»Entscheidend ist die Besatzungsmentalität«
International Ein Gespräch mit J. Sakai über die Entwicklung des Siedlernationalismus in den USA
Interview: Gabriel Kuhn
Der US-amerikanische Autor J. Sakai wuchs in einer von den Internierungslagern des Zweiten Weltkriegs geprägten japanisch-amerikanischen Gemeinde auf. Er arbeitete als Fabrikarbeiter und war in zahlreiche Arbeitskämpfe involviert. Im Jahr 1983 veröffentlichte er »Settlers: The Mythology of the White Proletariat from Mayflower to Modern«, das großen Einfluss auf antirassistische und antiimperialistische Bewegungen in Nordamerika hatte und mehrfach nachgedruckt wurde. Die jüngste Ausgabe erschien 2014 bei PM Press und Kersplebedeb. »Settlers« untersucht die historischen Gründe für die Spaltung der US-amerikanischen Arbeiterklasse.
Im Jahr 2000 hast du in einem Interview die Sicht vieler US-amerikanischer Linker auf die weiße Arbeiterklasse mit den folgenden Worten beschrieben: »Entweder sind die weißen Arbeiter die revolutionäre Antwort - was sie nicht sind, außer es geht um Snowmobile und Rasentraktoren - oder sie sind dummer Abschaum, mit dem du keine Zeit verschwenden willst. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sie sich der Rechten zuwenden.« Das klingt angesichts der Präsidentschaftswahlen 2016 fast prophetisch. Was ist falsch gelaufen?
J. Sakai: Es gibt hier zwei Aspekte zu berücksichtigen: erstens einen Generationswechsel in der Linken und zweitens eine dramatische Veränderung in der Konstellation der amerikanischen Klassengesellschaft.
Ich kann mich noch gut an die 1.-Mai-Feiern der sozialistischen Gruppe erinnern, die ich in den späten 1950er Jahren besuchte. Es waren etwa 30 Leute dort, fast alle weiß. Man fühlte sich an die Fabrikkämpfe zu Anfang des Jahrhunderts erinnert. Zehn Jahre später, also Ende der 1960er Jahre, waren die alten weißen Gewerkschafter weg. Die weiße Linke bestand fast ausschließlich aus Studenten und jugendlichen Aussteigern. Die Arbeiter und Armen in der Linken waren Schwarz und machten ihr eigenes Ding. Unter diesen Voraussetzungen war es praktisch unvermeidlich, dass die weiße Linke zu einer Bewegung der Mittelklasse wurde. In den Ausnahmefällen, in denen weiße Kids aus der Arbeiterklasse zu ihr stießen, mussten sie sich in einer völlig fremden Welt zurechtfinden. Niemand reflektierte damals über die Konsequenzen.
Die weiße Arbeiterklasse selbst war in den 1960er und 70er Jahren gespalten. Die Arbeiteraristokratie - vor allem Bauarbeiter und Trucker - wurde von der Regierung als patriotischer Stoßtrupp eingesetzt, nicht zuletzt für physische Angriffe auf Antikriegsdemonstrationen. Wir arbeiteten aber auch mit weißen Arbeiterkids zusammen, die nicht nach Vietnam wollten, die Regierung hassten und sich als Rebellen verstanden.
Nachdem sich die USA aus Vietnam zurückgezogen hatten, brachen diese Kontakte ab. Ich arbeitete in einer großen Fabrik in Chicago, die Teile für Zugmaschinen produzierte. Eine Gruppe junger weißer Kollegen - hauptsächlich Vietnam-Veteranen und Kiffer - luden mich ein zum Indianapolis 500, dem berühmten Autorennen. Sie waren auch bereit, mich als gewerkschaftlichen Vertrauensmann der Nachtschichtarbeiter zu unterstützen. Aber alles unter einer Bedingung: ich müsse meine Kontakte zu den Schwarzen Kollegen abbrechen, und zwar kompromisslos. Die Trennung zwischen den europäischen Siedlern und den Schwarzen bestimmte wieder den Alltag.
Anfang der 1980er Jahre hast du das Buch »Settlers: The Mythology of the White Proletariat« geschrieben. Vor kurzem erschien eine Neuausgabe. Was ist der Unterschied zwischen »Settlerism« und Rassismus? Es scheint, als würden die Begriffe oft synonym verwendet.
Es stimmt, dass junge Anarchos und Sozialisten es mit der Anwendung der Begriffe nicht so genau nehmen. »Settlerism« ist eine spezifische Form des kapitalistischen Kolonialismus, der auf territorialer Eroberung beruht: Eine loyale, national definierte Gruppe wird verwendet, um ein Gebiet zu besiedeln und als Besatzungsmacht den Interessen des Kapitals zu dienen.
»Settlerism« trägt meist rassistische Züge, lässt sich aber nicht auf den Rassismus, der ein breiteres Phänomen ist, reduzieren. Entscheidend ist die Besatzungsmentalität. Denken wir nur an die Besessenheit weißer Amerikaner mit Feuerwaffen. Die herrschende Klasse wollte immer, dass die weißen Bürger bewaffnet sind, um die kolonisierten Bevölkerungsgruppen in Schach zu halten. In meiner Jugend waren weiße Viertel No-go-Areas, in denen du mit physischen Angriffen und gewalttätigen Mobs rechnen musstest.
Die USA waren immer in Territorien der Unterdrücker und der Unterdrückten geteilt - letztere kennen wir als »Reservate«, »Ghettos« oder »Barrios«. Zu den Aufgaben der weißen Siedler gehörte es, die Polizei des Alltags zu sein. »Settlerism« ist der Grund dafür, dass es in den USA nicht reicht, sich gegen den Nationalismus zu wenden - man muss eine sehr spezifische Form des »Amerikanismus« bekämpfen.
Du hast einmal gesagt, dass »Settlerism« den Faschismus in den USA nicht notwendig mache, weil »weiße Siedler immer das Beste bekommen, unabhängig von der ökonomischen Lage«. Hat sich das verändert? Hilft es, das Phänomen Trump zu erklären?
»Settlerism« hat seine eigene Form, ist aber eng mit dem Faschismus verbunden. Faschistische Neigungen sind unter den weißen Siedlern der USA weit verbreitet. Das war zweifelsohne der Schlüssel zu Trumps Erfolg, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Stattdessen bekommen wir liberale Erklärungen über frustrierte weiße Arbeiter und die Verlierer der post-industriellen Gesellschaft zu hören.
In Wirklichkeit verhält es sich so: Mitte der 1960er Jahre, als die Schwarzen Ghettos in den USA explodierten, traf die herrschende Klasse zwei weitreichende Entscheidungen. Erstens: Schwarze bekamen Bürgerrechte, um die Schwarze Revolution aufzuhalten. Zweitens: die Kosten dafür hatte ausschließlich die weiße Arbeiterklasse zu tragen, die in diese Entscheidungen nicht eingebunden war.
Menschen, die jene Zeit nicht erlebten, können sich nicht vorstellen, was das gesellschaftlich bedeutete. Auch Weiße hatten bis dahin Drecksarbeit verrichtet, aber sie konnten sich der am besten bezahlten Jobs sicher sein. Jetzt machten sie weiter ihre Drecksarbeit, aber die Garantie der am besten bezahlten Jobs war weg. Ich hatte damals gerade meine Ausbildung als Mechaniker beendet und war auf der Suche nach einer Anstellung. Das Arbeitsamt schickte mich zu einem großen Güterbahnhof. Der Personalchef dort meinte nur: »Irgendwen von euch müssen wir einstellen, dann lieber dich als einen der Schwarzen.« Damals wusste man noch, was weiße Menschen dachten, weil sie es jederzeit ungeniert aussprachen.
Was ich sagen will, ist: Weiße Arbeiter verloren viele ihrer Privilegien, waren in die politischen Entwicklungen, die dazu führten, aber nie involviert. Diese Entwicklungen wurden ihnen von der herrschenden Klasse mithilfe der Regierung auferlegt. Politiker, die sich dagegen wandten, wurden vom Establishment aufs Härteste bekämpft. Manche kamen trotzdem weit. Obwohl sich sowohl Republikaner als auch Demokraten deutlich gegen ihn aussprachen, erhielt der Neo-Nazi und Ku-Klux-Klan-Führer David Duke 55 Prozent der weißen Stimmen, als er 1991 zur Wahl des Gouverneurs von Louisiana antrat. Das war ein Warnsignal, das jedoch von vielen nicht gehört wurde.
Donald Trump ist eine respektablere Version von Duke. Seine Berater hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Sie wussten, dass eine Plattform, die auf Siedernationalismus, dem Beschwören der weißen Nation und der Verteidigung ihrer Interessen beruht, zum Sieg führen könnte. Trump gab europäischen Siedlern immer wieder zu verstehen, dass er unter allen Umständen für sie einstehen würde. Manchmal geschah das subtil, aber bei weitem nicht immer. Neo-Nazis und Klan-Mitglieder unterstützten seine Kampagne. Die Südstaaten-Flagge wehte bei Wahlauftritten. Und seine sexistischen und chauvinistischen Ausfälle bestätigten für seine Anhänger nur, dass sie keine Angst mehr vor einer »politischen Korrektheit« haben mussten, die ihre Interessen einschränkt. Endlich durften sie über die Bürgerrechte abstimmen, über die sie nie hatten abstimmen dürfen - und sie stimmten dagegen.
Nach Trumps Wahlsieg schrieb Paul Krugman in der New York Times: »Menschen wie ich - und wahrscheinlich die meisten Leser der New York Times - haben ein Bild dieses Landes, das nicht der Realität entspricht. Es gibt anscheinend eine große Anzahl von Menschen - weiße Menschen, hauptsächlich in ländlichen Gegenden - die in keiner Weise unsere Idee Amerikas teilen.« Was sagst du dazu?
Leute wie Krugman meinen es gut, sitzen aber der liberalen Propaganda auf, weil sie der urbanen, an angesehenen Universitäten ausgebildeten Elite schmeichelt, der sie selbst angehören. Sie unterstützen Hillary Clinton und die Rechte von Minderheiten, aber ihre eigene Welt gleicht einem Apartheidsystem. Im futuristischen Silicon Valley sind die IT-Angestellten von Firmen wie Twitter und Pinterest zu 92 Prozent weiß oder asiatisch. Googles Rate liegt sogar bei 94 Prozent. Es ist ironisch, dass konservative weiße Fabrikarbeiter und Kleinunternehmer im Mittleren Westen zwar Trump gewählt haben, ihren Alltag aber an Arbeitsplätzen mit einer weit größeren Vielfalt an Menschen verbringen.
Was die New York Times betrifft: Die Zeitung hat sechs Reporter, die aus dem Weißen Haus berichten, von denen keiner Schwarz ist. Sie hat 21 Sportreporter, von denen keiner Schwarz ist, obwohl American Football und Basketball von Schwarzen dominiert werden. Auch in der Lifestyle-Redaktion gibt es keine Schwarzen, obwohl - tatsächlich - auch Schwarze ein Alltagsleben haben. Wer ist hier rassistisch und rückständig?
Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Die Linke der 1960er und 70er Jahre hat ihren Abgang gemacht. Protestbewegungen beginnen wieder von Null. Eine neue radikale Bewegung mit eigener Politik und cleveren Ideen muss sich erst entwickeln. Entscheidend ist, dass Menschen aus der Arbeiterklasse in ihr eine zentrale Rolle spielen.
Gabriel Kuhn schrieb in ak 623 gegen die auch unter Linken verbreitete Einschätzung, die Landbevölkerung sei am Aufstieg der Rechten schuld.