Ökonomisierung erfolgreich, Patientin tot!
Flexi-Arbeit Im deutschen Gesundheitssystem geht es schon lange nicht mehr um Daseinsvorsorge, sondern um Profite
Von der AG Gesundheit der Interventionistischen Linken Berlin
Schlechte Ausbildungsbedingungen, unbegründete Befristungen, Ausgliederung von Arbeitsbereichen, Arbeitsverdichtung und Personalmangel - prekäre Arbeitsverhältnisse sind nicht die Ausnahme, sondern Normalbetrieb in den Krankenhäusern. Dass das deutsche Gesundheitssystem ein Musterbeispiel für prekäre Arbeitsbedingungen ist, dürfte kein Geheimnis mehr sein. Die Auflösung des sozialen Wohlfahrtstaates zugunsten ökonomischer Interessen seit den 1970er Jahren und der Siegeszug des Neoliberalismus in den 1990er Jahren haben aus dem Gesundheitssystem eine Gesundheitswirtschaft gemacht.
Bis Anfang der 1990er Jahre galt im deutschen Gesundheitswesen weitgehend noch das Selbstkostendeckungsprinzip. Im Krankenhaus waren bis 1985 Profite gesetzlich verboten. Die Einrichtungen konnten, wenn überhaupt, nur temporär Gewinne erwirtschaften. Vorübergehende Defizite wurden von den Trägern geduldet. anfallende Investitionskosten durch Land und Bund getragen. Mit den Gesundheitsreformen Mitte der 1990er Jahre wurde dieses Prinzip ausgehebelt und der Zugang für private Investoren geschaffen.
Statt einer Finanzierungsreform der Gesetzlichen Krankenversicherung, die auch Privatversicherte und hohe Einkommen für die Solidargemeinschaft in die Pflicht nimmt, wurde die strukturelle Einnahmeschwäche der Krankenkassen als Anlass genommen, marktorientierte Reformen zur vermeintlichen Verbesserung der Wirtschaftlichkeit einzuführen. Eine einschneidende Reform war 2004 die flächendeckende Einführung des Fallpauschalensystems (DRGs - Diagnosis Related Groups) zur Finanzierung von Allgemeinkrankenhäusern.
Das DRG-System ordnet jeder Diagnose einen Wert zu, gibt vor, nach welchen Kriterien die Behandlung bezahlt wird, und definiert, wie lange die Verweildauer des oder der Patient_in betragen soll. Finanzierungsgrundlage ist nicht mehr der Bedarf, sondern der Preiswert einer Diagnose. In diesem Preissystem sind einige Diagnosen und ihre Behandlung profitabler als andere. Die Fallzahl von gewinnbringenden Operationen ist rapide gestiegen und führt in diesen Bereichen zu einer Überversorgung, während es in anderen, weniger profitablen Bereichen zu einer Unterversorgung kommt. Die pauschale Vergütung für Fälle schafft zudem bewusst einen Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern, möglichst viele Fälle möglichst kostengünstig und möglichst schnell zu behandeln. Die Folge sind eine medizinisch nicht erklärbare Steigerung der Fallzahlen, blutige - d.h. zu frühe - Entlassungen von Patient_innen und Einsparungen vor allem beim Personal: durch Personalabbau und Tarifflucht in ausgegründete Tochterfirmen.
Prekäre Arbeitsverhältnisse führten zu Pflegenotstand
Die Einführung der DRGs und die fehlenden Investitionen der Länder haben zu einem enormen Kostendruck auf die Krankenhäuser geführt. Damit sie noch irgendeine Gewinnaussicht haben, wurden ganze Arbeitsbereiche einem Spardiktat unterworfen - mit fatalen Folgen. Die Personalkosten sind im DRG-System zwar kalkulatorisch enthalten, aber nicht in Form von Personalstellen, sondern lediglich als relativer Anteil des Erlöses je Fallwert. Genau an dieser Stelle setzen die Geschäftsführungen an. Durch die Einsparung von Pflegepersonalstellen sollen größere Gewinne ermöglicht werden. Das führt zu einer chronischen Unterbesetzung der Klinikstationen. Immer weniger Personal soll einen größeren Durchlauf an Patient_innen bewerkstelligen. Mit der DRG-Einführung ist auch der Dokumentationsaufwand erheblich gestiegen. Pflegekräfte müssen immer mehr Zeit für die Schreibtischarbeit aufbringen, die sie eigentlich für die Versorgung ihrer Patient_innen benötigen. Die Folge sind Arbeitsverdichtung und ein enormer Anstieg an Überstunden. Die Pflegekräfte versuchen, dem erhöhten Arbeitsdruck standzuhalten und gleichzeitig eine ethisch vertretbare Pflege zu gewährleisten. Das führt zu Überlastungen, psychischen Erkrankungen wie Burnout oder Depression; aber auch zu körperlichen Schäden wie Bandscheibenverletzungen, weil nicht mehr genug Personal und Zeit vorhanden ist, um schwere körperliche Aufgaben gemeinsam mit Kolleg_innen zu bewerkstelligen. Im Nachtdienst sind Pflegekräfte häufig allein für eine ganze Station - und damit für 30 Patient_innen - zuständig. Die Konsequenz ist ein hoher Krankheitsausfall und gleichzeitiger Anstieg der Überstunden für die einspringenden Kolleg_innen.
Diese Realität führt dazu, dass sich viele junge Menschen, die sich eigentlich für den Pflegeberuf interessieren, nach einem Praktikum doch für eine andere Ausbildung entscheiden oder nach der Ausbildung lieber noch einen anderen Beruf erlernen. Der Pflegenotstand in Deutschland ist eine direkte Folge der prekären Arbeitsverhältnisse und der Einsparungen in diesem Bereich.
Taktiken der Geschäftsführungen
Aber statt in Ausbildungsstellen und die Pflege zu investieren, versuchen Politik und Arbeitgeber das Problem zu lösen, indem sie im europäischen Ausland, aber etwa auch in Mexiko und Vietnam ausgebildete Pflegekräfte zu noch schlechteren Konditionen abwerben. Vor allem für Länder mit einer ohnehin schlechten Gesundheitsversorgung hat die Abwerbung von qualifiziertem Pflegepersonal zum Teil verheerende Folgen für die lokale Bevölkerung. Hier machten Knebelverträge von spanischen Pflegekräften mehrfach Schlagzeilen. Bis zu fünf Euro pro Stunde weniger bekamen sie für die gleiche Arbeit und sollten Strafsummen von bis zu 10.000 Euro zahlen, wenn sie ihren Vertrag frühzeitig kündigen wollten.
Der Personalmangel wird aber auch für die Patient_innen spürbar. Das scheinbar endlose Warten, bis eine Pflegekraft Zeit hat, sich um individuelle Bedürfnisse zu kümmern, ist kein Randphänomen. Nach dem jetzigem Personalschlüssel und der daraus resultierenden Arbeitsverdichtung können Hygienestandards nicht eingehalten werden. Inzwischen haben mehrere Studien aufgezeigt, dass Personalmangel zu einer höheren Sterberate durch Krankenhauskeime führt.
Kämpferisch gegen die schlechten Arbeitsbedingungen vorzugehen, trauten sich bislang die meisten Beschäftigten nicht. Geschäftsführungen setzen auf das »weiblich« konnotierte Berufsethos des Pflegepersonals, dass diese nicht streiken, um die Patient_innen nicht »im Stich zu lassen«. Fürsorglichkeit, Empathie und Aufopferungsbereitschaft als scheinbar weibliche Eigenschaften passen nur zu gut in ein Berufsfeld, in dem nach wie vor hauptsächlich Frauen tätig sind und das es »verbietet«, hilfsbedürftige Menschen hintenanzustellen, »nur« weil die Pflegekraft für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen möchte.
Ein weiterer Schritt der Geschäftsführungen, um die eigene Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten, ist die Ausgliederung von Tätigkeits- und Arbeitsbereichen. Das betrifft zunächst den Servicebereich (Hausmeisterei, Reinigungskräfte, Aufbereitungs- und Transportdienste etc.). Aber auch therapeutische Fachbereiche werden in Tochtergesellschaften ausgegliedert, bei denen zum Teil immer mehr auf Leiharbeiter_innen gesetzt wird. Ziel der Ausgliederungen ist es, tarifliche Vereinbarungen für diese Bereiche auszuhebeln und somit weitere Einsparungen vorzunehmen. Die Beschäftigten in den ausgegliederten Tochtergesellschaften werden zu deutlich schlechteren Konditionen beschäftigt als die beim Mutterkonzern Angestellten. Das führt zum Teil zu absurden Zuständen: Teilweise verdient der oder die Kollegen_in für die gleiche Arbeit mehrere Hundert Euro weniger monatlich.
2017, ein Jahr der Auseinandersetzungen?
Im deutschen Gesundheitssystem geht es schon lange nicht mehr um Daseinsvorsorge, sondern um Profitsteigerungen bzw. für die kommunalen Träger und Unikliniken oft um die Existenzsicherung. Die Austeritätspolitik im kommunalen Bereich und die damit verbundenen fehlenden Bauinvestitionszuschüsse für die landeseigenen Kliniken führen dazu, dass Personalstellen zu Baustellen werden. Die prekären Arbeitsverhältnisse im Gesundheitswesen bekommen nicht nur die Beschäftigten zu spüren, sondern auch die Patient_innen.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di plant für das Jahr 2017 bundesweite Tarifauseinandersetzungen an den Krankenhäusern. Mit der Forderung nach mehr Personal soll an die erfolgreichen Auseinandersetzungen an der Charité Berlin angeschlossen werden. In verschiedenen Städten gibt es Solidaritätsgruppen, die die Beschäftigten bei ihren Auseinandersetzungen aktiv unterstützen werden und die gesellschaftliche Dimension dieses Konflikts deutlich machen wollen. Durch gewonnene Tarifabschlüsse kann die Situation der Beschäftigten zum Positiven verändert werden. Erfahrungen der Selbstermächtigung können die Kampfbedingungen für kommende Auseinandersetzungen verbessern. Ein verbindlicher Personalschlüssel würde einen nennenswerten Faktor der Betriebskosten aus der Optimierungslogik des Fallpauschalensystems herauslösen. Profitmöglichkeiten könnten deutlich eingeschränkt werden. Der bisherigen Personalbemessung entlang von Budgets würde eine Personalbemessung am Bedarf entgegengesetzt.
Es geht nicht nur um rein betriebliche Auseinandersetzungen. Sie können einen Symbolcharakter für die Frage nach einem besseren, gerechteren und würdevolleren Leben haben. Die radikale Linke sollte solche Kämpfe um eine soziale Infrastruktur auch als Antwort auf eine erstarkende rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegung nutzen.
Die AG Gesundheit der Interventionistischen Linke (IL) Berlin ist im Bündnis Berliner*innen für mehr Krankenhauspersonal aktiv und begleitet die Auseinandersetzungen am Vivantes Klinikum und an der Charité.