Meinung
Auf das Unscheinbare schauen
Wer rund um den Jahreswechsel in den Berliner Tageszeitungen die Debatte verfolgte, die sich um den von der Linkspartei nominierten Staatssekretär für Wohnungsbau, Andrej Holm, entsponnen hatte, konnte den Eindruck gewinnen, die Presse der Hauptstadt folge einer besonders heißen Spur zur Vergangenheit eines Stasiagenten, der aus der Kälte Ostberlins kam.
Die Fakten jedoch geben keinen Stoff für einen Agententhriller. Andrej Holm, in einer linientreuen SED-Familie sozialisiert, hatte im September 1989 eine Ausbildung als Offiziersschüler des Wachregiments »Feliks Dzierzynski« begonnen. Dieses unterstand direkt dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Holms Karriere - geplant war ein Journalistikstudium - wäre definitiv mit der Stasi verbunden gewesen. Aber als 18-Jjähriger war er kein Akteur an der »unsichtbaren Front«, wie die Stellung der Geheimdienstler_innen auch genannt wurde, sondern ein ideologisch überzeugtes unscheinbares Licht im untersten Maschinenraum des MfS.
Um es klar zu sagen: Niemand in der DDR wurde gezwungen, bei der Stasi als Offizier anzuheuern. Wer sich mit denen einließ, wusste, was er tat. Es gab Entscheidungsspielräume. Dazu gehörte Mut und vor allem biographischer Rückhalt - damals wie heute kein verbreitetes gesellschaftliches Phänomen. Wer einem Jugendlichen vorwirft, er habe sich wissentlich dem Geheimdienst verschrieben, muss auch die autoritäre Engführung benennen, die einen Großteil der DDR-Biografien geprägt hat. Und auch Opposition war nicht einheitlich, sondern vielfältig, und ganz sicher keine Berufsoption.
Aber bislang hat noch jede Stasidebatte bewiesen: Je länger die DDR zurückliegt, umso schwerer tun sich Politiker_innen und Medien damit, zu begreifen wie das System der subtilen Repression in den 1980er Jahren in der DDR funktionierte. Kein Mensch kannte Begriffe wie »IM« oder »Operativer Vorgang« vor 1989. Die Stasi war mehr oder weniger unsichtbarer Akteur. Dass sie feine Netze spann, um tatsächlichen und vermeintlichen Gegner_innen der DDR das Leben unerträglich zu machen, konnte erahnt werden, Genaues wusste niemand.
Sichtbar und federführend bei der Disziplinierung renitenter Jugendlicher, der Zersetzung linker Oppositioneller und mutiger Pfarrer war die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) und der ihr zur Verfügung stehende Apparat in Betrieben, Verwaltungen und Schulen. Die SED, unduldsame Hüterin der staatsideologischen Wahrheit, war die Auftraggeberin der Stasi, und diese wiederum »Schild und Schwert« der Partei. Immer wenn also die Stasi im Mittelpunkt der Debatten steht, verzerrt dies in grotesker Weise die Rollen von Koch und Kellner.
Andrej Holm fällt demnach nicht so sehr sein reales Tun oder Lassen in Diensten der Stasi auf die Füße, sondern der Umgang damit. Statt im Zuge seiner Berufung zum Staatssekretär seine Akte zu beantragen und selbst offenzulegen, muss er sich nun jeden Tag mit einem anderen aus dem Zusammenhang gerissenen Vorgang aus seiner Biographie konfrontieren lassen. Dass einige Journalist_innen Holm bar jeder Kenntnis des Aufbaus und der Struktur des MfS zeitweise in den Rang eines geheimdienstlichen Bösewichts vergleichbar mit realen Stasiobristen beförderten, ist absurd, aber typisch für den dämonisierenden Ton, in dem in den Medien in der Regel über die Stasi berichtet wird.
Doch auch die LINKE hat im Fall Holm keine gute Figur gemacht. In der Partei ist man der Auffassung, sich hinreichend kritisch mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt zu haben. Es trifft zwar zu, dass die PDS als SED-Nachfolgepartei und Ostvorgängerin der LINKEN in den 1990er Jahren eine intensive Debatte um die Charakterisierung der DDR geführt hat, an deren Ende die Stalinist_innen aller Schattierungen marginalisiert waren. Doch diese Debatte war nach innen gerichtet und wich der direkten Konfrontation mit den Opfern der Repression in der DDR aus. Dies verstärkte in der Öffentlichkeit den Eindruck, die Partei befasse sich nur unter öffentlichem Druck kritisch mit der Stasivergangenheit sowohl ihrer Organisation als auch ihrer Mitarbeiter_innen. Viele heute handelnde Politiker_innen der Partei haben keine oder nur eine indirekte biographische Verbindung zur DDR. Manche halten das Thema für abmoderiert. Ein fataler Irrtum. In der politischen Kommunikation wäre die LINKE in Berlin besser gefahren, wenn sie das Thema DDR und Stasi so angefasst hätte, wie es die Landesregierung in Thüringen 2014 getan hatte. Dort hatte man sich nach dem Amtsantritt von Rot-Rot-Grün entschlossen, die Aufarbeitung von DDR-Unrecht eigeninitiativ zum Thema zu machen und endlich bisher vergessene Opfer der Repression in den Blick zu nehmen.
Die geschichtspolitische Debatte um die DDR wieder und wieder auf die Stasi zu verkürzen, wird der historischen Existenz dieses Land zwischen Elbe und Oder nicht gerecht. Aber statt dichotomen Schwarz-Weiss-Bildern fehlt es noch immer an Erzählungen, die die vielen Grautöne abbilden, die bekanntermaßen die DDR und die Leben ihrer Bürger_innen so sehr geprägt haben. Auch wenn sich dies hier ausdrücklich nicht nur auf die Farbe der Fassaden und die Gesichter Millionen von Arbeiter_innen bezieht, hat vielleicht dennoch ein Maler beschrieben, für was das geschriebene Wort noch keinen Ausdruck gefunden hat: »Grau. Es hat schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus, es ist eigentlich weder sichtbar noch unsichtbar«, schreibt Gerhard Richter im Jahr 1975. »Die Unscheinbarkeit macht es so geeignet, zu vermitteln, zu veranschaulichen, und zwar in geradezu illusorischer Weise gleich einem Foto. Und es ist wie keine andere Farbe geeignet, nichts zu veranschaulichen.«
David Begrich