Leben in der Schwebe
Gender Eine Gruppe von Studentinnen hat die Lebensumstände geflüchteter Frauen in fünf Berliner Unterkünften dokumentiert
Noch immer leben circa 17.000 Geflüchtete in Berlin in Notunterkünften, 1.400 von ihnen in 16 Turnhallen. Auch in anderen Sammelunterkünften mangelt es an Schutz und Privatsphäre, gesundheitlichen Leistungen und Zugang zu Informationen. Die spezifischen Probleme geflüchteter Frauen in den Unterkünften sind selten Thema, obwohl Selbstorganisationen schon lange die Zustände skandalisieren und Wohnungen fordern. Eine Gruppe von Studentinnen hat mit 80 geflüchteten Frauen in Sammelunterkünften über ihre Lebensumstände gesprochen. Sie berichten über alltägliche Einschränkungen, aber auch Strukturen gegenseitiger Hilfe.
Von der Autor_innengruppe
Alltag
»Ich mag es nicht, den gesamten Tag in der Unterkunft zu verbringen, ich gehe lieber raus und schaue, in was für einem Land ich hier bin, trinke einen Kaffee, gehe zum LaGeSo, helfe meinen Freunden, einen Ort zum Leben zu finden. Ich arbeite, es ist ein harter Job, schlecht bezahlt, aber ich will etwas tun, ich mag es nicht, nur herumzusitzen und zu warten - auf was?«
(Frau* aus zentral gelegener Unterkunft)
Die Unterkünfte sind meistens nicht als Wohngebäude konzipiert, sondern ehemalige Fabriken, Büroräume oder Schulen. Folglich mangelt es oft an Sanitäranlagen, Möglichkeiten zur Lebensmittelaufbewahrung, barrierefreien Zugängen und allgemeinem Komfort. Der erste Eindruck beim Betreten einer Unterkunft stellt sich für eine Besucherin folgendermaßen dar: »Wie für institutionell betriebene Unterkünfte typisch, ist die Ausstattung standardisiert und ein schwacher Geruch von industriellen Reinigungsmitteln hängt in der Luft. Jedes Schlafzimmer ist mit zwei Einzelbetten ausgestattet und mit gelben Schließfächern, so wie in der Schule. Wegen der sensiblen Kalibrierung geht der Feueralarm zu jeder Tages- oder Nachtzeit nach dem Zufallsprinzip los.«
Die räumliche Anordnung und Ausstattung der Unterkünfte spiegelt die politische Agenda gegenüber Menschen wider, die in Deutschland Asyl suchen. Menschen in zentralen Unterkünften unterzubringen erleichtert es, sie zu kontrollieren und über sie zu verfügen. Gerade in Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen Asylsuchende für ein Minimum von sechs Wochen bleiben müssten - in Wirklichkeit oftmals mehrere Monate - sind Autonomie und die Möglichkeit, individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden, begrenzt. Fara, eine palästinensische Frau aus Syrien, die in einer Notunterkunft in Berlin lebte, beschrieb die Ungewissheit im Alltag: »Warten bringt mich um - wir warten für nichts.«
Soziale Kontakte
»Wenn du dich hier wohlfühlen möchtest, musst du dieses Gefühl in dir erschaffen... Wenn du aus einem Land kommst, aus dem nur wenige andere Bewohner kommen, dann musst du kommunikativ und offen sein, oder einen anderen Weg finden, um dich hier wohlzufühlen... Ich bin das beste Beispiel. Ich bin alleine hier, aber ich kenne viele Frauen und ich würde sie definitiv als meine Freunde bezeichnen, auf die ich mich verlassen kann.«
(Frau aus einer Sammelunterkunft)
Einige Bewohnerinnen beklagten einen Mangel an verlässlicher Kinderbetreuung, der sie an der Teilnahme an Deutschkursen und anderen Angeboten hindere. Soziale Kontakte in den Camps, ob für emotionale Unterstützung bei Problemen oder zum Informationsaustausch, waren essentiell. Weil Informationen, Erfahrungen und Kontakte - zum Beispiel zu Anwält_innen, Ärzt_innen oder Unterstützungsnetzwerken - mündlich innerhalb einer Gruppe weitergegeben wurden, fühlten sich Frauen, die keine der verbreiteten Sprachen beherrschten, oft ausgeschlossen. Auch das Sicherheitspersonal sprach vorwiegend Deutsch und Arabisch; Bewohnerinnen, die andere Sprachen sprachen, sahen sich daher benachteiligt.
Um in Kontakt mit ihren Familien in anderen Städten und Ländern zu bleiben, nutzten die Frauen soziale Medien - Smartphones und eine stabile Internetverbindung waren für viele daher extrem wichtig. Eine Syrerin, deren Schwester in Schweden lebt, erklärte: »Wenn ich einen schlimmen Tag hatte und nichts geklappt hat, hilft es mir, meine Schwester anrufen zu können. Ich fühle mich nicht mehr so machtlos. Sie versteht mich und wir motivieren uns gegenseitig.«
Gesundheit
»Meine Kaiserschnittnarbe hat sich entzündet , weil ich nicht jeden Tag duschen konnte. Die Hebamme hat mir gesagt, ich sollte die Narbe jeden Tag mit warmem Wasser waschen und nicht so viel laufen, aber das ist unmöglich. Ich muss jeden Tag vor den Duschen, vor der Spendenausgabe anstehen mit meinen Kindern.«
(Sahar aus Afghanistan, lebt in einer Notunterkunft)
Mit der medizinischen Versorgung in Deutschland waren viele Frauen zufrieden. Gleichzeitig lebten manche unter gesundheitsschädlichen Bedingungen, beispielsweise wenn chronische Krankheiten nicht behandelt wurden, weil das LaGeSo Behandlungen und Medikamente nicht finanzierte. Eingeschränkte Mobilität, Allergien und besondere Ernährungsbedürfnisse, zum Beispiel bei Diabetes, wurden oft nicht berücksichtigt. Fehlende Fenster und schlechte Belüftung waren ein Problem in der Unterkunft von Fara, einer Palästinenserin aus Syrien: »Ich habe Asthma. Atmen fällt mir schwer und meine Töchter sind immer krank wegen der schlechten Luft.«
Durch einen Mangel an Sanitäranlagen und Möglichkeiten der Essensaufbewahrung kam es teilweise zu Wundinfektionen oder Lebensmittelvergiftungen. In Unterkünften, die mit externen Wäschereien zusammenarbeiteten, wurde von Fällen berichtet, in denen Kleidung und Kleiderspenden schmutzig blieben und Ausschlag, Pilzinfektionen oder Läusebefall verursachten. Eine afghanische Frau aus einer Notunterkunft erzählte von den Schwierigkeiten, ihr Kind zu versorgen: »Manchmal bekommt man an der Spendenausgabe Windeln. Du musst dich um 10 Uhr morgens anstellen und sie machen um 15 Uhr auf. Wenn es dort keine Windeln gibt, benutzen wir Lappen, die wir im Waschbecken auswaschen. Wir dürfen keine Wasserkocher benutzen, deswegen können wir die Lappen nicht auskochen.«
Beim Zugang zu medizinischer Versorgung spielten Sprachkenntnisse und informeller Informationsaustausch eine entscheidende Rolle. So informierten die Frauen einander über Ärzte und Behandlungsmöglichkeiten oder organisierten informell Übersetzungen. Fehlende oder schlechte Übersetzungen, sowie Informationsmangel wurden als Hauptprobleme im Zugang zu medizinischer Versorgung genannt.
Bürokratie und Verwaltung
»Warten ist ein zentrales Element des täglichen Lebens: Warten auf offizielle Entscheidungen, eine Abschiebung, eine Arbeitserlaubnis, auf die Benutzung der Waschmaschine oder an der Essensausgabe oder vor dem LaGeSo.«
(Notizen einer Besucherin der Unterkünfte)
In bürokratische Kämpfe um ihr eigenes Bleiberecht oder das von Familienmitgliedern verwickelt, sahen sich Frauen im Asylprozess mit einer Vielzahl von Terminen im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) und anderen Behörden konfrontiert. Für Frauen mit Behinderungen oder mit kleinen Kindern waren die langen Wartezeiten besonders anstrengend: stundenlanges Anstehen, das Schubsen und Drängeln der anderen Wartenden. Verena aus Albanien musste trotz ihres frisch operierten Beins eine Stunde vor dem LaGeSo anstehen: »Wir mussten uns am Ende der Schlange anstellen, fünf oder sechs Frauen mit Kindern und ich.«
Der Kontakt mit der LaGeSo wurde oft als frustrierend und verwirrend beschrieben, die Prozesse und Kriterien als undurchschaubar. Schlechte Übersetzungen erschwerten den Zugang zu Informationen zusätzlich. Mehrere Frauen berichteten von Fällen, in denen LaGeSo-Mitarbeiter_innen und Übersetzer_innen ihre Berechtigung, Asyl zu beantragen oder Anträge wegen besonderer Bedürfnisse zu stellen, infrage stellten. Der Zugang zu Leistungen hing entscheidend von dem rechtlichen Status ab: Nicht alle Bewohnerinnen besaßen Anspruch auf Sprachkurse, Kinderbetreuung oder andere staatliche Leistungen. Das beeinflusste die sozialen Beziehungen unter ihnen.
Zugleich wurden die Frauen auch durch die Institutionen, in denen sie lebten, kontrolliert: In manchen Camps mussten Bewohner_innen Armbänder mit ihrer Registrierungsnummer tragen, der Zugang zu den Camps war streng reglementiert und oft an Besuchszeiten gekoppelt.
Sicherheit und Privatsphäre
»Einmal kam eine Frau spät nach Hause und wurde von mehreren Männern in ein Zimmer gedrängt. Als das Sicherheitspersonal intervenierte, sagten sie der Frau, sie solle der Heimleitung nichts über den Vorfall erzählen, um Ärger zu vermeiden«
(Frau aus Afghanistan, die in einer Notunterkunft lebte)
Alle fünf Camps wurden von Sicherheitspersonal bewacht. Die Bewohnerinnen sahen sie auf der einen Seite als Schutz, aber auch als potentielle Gefahr. Nachts und am Wochenende waren weniger Sicherheitskräfte anwesend und generell gab es nur sehr wenig weibliches Sicherheitspersonal.
In den Gesprächen kam häufig das Thema der fehlenden Privatsphäre auf, besonders in den Notunterkünften ohne getrennte und abschließbare Räume. In einer Notunterkunft erklärte Soraya, die aus Afghanistan geflüchtet war: »Wir Frauen, die einen Hijab tragen, können im Camp wegen der Männer nicht frei sein«. Bereiche, zu denen Männer keinen Zutritt haben, gab es im Camp nicht. Frauen müssen so das Kopftuch ununterbrochen tragen und haben Schwierigkeiten beim Stillen.
Viele der Bewohnerinnen verstanden unter Sicherheit die Abwesenheit von Krieg, Terrorismus und Gewalt sowie ein gesichertes Bleiberecht. Deutlich wurde jedoch auch die Angst vor sozialem Abstieg und vor sexuellen Übergriffen. Weil die Toiletten und Duschen in den Camps nicht abschließbar waren, fühlten sich Frauen in diesen Räumen besonders angreifbar.
In einer Notunterkunft berichteten Frauen, dass Anwohner_innen in den ersten Monaten mit Kartoffeln auf die Bewohner_innen warfen und die Polizei wiederholt eingreifen musste. Die Heimleitung warnte die Bewohner_innen vor »rassistischen Deutschen, die versuchen sie anzugreifen«. Viele Frauen hatten rassistische Übergriffe oder Diskriminierung erlebt oder von diesen gehört und fühlten sich deswegen weniger sicher in Deutschland.
Die Autor_innengruppe forschte zwischen Januar und April 2016 in Berliner Sammelunterkünften. Email: autor_innen@riseup.net.
Eine englische Version des Artikels findet sich hier.
Forschung zu Sammelunterkünften
Von Januar bis April 2016 sprachen Studierende des Instituts Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin mit 80 Frauen in fünf Sammelunterkünften in Berlin über ihre Lebensumstände, Probleme und Bedürfnisse. Die entstandene Publikation soll einen Beitrag dazu leisten, die Perspektiven von Frauen in Sammelunterkünften auf Aspekte ihres Lebens wie Gesundheit, Verwaltung, soziale Kontakte, Sicherheit und Privatsphäre sichtbar zu machen. Einige der befragten Frauen aus Afghanistan wurden mittlerweile abgeschoben. Das Forschungsprojekt entstand in Kooperation mit der feministischen Gruppe International Women's Space (IWS). Der IWS gründete sich 2012 in der durch Geflüchtete besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin. Die Gruppe besteht aus migrierten und geflüchteten Frauen aus vormals kolonialisierten Ländern, und Frauen ohne diese Erfahrungen. Während der 17-monatigen Besetzung der Schule erkämpften die Aktivist_innen darin einen Raum nur für Frauen.
Hansjörg Dilger and Kristina Dohrn (Hg.), in Collaboration with International Women Space: Living in Refugee Camps in Berlin: Women's Perspectives and Experiences, Berlin 2016.