Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 624 / 21.2.2017

Das Glas ist halb leer

Diskussion Organisierung von unten oder Rot-Rot-Grün »gestalten«? Die stadtpolitische Bewegung steht in Berlin vor einem Wendepunkt

Von Stefan Romvári

Mit Rot-Rot-Grün (R2G) kommt eine intensive Phase der außerparlamentarischen stadtpolitischen Bewegung in Berlin zu einem vorläufigen Ende. Dies wird zu einer Neuorientierung städtischer Kämpfe führen. Hier geht es nun um die Frage, ob sich Bewegung zuerst an Parteien und Institutionen oder aber an einer alltagsorientierten Organisierung von unten ausrichten sollte.

Es ist eine nette Anekdote, dass es zehn Jahre nach dem öffentlichen Durchbruch des Begriffs der Gentrifizierung im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen Andrej Holm nun wieder der Berliner Stadtforscher ist, mit dem sich ein Einschnitt für die stadtpolitische Bewegung verbindet. Mit R2G ist eine neue Regierung an der Macht, die eine Wende in der Stadtpolitik angekündigt hat. Dabei sucht sie aktiv den Schulterschluss mit Initiativen bis hin zur Übernahme ihrer Slogans und Parolen.

Von den Chaoten zur netten Ini von nebenan

Die stadtpolitischen Kämpfe in Berlin nahmen zur Mitte des letzten Jahrzehnts an Fahrt auf. Die Stadt erlebte nun in aller Deutlichkeit den Wandel vom zerklüfteten Brachland zur international bekannten Boomtown mit wachsenden Bevölkerungszahlen. Mit dem Megaprojekt MediaSpree hatte dieser Prozess ein erstes Symbol und Feindbild. Der Begriff der Gentrifizierung setzte sich in der Öffentlichkeit als Synonym für Prozess und Folgen einer neoliberalen Stadtentwicklung durch. Hausprojekte und Freiräume waren bedroht, Baulücken wurden zu Lofts, und im privaten Umfeld häuften sich die Erzählungen über Mieterhöhungen, Modernisierungen und Entmietungen.

In der Folge setzte eine Gründungswelle ein. Die Neuauflage der Kampagne »Wir bleiben alle!« lenkte mit öffentlichkeitswirksamen »Action Days« den Blick auf die Veränderung der Stadt. Mit MediaSpree Versenken unterstützten 30.000 Menschen neben vielfältigen Aktionen einen Bürgerentscheid gegen das Megaprojekt. Initiativen wie Karla Pappel folgten dem Aufruf des »Sozialrevolutionären Stadtentwicklungprogramms«, sich im Stadtteil zu organisieren. Mit den Aktivitäten rund um das Tempelhofer Feld wurde die Grundlage für den späteren Erfolg des dazugehörigen Volksentscheids gelegt. Zwischenzeitlicher Höhepunkt war eine vielfältige und unabhängige Demonstration vor den Wahlen 2011, bei der mehrere Tausend Menschen auf der Straße waren.

Der Erfolg dieser Bemühungen war zum einen, dass steigende Mieten, Verdrängung und der Ausverkauf der Stadt zu anerkannten Themen wurden - und zwar gegen die Ignoranz der damaligen rot-roten Regierung. Zum anderen entstanden unterschiedliche Vernetzungen, auf die bis heute viele Initiativen zurückzuführen sind.

Der Mietenvolksentscheid: Anfang vom Ende

Auf diesen Errungenschaften konnten Gruppen wie Kotti&Co, Palisadenpanther oder Bizim Kiez aufbauen, die mit bürgerlich tragfähigen Protestformen die Organisierung noch einmal deutlich über Szenegrenzen hinaus ausweiten konnten. Zudem fingen sie an, auf fachpolitischer Ebene zu arbeiten und zu fordern. Das Spektrum der Bewegung vervielfältigte sich, wobei auch Gruppen wie Zwangsräumung verhindern oder die Erwerbsloseninitiative Basta zu nennen sind, die praktischen Widerstand gegen Verdrängung legitimierten beziehungsweise die Organisierung über das Thema Wohnen hinaus ausweiteten. Die Bewegung hielt diese Unterschiedlichkeit zwischen den sogenannten Chaoten und der netten Initiative von nebenan aus und pflegte ein solidarisches Verhältnis zueinander. Ihr Verdienst ist die Abkehr vom Dogma neoliberaler Stadtpolitik.

Der Berliner Mietenvolksentscheid führte 2015 unbestritten zu einer breiten Mobilisierung zum Thema des öffentlichen Wohnungsbestands. Das lang ersehnte Bewegungsdach war er allerdings nie. Das lag an seiner inhaltlichen Beschränkung und Entstehung, die trotz gut gemeinter Versuche die Formulierung von Gesetzestext unter Zeitdruck der Integration möglichst vieler Initiativen vorzog. Auf der Straße sammelten zwar viele Unterstützer_innen Unterschriften, wurden dann aber von einem Koordinierungskreis überrascht, der die ganze Sache im Hinterzimmer an den Senat verkaufte. So kam der Entscheid nie zur Abstimmung. Die Folge war eine interne Spaltung und heftige Debatte innerhalb der Bewegung.

Mit dem Mietenvolksentscheid setzte ein Anfang vom Ende der stadtpolitischen Bewegung in ihrer bisherigen Form ein. Während man nun professionell arbeitete, mit Oppositionsparteien kooperierte und fachpolitisch forderte, bekamen Straßenaktionen nicht mehr den gewohnten Zulauf; Stadtteilinitiativen stellten ihre Arbeit ein. Bester Ausdruck hiervon war die Wiederauflage der Mietendemo vor den Wahlen 2016, zu der weitaus weniger Menschen kamen als noch fünf Jahre zuvor. Spätestens als die Linkspartei unverfroren Bewegungsslogans auf ihre Wahlplakate schrieb und damit auch noch ein starkes Wahlergebnis einfuhr, wurde klar, dass die Bewegung nun mit einem Bein im Parlament steht.

Ende des vergangenen Jahres kursierte eine erste Bewertung des neuen Koalitionsvertrages. Das Glas sei halb voll, verlautbarte eine Kreuzberger Mieterinitiative. Begründet wurde dies mit einzelnen geplanten Maßnahmen zu Gunsten der Mieter_innen. Sie stehen jedoch der großen Frage gegenüber, wie der Berliner Senat der extremen Knappheit an günstigem Wohnraum begegnen will.

Noch im Sommer 2016 veröffentlichte die Linkspartei eine Studie, wonach der Stadt 130.000 leistbare Wohnungen fehlen. Die Koalition will den öffentlichen Wohnungsbestand bis zur nächsten Wahl um 55.000 erhöhen. Da öffentliche Wohnung oftmals nicht gleich leistbar heißt und der private Wohnungsbau alles daran setzen wird, den eigenen Anteil an solchen Wohnungen gering zu halten, wird sich der Bedarf bei anhaltendem Zuzug nennenswert erhöhen. Selbst bei Umsetzung des Koalitionsvertrages wird sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt nach fünf Jahren R2G nochmals dramatisch verschlechtert haben.

Viele der im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmen sind abhängig vom Angebot an günstigem Wohnraum. So kann man zwar noch mehr Wohnberechtigungsscheine verteilen, das nützt aber nichts, wenn die entsprechenden Wohnungen fehlen. Bereits jetzt ist ein Drittel der Bevölkerung praktisch vom Wohnungsmarkt ausgeschlossen. Seit langem verschwinden in der Stadt mehr Sozialwohnungen als neue hinzukommen. Ein halb leeres Glas mit großem Loch veranschaulicht die Situation wohl besser.

Lobbyarbeit oder Gegenmacht aufbauen?

Die Berufung Andrej Holms zum Staatssekretär für Wohnen war ein weiterer Hoffnungsschimmer eben jenes Teils der Bewegung, der die Senatspolitik direkt mitgestalten wollte. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Und auch, wenn es am Ende die Hetze der rechten Opposition und das traditionelle Einknicken der Sozialdemokratie war, hat auch die Linkspartei bewiesen, dass mit ihr kein Paradigmenwechsel möglich ist. Wenn schon die eigene Schlüsselpersonalie nicht durchgesetzt werden kann - wie soll dann ein echter Politikwechsel klappen? Fiele der Gegenwind von Opposition, SPD und Immobilienlobby nicht noch viel heftiger aus, würde man Dinge wie die Vergesellschaftung von Wohnraum tatsächlich umsetzen wollen?

So steht die stadtpolitische Bewegung vor einem Einschnitt. Grüne und Linkspartei sind sehr daran interessiert, ihre Regierungspolitik über eine Anbindung an Bewegungsakteur_innen zu legitimieren. Die Bewegungsseite erwidert diese Umgarnungen vorsichtig und schießt sich auf R2G als Hauptadressatin zukünftiger Bewegungspolitik ein.

Dabei stellt sich die Frage, ob es Sinn macht, sich an Parteien und Koalitionsvertrag abzuarbeiten, sich selbst in einer Lobbyfunktion zu sehen und in Kampagnen und sogenannten breiten Bündnissen mit anderen institutionalisierten Gruppen Forderungen an Regierungspolitik zu stellen.

Oder sollten Energie und Diskussion nicht eher in die Aufgabe fließen, in der Nachbarschaft verankerte, im Alltag der Bevölkerung handlungsfähige und widerständige Strukturen zu bilden?

Es lohnt der Gedanke daran, was denn wohl los wäre, wenn es in Berlin in jedem Kiez eine Zwangsräumung verhindern, ein Basta, ein Hände Weg vom Wedding, ein Oficina Precaria, eine Lagermobi, Migrant Strikers, einen Kiezladen Friedel 54 und die neuerdings sogar von der IL organisierte Otto-Suhr-Siedlung gäbe. Gut vernetzt wären größere Mobilisierungen, kollektiver Ungehorsam und einzelne Zuspitzungen der Verhältnisse möglich.

Und natürlich kann man aus solch einer Position auch mal etwas Realpolitisches fordern und Nadelstiche in der Parlamentspolitik setzen. Denn natürlich sollen konkrete Verbesserungen für die Menschen in der Stadt erkämpft werden. Nur gelingt dies am besten unabhängig und aus einer Position eigener Stärke heraus, die aus den Nachbarschaften kommt und dort auch zu Hause ist. Hier entstünde dann die Kraft, mit der man eine Regierung ganz automatisch vor sich hertreiben würde. Bislang treibt R2G allerdings eher die Bewegung vor sich her.

Basisorganisierung und solidarischer Alltagspraxis wird vorgeworfen, sie blieben in Feuerwehrpolitik, besserer Sozialarbeit und lokalistischem Kleinklein verhaftet. Dabei müsse man doch die eigene Politik »auf die höhere Ebene bringen«. Aber ist die höhere Ebene nicht die, auf der wir uns als Mieter_innen, Arbeitende, Erwerbslose und Benachteiligte mit Unseresgleichen so organisieren, dass von uns eine Gegenmacht ausgeht, an der eine Stadtregierung nicht vorbeikommt? Indem sie die hundertausenden Einzelfälle von Verdrängung und Ausschluss in der Stadt in einer gemeinsamen Erzählung politisiert und zeigt, dass praktischer Widerstand und gelebte Solidarität möglich ist. Indem sie einen sozialen Raum öffnet, in dem man sowohl gegen neoliberale Vereinzelung als auch rechte Deutungsmuster einen solidarischen Alltag stellt und den Menschen nahe kommt. Die Stadt ist jedenfalls voll von diesen Möglichkeiten. Man sollte sie nutzen.

Stefan Romvári beteiligt sich seit 2007 an den Berliner Kämpfen gegen steigende Mieten, Verdrängung und die kapitalistische Stadt.

Debatte zu Rot-Rot-Grün

Die Bewegungslinke diskutiert über Möglichkeiten und Grenzen rot-rot-grüner Regierungen. Aus der Interventionistischen Linken (IL) waren zwei entgegengesetzte Meinungen in ak 620 vertreten: Mischa Aschmoneit von der Düsseldorfer IL-Gruppe [see red!] sprach sich gegen die Unterstützung eines solchen Projekts aus. Eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei helfe nicht bei den drängenden Aufgaben der radikalen Linken; sie sei sogar schädlich. Dagegen betonte Julia Dück von der IL Berlin die Handlungsspielräume, die eine rot-rot-grüne Koalition zumindest auf Landesebene mit sich bringen könnte. Für neuen Diskussionsstoff sorgte Anfang Dezember ein Papier des Think Tanks Institut Solidarische Moderne (ISM), das Rot-Rot-Grün als Hoffnungsträger der Linken beschrieb. In ak 622 betonte Raul Zelik die Bedeutung von Organisierungsprozessen für erfolgreiche linke Reformpolitik. Die Stadt-AG der IL Berlin warb in der gleichen Ausgabe für einen Angriff auf die ab 2020 verordnete »Schwarze Null«, um auf landespolitischer Ebene »den Widerstand gegen Austerität als einen Kampf für ganz konkrete Interessen und Bedürfnisse zu führen und so neoliberale Deutungen zu durchbrechen«. Dafür sei eine »soziale Einheitsfront von stadtpolitischen, antirassistischen, feministischen und gewerkschaftlichen Kämpfen gegen die Schwarze Null« nötig.

Berlin: Proteste gegen Verdrängung

In Berlin nimmt der Protest gegen Verdrängung wieder Fahrt auf. Auf einer Kiezversammlung im SO36 in Kreuzberg diskutierten Anfang Februar fast 400 Menschen über Möglichkeiten, sich gegen Kündigungen und Mietsteigerungen zu wehren. Insbesondere Gewerbetreibende in Kreuzberg sind derzeit bedroht, ihre Mietverträge werden nicht verlängert - oder nur zu Preisen, die für sie unbezahlbar sind. So geht es dem Haushaltswarenladen Bantelmann in der Wrangelstraße oder der Buchhandlung Kisch & Co (die auch ak verkauft) in der Oranienstraße, der nach über 20 Jahren Ende Mai das Aus droht. Auch die Bäckerei Filou in der Reichenberger Straße soll weichen. Der Hauseigentümer, dem noch mehr Immobilien in der Nachbarschaft gehören (die u.a. Eigentumswohnungen und hochpreisige Gastronomie beherbergen), erklärte, die Bäckerei passe nicht mehr »ins Konzept des Kiezes«: Kündigung zu Ende Juli. Ebenfalls in Kreuzberg wehren sich 100 Mieter_innen der Otto-Suhr-Siedlung gegen energetische Modernisierung und Mietsteigerungen von 50 Prozent; 120 Mieter_innen am Mariannenplatz protestierten gegen Mieterhöhungen in ihren Sozialwohnungen. Auch der Kiezladen Friedel54 in Nordneukölln ruft zu Aktionen auf, um seine Entmietung Ende April zu stoppen. Eine unerwartete Wendung gab es in den Häusern in der Lausitzer Straße 10 und 11, die zahlreiche linke Projekte beherbergen. (ak 623) Der Immobilienunternehmer Jørn Taekker stoppte nach Protesten seine Verkaufspläne und verhandelt nun mit den Nutzer_innen. Möglich, dass Taekker einfach Ruhe für andere Geschäfte braucht, denn allein in Kreuzberg gehören ihm noch über 50 Häuser, die verkauft werden sollen. Wie sich das auf die Mieten in dem Bezirk auswirken wird, ist leicht zu erraten. Informationen über die Mietenproteste in Berlin gibt es auf den Facebookseiten von Kotti & Co, Bizim Kiez und Lause Bleibt.