton bei ihnen verloren. In den deindustrialisierten Bundesstaaten Iowa, Michigan, Ohio, Pennsylvania und Wisconsin, den »Rust Belt 5«, gewannen die Republikaner gegenüber 2012 insgesamt 335.000 Stimmen aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen unter 50.000 US-Dollar hinzu. Die Demokraten verloren 1,17 Millionen Wähler_innen in dieser Einkommensgruppe. In der Einkommensgruppe zwischen 50.000 und 100.000 US-Dollar gewann Donald Trump in diesen Staaten 26.000 Wähler_innen hinzu, Hillary Clinton verlor 379.000. Nur bei den noch besser Verdienenden erzielten beide Parteien Zuwächse. Die Wahlergebnisse lassen sich auch nach Hautfarbe aufschlüsseln. In den Rust Belt 5 verloren die Demokraten 950.000 weiße und 400.000 nicht weiße Wähler_innen (-13 und -11,5 Prozent). Von den 950.000 weißen Wähler_innen, die 2016 nicht mehr Demokraten wählten, waren 770.000 Männer. Die Republikaner gewannen 450.000 weiße Wähler_innen hinzu (+4,9 Prozent). USA-weit wählten 88 Prozent der Schwarzen Wähler_innen und 65 Prozent derjenigen mit lateinamerikanischen Wurzeln Demokraten.