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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 623 / 17.1.2017

Mit Erzählungen raus aus der bedrängenden Gegenwart

Diskussion Angesichts der Rechtsentwicklung fordern viele Linke »neue Erzählungen«. Doch welche könnten das sein? Eine Suche

Von Julia Fritzsche

Paul betritt das Treppenhaus. »Na, wie geht's?«, frage ich ihn im Vorbeigehen. »Nicht gut«, sagt Paul. Ich bleib stehen. »Die Arbeit?« Mein Nachbar Paul ist seit 23 Jahren U-Bahn-Fahrer. »Ja. Es wird ja alles immer schlimmer. Die Pausen kürzer, die Kollegen unzuverlässiger, aber immer billiger.« Paul ist ein ruhiger Typ, manchmal höre ich ihn E-Gitarre spielen. Nach zwei Minuten kommt, was ich fürchte: »Und wenn Du dann morgens um drei in der U-Bahn die Flüchtlinge in ihren Schlabberhosen siehst - ich bin wirklich kein Rassist, aber - die kriegen eine Wohnung und alles. Und wir?« Ich stelle meine Einkaufstüte ab. Was jetzt antworten? Wo anfangen? Paul guckt mich erwartungsvoll an ...

Schon Wochen vor dem Gespräch mit Paul hatte ich mich auf die Suche nach Geschichten gegen den Hass gemacht. Es ist nicht die erste Begegnung dieser Art; viele kennen ähnliche Situationen von Familienfeiern, S-Bahn-Fahrten, Wartezimmern und fragen sich: Welche Erzählungen bringen uns raus aus dieser bedrängenden Gegenwart? Auch in Kunst, Medien, Politik und Wissenschaft rufen viele jetzt entsetzt nach neuen Erzählungen: die Autorin Jagoda Marinic, die Publizistin Carolin Emcke, die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler oder der Wirtschaftswissenschafter Oliver Nachtwey. Im Umfeld der LINKEN wird nach »einem dritten Pol« neben dem neoliberalen und dem rechtspopulistischen gesucht. Welche neuen Erzählungen aber sollen das sein? Um das herauszufinden spreche ich mit Menschen, von denen ich mir Antworten erhoffe, gucke mit ihnen in Bücher, die ihnen Antworten geben, und suche mit ihnen gemeinsam weiter.

Kurz zurück ins Treppenhaus: Weil ich einigermaßen schnell weiter will, sag ich knapp, dass an hohen Mieten und ungleichen Löhnen meiner Meinung nach nicht »die Flüchtlinge« schuld sind, sondern Politik, Arbeitgeber, Unternehmen, und dass eher Steuer-Flüchtlinge unser Problem sind. »Du hast ja Recht«, sagt Paul. Echt? So einfach? Wir verabschieden uns. Gruß an Maria, seine Freundin. Ich betrete meine Wohnung. Reicht das als Gegenerzählung? Ich bin skeptisch. Schuhe wieder an, zurück ins Treppenhaus, ich klingle bei Paul. Diesmal mit Aufnahmegerät in der Hand.

Auf meiner Suche nach Erzählungen gegen den Hass treffe ich zunächst den Soziologen und AfD-Experten Andreas Kemper, weil ich wissen will, warum rechte Erzählungen gerade so erfolgreich sind. Kemper erzählt mir, wie der deutsche Philosoph Ernst Bloch in den 1930ern die Rede eines Nazi und eines Kommunisten verglich. Zunächst sprach der Kommunist. Mit vielen Zahlen und Fakten analysierte er die politische und wirtschaftliche Lage, die damalige Rezession. Dann sprach der Nazi. Mit lauter Stimme und schwerem Tonfall beschwor er einen »höheren Auftrag«, eine »Bestimmung des Volkes«. Der Saal bebte.

Der Erfolg rechter Erzählungen

»Die Rechten«, erklärt Kemper, »waren schon immer gut in dem, was Bloch als Wärmestrom bezeichnet, das heißt in Emotionen und Gefühlen. Die Linken waren traditionell immer gut im Kältestrom, also im Analysieren, in Fakten und Zahlen.« Die Rechten geben vor, Utopien zu haben, die AfD heute allein schon mit ihrem Namen »Alternative« - eigentlich ein Konzept der Linken, nämlich die Idee, dass es eine Alternative zu Margret Thatchers »There is no alternative« gibt, also eine Alternative zu Sozialstaatsabbau und Privatisierungen.

Paul sieht mein Aufnahmegerät. Ne, jetzt nicht, meint er, er muss noch seinen Fahrtenplan für morgen machen. Maria kommt zur Tür, ich frag kurz nach ihren Rückenschmerzen - sie arbeitet als Putzfrau, obwohl sie vorher in Bulgarien als technische Bauzeichnerin ausgebildet wurde. Sie bitten mich doch rein.

Über Pauls E-Gitarre hängt ein Lemmy-Kilmister-Poster. »Ich bin ein Rebell«, meint Paul mit Blick auf den Motörhead-Sänger. Neben Lemmy in einem Regal steht Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab«. »Früher hab ich mich nicht für Politik interessiert«, erklärt Paul. »Aber jetzt bin ich viel auf Facebook und bei Compact. Kennst du das?« Ich ringe mich zu der Frage durch: »Was wirst du 2017 wählen?«

»AfD«, sagt Paul. »So kann es nicht weitergehen«. Ich frage Paul später, was er früher gewählt hat. »Rot. Immer. Aber die Sozen kannst du ja heute vergessen.«

Natürlich hatte ich nicht wirklich geglaubt, dass es mit einem Gespräch im Treppenhaus getan ist. Denn zum einen bin ich nicht überzeugt, dass »Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten« eine abschließende Erzählung gegen den Hass ist, zum anderen hatte ich bei dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke nachgelesen, wann eine Erzählung erfolgreich ist.

Eine politische Erzählung, die ein Kollektiv schaffen will, ist erfolgreich, wenn sie die Menschen »abholt«, also den Eindruck vermittelt, dass sie sich auf eine gemeinsame Erinnerung bezieht - das muss nicht stimmen, es kann auch einfach nur oft genug wiederholt werden. Eine Feedback-Schleife. Es reicht also nicht, alle heiligen Zeiten mal bei Paul in die Wohnung zu schneien oder einmal an Weihnachten mit dem Onkel zu diskutieren, wenn Facebook und Compact das restliche Jahr über mit ihnen auf dem Sofa sitzen.

Kemper erklärt, dass rechte Erzählungen vor allem deshalb so erfolgreich sind, weil sie an vieles Bestehende anknüpfen können. Ich erinnere mich, wie wir in der Schule die Nationalhymne und die Grenzen Deutschlands auswendig lernten, an Bundespräsidentenreden zur deutschen Einheit, an Schwarz-Rot-Gold-Fahnen bei der Fußball-WM. Die Idee des Nationalismus, also sich mit allen Mitgliedern einer Nation zu identifizieren und solidarisieren, ist eigentlich nicht so naheliegend, wie sich mit Leuten zu solidarisieren, die zum Beispiel in einer blöden Lage sind, besonders gut Fußball spielen oder besonders schlecht Fußball spielen, aber sympathisch sind. Aber sind Hymnen-Singen und Fahnenschwenken erstmal eingeübt, ist es später leichter, sich mit den »Angehörigen einer Nation« zu identifizieren.

Anknüpfen können rechte Erzählungen also am eingeübten Nationalstolz. Außerdem natürlich am offen geäußerten Rassismus aus der Mitte. Anknüpfen können sie auch am traditionellen Bild der Familie aus Vater, Mutter, Kindern - »Keimzelle der Nation« nennt das der thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke. Und: Rechte Erzählungen knüpfen an tief sitzende kulturell vermittelte Ängste an, erläutert Kemper. Die Bilder von Fluten, Strömen und Überschwemmungen, zum Beispiel wenn es um Geflüchtete geht, Bilder, die der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit auch in den Briefen von deutschen Soldaten im Nationalsozialismus fand.

Die vergessene soziale Frage

Rechte Erzählungen knüpfen zudem an etwas sehr Verbreitetem an: »Die Vorstellung, dass Menschen nützlich oder unnütz sind. Das hat in den letzten 15 Jahren vor allem Rotgrün mit ihrer Agenda 2010 forciert«, sagt Kemper. Unter Wolfgang Clement wurden 2005 Erwerblose in einem Report des damaligen Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit mit »Parasiten« verglichen. »Didier Eribon schreibt in Rückkehr nach Reims, dass wir von Klassenrassismus sprechen müssen«, sagt Kemper. »Dieser Klassenrassismus, der sich gegen die Unterschicht, gegen Arbeitslose gewendet hat, der rächt sich jetzt. Weil einige Arbeitslose haben gelernt: es wird mir unterstellt, dass ich den Staat nur ausbeuten will, und wenn das okay ist, dann darf ich das auch gegenüber den Flüchtlingen machen.«

Kemper erwähnt wie fast alle weiteren Gesprächspartner_innen auf dieser Suche das Buch »Rückkehr nach Reims« (ak 619). Es ist ein biografischer Essay: Eribon, ein Arbeiterkind, kehrt nach langer Zeit in den Wohnort seiner Familie, nach Reims, zurück. Seine Herkunft war dem Soziologie-Star lange unangenehm. Er beschreibt heute: »Wenn ich meine Mutter heute vor mir sehe mit ihrem geschundenen, schmerzenden Körper, der fünfzehn Jahre lang unter härtesten Bedingungen gearbeitet hat - am Fließband stehen, Deckel auf Einmachgläser schrauben, ... dann überwältigt mich die konkrete, physische Bedeutung des Wortes soziale Ungleichheit. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie die extreme Härte solcher Arbeitsformen und der Protest gegen sie ... aus der Vorstellungswelt und dem Vokabular der Linken verschwinden konnten.« Heute stellt Eribon fest: So wie er die Arbeiterklasse vergaß und verdrängte, vergaßen und verdrängten auch die französischen Sozialist_innen die Arbeiterklasse und passten sich dem neoliberalen Denken an. Seine Mutter wählte früher leidenschaftlich links, heute leidenschaftslos rechts.

Eribon analysiert - nicht als erster, aber selten so gut aufgeschrieben -, dass viele Linke in den letzten Jahrzehnten vergessen haben, an der Lebenswirklichkeit der Menschen anzuknüpfen, die soziale Frage zu stellen, und stattdessen rechte Ideen von Nützlichkeit und Eigenverantwortung übernommen haben. Damit liefert er selbst eine Art Gegenerzählung - die erste, auf die wir hier stoßen: Mehr Gleichheit - auch der Klassen.

Aber reicht das als Erzählung gegen den Hass? Tatsächlich erkennen ja seit der Wahl von Donald Trump viele Menschen soziale Aspekte als Ursachen für die Erfolge der Rechten, zeigen nach langer Zeit wieder Verständnis für die Arbeiterschicht und die Abstiegsängste der Mittelschicht. Der Rassismus in Köpfen, Gesetzen und Institutionen wäre aber doch trotzdem noch da. Oder?

Die Idee des »Anderen« überwinden

Ich wende mich damit an Manuela Bojadzijev, Professorin an der Leuphana-Universität Lüneburg. »Das ist eine der entscheidenden Fragen«, sagt sie. »Denn ja, das ist sicher richtig. Aber es genügt nicht. Es geht nicht nur darum, den Schleier des Rassismus wegzunehmen und damit zu zeigen, dass es sich darunter tatsächlich um sogenannte soziale Probleme handelt. Sondern es ist wirklich wichtig, dem etwas hinzuzufügen: Die diskursiven Figuren der Migranten, Geflüchteten, Roma, Muslime sind nur eben das, Figuren. Wir müssen sie von ihren realen Erscheinungen trennen«, erklärt sie, genauso wie bei den Juden. Das ist eine wichtige Erkenntnis der Antisemitismusforschung und für sie eine der wichtigsten Erzählungen gegen den Hass. Also eine zweite Erzählung, auf die wir hier stoßen.

Beschrieben hat das aktuell, sagt sie, besonders schön der US-Amerikaner Ta-Nehisi Coates in »Zwischen mir und der Welt«. Wieder ein Buch. Wieder letztes Jahr auf Deutsch erschienen. Wieder von vielen diskutiert. Der Schwarze Journalist wendet sich darin in drei Briefen an seinen Sohn, den die Polizeigewalt gegen Schwarze schockiert. Er will ihm keine Hoffnung machen, dass Gewalt gegen Schwarze je endet, ihm aber ein paar Einsichten mitgeben, auch jene: »Rassen« sind konstruiert, aber wir leben sie.

Wir müssen verstehen, erklärt Manuela Bojadzijev, dass viele die zentralen gesellschaftlichen Probleme über diese Figuren aushandeln, in den letzten 15 Jahren besonders über die Figur der »Muslime«. Etwa die Fragen: »Welches Verhältnis haben wir zu Europa? Wer gehört dazu, wer gehört nicht dazu? Die Frage des Feminismus. Die Vorstellung davon, ob eine politische Gemeinschaft eine Identität haben soll und ob sie religiös sein soll.«

Ein weiterer Punkt, den Ta-Nehisi Coates beschreibt: Menschen einzuteilen und sie als unterschiedlich wertvoll zu betrachten und zu behandeln, hält vor allem in Krisen die kapitalistische Maschine am Laufen - und verschafft vielen Vorteile. »Du darfst nicht vergessen, wie viel sie dir genommen haben und wie sie unsere Körper in Zucker umwandelten, in Tabak, Baumwolle und Gold.«

Weil Menschen als ungleichwertig zu sehen aber keine schöne Erzählung ist und außerdem logisch nicht zu begründen, braucht es den antifaktischen Wärmestrom vom »Eigenen«, von der natürlichen »Einheit«, vom »Volk«. So gesehen ist rechte Ideologie notwendigerweise irrational und widersprüchlich. Die Ideologie der Ungleichheit verfängt allerdings besonders gut in Zeiten von Wirtschaftskrise, Migrationsbewegungen und Zweifeln an der EU in ihrer aktuellen Form.

Ich deute auf Sarrazin im Regal. »Hast du das gelesen?« - »Die ersten 30 Seiten. Finde nicht alles ganz richtig, was der schreibt. Dass die in südlicheren Ländern einen niedrigeren IQ hätten, das glaub ich nicht. Ich hab schon, ich sag mal: südlichere Menschen im Anzug und Arztkittel gesehen.« Paul macht eine Pause. »Ich finde es aber richtig«, sagt er, »dass jemand so ein Buch schreiben darf.« Durfte er ja auch.

Wer also kann eine neue linke Erzählung verbreiten, die Klassenfrage und Diversity verbindet? Eine Erzählung also, die einerseits die Verteilung und den neoliberalen Weg neu in Frage stellt und anhand von Themen wie Gesundheit, Arbeit, Familie, Wohnen, Bildung neu diskutiert, und die andererseits die Vorstellung von »den Anderen« überwindet - ausgeweitet auf Herkunft, Geschlechter, Sexualitäten und vieles mehr. Wer tritt ein für eine Erzählung in Rot und Regenbogenfarben?

Erzählung in Rot - und Regenbogenfarben

Parteipolitisch kommt am ehesten eine Koalition aus SPD, Grünen und LINKEN in Frage. Denn das alte linke Lager »Rot-Grün« hatte in den letzten Jahrzehnten durchaus Erzählungen - ökologische Visionen und identitätspolitische Ideen: gleiche Rechte für Männer und Frauen, Rechtsangleichungen für Schwule und Lesben, die Idee des Kosmopolitismus, die Grünen diskutierten 2016 sogar Familienmodelle mit bis zu vier Eltern. DIE LINKE wiederum lehnt als einzige die Agenda 2010 ab und spricht ernsthaft von einer neuen sozialen Verteilung. Katja Kipping forderte 2016 im Bundestag beispielsweise - natürlich erfolglos -, dass in einem Unternehmen das höchste Gehalt nur 20 Mal so hoch sein sollen dürfe wie das niedrigste. Kann eine Erzählung gegen den Hass von hier kommen?

Sicher können - kommunal und auf Landesebene - eine andere Wohnungspolitik, ein anderer Umgang mit Geflüchteten oder progressive Bildungspläne Stoff für neue Erzählungen liefern, aber stünde Rot-Rot-Grün auf Bundesebene wirklich für eine neue Erzählung? »Die Option, zu sagen, das ist der Aufbruch in ein neues Projekt, sieht doch eher dünn aus«, meint selbst Thomas Seibert vom rot-rot-grün orientierten Think Tank »Institut Solidarische Moderne«. Das Institut hat sich zwar gerade erst wieder dafür ausgesprochen (ak 622), setzt seine Hoffnung aber vor allem auf neue Erzählungen von "unten", auf das »dissidente Drittel« der Gesellschaft: Menschen aus der Willkommensbewegung, TTIP-Gegner_innen, Antifas und alle, die mit Asyl-, Austeritätspolitik und Verteilung nicht einverstanden ist - auch und vor allem, wenn sie noch nicht organisiert sind -, sollen »politische Foren« bilden. Das Institut will ihre Ideen bündeln und publizieren und ihnen so eine politische Stimme geben, die dann Parteien und Bewegungen den Rücken stärken, aber auch unter Druck setzen soll.

Paul will keine SPD mehr wählen - in keiner Koalition. Er guckt mich an. »Du bist also eher so Antikapitalist«, sagt er und setzt fort: »Das ist ja richtig. Aber da kannst du viel reden. Das ist total unrealistisch.«

Weil ich Paul Recht geben muss, besuche ich als Letztes die Künstlerin und Autorin Bini Adamczak in Berlin-Kreuzberg. Sie beschäftigt sich mit Utopien und arbeitet selbst an Erzählungen gegen den Kapitalismus.

Bernie Sanders, sagt sie, war eine Alternative mit seinem Programm für »Sozialismus«, eigentlich eine Art Sozialdemokratie. »Er wäre aber nichts ohne die Bewegungen #blacklivesmatter, Occupy Wallstreet und die Proteste gegen Zwangsräumungen und Verschuldungen. Denn er konnte an diese praktischen Erfahrungen nur anknüpfen.«

Anknüpfen, erinnere ich mich, ist eben das wichtigste Merkmal der wirksamen Erzählung. Eine andere Erzähltheorie sagt: Nur viele kleine Geschichten machen eine große Erzählung, viele kleine »Narrationen« ein großes »Narrativ«.

Linke Ideen eines sozialdemokratischen oder kommunistischen Internationalismus, so Bini Adamczak, sind aber gegenüber dem eingeübten Nationalismus sehr abstrakt. Wir müssen deshalb konkrete kleine Geschichten suchen. Wie die von der Firma Strasserbau aus Winhöring in Bayern. »Die Belegschaft ist für zwei Stunden in einen Warnstreik getreten, weil einer ihrer Mitarbeiter, der mehrere Jahre dort gearbeitet hatte, Tavus Qurban, abgeschoben werden sollte.«

Neue Geschichten, die nicht seit Jahrhunderten in Bildungspläne eingeschrieben sind (Hymnen singen), in Sportwettkämpfen inszeniert werden (Wettbewerb und Konkurrenz) oder in Altersvorsorgeprogrammen verankert sind (Eigenverantwortung), können also gar nicht aus der herrschenden Ordnung, aus Parteien und von politischen Vordenker_innen kommen. Die neuen Geschichten müssen von den Menschen kommen.

Das schönste Gefühl der Welt

Diese Geschichten sind da, wir müssen sie uns aber vergegenwärtigen und weitererzählen. Geschichten von Menschen, die sich wehren, aus ihrem Viertel verdrängt zu werden, wie in Berlin die Initiative Kotti & Co. (ak 606) Geschichten von Menschen, die Schiffe reparieren, ins Mittelmeer fahren und Ertrinkende zu retten versuchen. (ak 621) Oder vergangene Geschichten von Londoner LGBT-Aktivist_innen, die sich 1984 dem Streik von walisischen Bergarbeitern anschlossen - zu sehen im Spielfilm »Pride«, schwärmt Adamczak.

Den anrührenden Film, an dessen Ende die Stahlarbeiter den Kampf verlieren, aber ihre neu gewonnenen Freund_innen unerwartet bei einer Gay-Pride-Demo besuchen, hat auch Houssan Hamade kürzlich in der taz zitiert: »Das schönste Gefühl der Welt ist es, gegen einen übermächtigen Feind zu kämpfen und dann Solidarität von unerwarteter Seite zu erfahren.«

»Es gibt also schon viele kleine konkrete Geschichten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht große Utopien brauchen«, sagt Adamczak. »In Anbetracht der Gefahr des Faschismus sind Utopien nötig und angesichts der Prekarität der herrschenden Ordnung sind sie auch möglich.« Sie will das kommunistische Begehren wecken. Um klarzumachen, was das nicht heißt, schrieb sie ein Buch über die Verbrechen des Stalinismus. Und ein Kinderbuch »Kommunismus. Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird«, 2004 war das, in der bleiernen Atmosphäre des »there is no alternative«. Sie schrieb es in Kindersprache, weil es ihr in der Erwachsenensprache, die sie an der Uni gelernt hatte, nicht möglich war. »Es musste überhaupt erst diese Vorstellung wieder in die Welt gezwungen werden, dass die Gesellschaft nicht so unveränderlich und starr ist wie ein Stein, sondern gestaltet werden kann. In anderen Zeiten, beispielsweise in den 1920ern, hätte man mit der Parole Eine andere Welt ist möglich niemanden auf die Straße locken können. Weil das selbstverständlich war. Die Frage war nicht: Ist eine andere Welt möglich? Sondern welche wollen wir? Und wann wird sie eintreten, in einem Jahr, in einem Monat, oder übermorgen?«

Wahrscheinlich, denke ich noch, muss eine neue Erzählung neben Rot und Regenbogen auch ein bisschen Glitzer und Glamour vertragen. Denn das, was kommen soll, soll ja Freude bereiten. Wir wollen dazu Konfetti werfen und tanzen.

Beim Verlassen der Wohnung spreche ich mit Paul noch über Fußball. Er ist Fan der deutschen Mannschaft, ich nicht. »Ich bin schon stolz, Deutscher zu sein«, sagt er. »Ich nicht«, sag ich. Er guckt mich an und überlegt. »Du siehst dich dann eher so als ...« Er lächelt und zögert: »... Mensch«. Ich lächle zurück.

Und hab vor wiederzukommen.

Bis dahin muss ich auf meiner Suche aber ein bisschen weitergekommen sein.

Julia Fritzsche schrieb in ak 612 über die Silvesternacht in Köln. Im Dezember lief auf Bayern 2 ihr einstündiges Radiofeature »Geschichten gegen den Hass. Eine Suche«, das in der Bayern 2-Mediathek abrufbar ist.