Wider die Zurichtung
Gender Noch immer werden in Deutschland intergeschlechtliche Kinder operiert
Von Anja Gregor
Eine aktuelle Studie der Geschlechterforscherin Ulrike Klöppel belegt, dass weiterhin kosmetische Genitaloperationen an Kindern durchgeführt werden. (1) Das kann sich für Betroffene schockierend lesen. Schließlich setzen sich seit den 1990er Jahren intergeschlechtliche Menschen gegen die Durchführung nicht-eingewilligter kosmetischer Genitaloperationen zur Anpassung an geltende geschlechtliche Standards ein. Im deutschsprachigen Raum sind aktuell insbesondere die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org, Intersexuelle Menschen e.V., die deutsche Vertretung der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM)/Organisation Intersex International (OII) Germany und TransInterQueer (TrIQ) e.V. sichtbar aktiv.
Sie kämpfen ebenfalls für die Anerkennung und Abfindung der entstandenen Schädigungen von Betroffenen in der Vergangenheit und setzen sich für die Information und Bildung der Bevölkerung im Allgemeinen und verantwortlicher Berufsgruppen im Speziellen ein. Ihrem Engagement ist der »Schattenbericht zum 6. Staatenbericht der BRD zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW)« von 2008 zu verdanken, der an den UN-Ausschuss zur Beseitigung der Diskriminierung gegen Frauen ging. Der Bericht zeigt die Menschenrechtsverletzungen gegen alle Menschen auf, die nicht eindeutig dem männlichen Geschlecht zuzuordnen sind. Er fordert die Unterlassung der zwangsweisen medizinischen Zurichtung und der daraus resultierenden Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. (2)
Mit diesem Schattenbericht wird die Bundesregierung im Jahr 2010 gezwungen, den Ethikrat mit einer Stellungnahme zur Situation intergeschlechtlicher Menschen in Deutschland zu beauftragen. Die »Stellungnahme Intersexualität«, die dann 2012 veröffentlicht wurde, war unter Einbezug der Perspektiven intergeschlechtlicher Menschen, Mediziner_innen und Expert_innen aus nicht-medizinischen Fächern erstellt worden. (3) Die darin enthaltenen Forderungen blieben jedoch weit hinter den Erwartungen intergeschlechtlicher Interessenverbände zurück. Ein Verbot frühkindlicher Genitaloperationen wurde darin beispielsweise nicht gefordert, sondern lediglich eine »Einschränkung« derselben empfohlen. Da diese Empfehlung bereits 2006 im so genannten »Chicagoer Consensus Papier« ausgesprochen und in verschiedenen Behandlungsleitlinien umgesetzt worden war, folgt dementsprechend Kritik von Aktivist_innen und von medizinkritischer Seite: Heinz-Jürgen Voß veröffentlichte mit »Intersexualität - Intersex. Eine Intervention«, erschienen im Unrast-Verlag, umgehend eine kritische, inter-solidarische Replik auf die Ergebnisse. Indem er Studien, die der Ethikrat für seine Stellungnahme nicht berücksichtigt hat, einbezieht, verdeutlicht er die schwerwiegenden Folgen der medizinischen Zurichtungen und kritisiert die Stellungnahme des Ethikrates damit als nicht radikal genug.
Menschenrechtsverletzungen für die »Eindeutigkeit«
Irreversible Genitaloperationen, in die Patient_innen nicht informiert eingewilligt haben, sind eine Verletzung der Menschenrechte auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit. Sind nicht-einwilligungsfähige Kinder betroffen, weil ihre Eltern die Entscheidung für sie treffen (oder auf Druck der behandelnden Mediziner_innen gezwungen fühlen, sie zu treffen), ist der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Menschen aufgrund der noch anstehenden Entwicklung des Kindes besonders massiv. Betroffene intergeschlechtliche Menschen berichten von extremen psychischen und physischen Folgen dieser Eingriffe: Traumatisierungen, chronische Schmerzen, zum Teil jährliche Kontrolluntersuchungen und Operationsroutinen, die mindestens die gesamte Kindheit hindurch andauern. Die Notwendigkeit, diesen pathologisierenden und schädigenden Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen zu beenden, liegt somit scheinbar auf der Hand - und doch gibt es seitens der Mediziner_innen seit Beginn der Auseinandersetzungen Widerstand.
Ulrike Klöppel hat nun Daten des Statistischen Bundesamtes einer erneuten Analyse unterzogen. Ergänzt durch Expert_innen-Interviews und -Diskussionen mit Fachärzt_innen, einer_m Elternberater_in und Mitgliedern einer NGO intergeschlechtlicher Menschen, war es Ziel der Studie zu prüfen, ob von 2005 bis 2014, also seitdem die Revisionen medizinischer Leitlinien für die Behandlung intergeschlechtlicher Menschen angefangen hatten, ein tatsächlicher Rückgang der Operationen an Kindern im Alter zwischen null und neun Jahren nachweisbar ist. Ergebnis: Die Häufigkeit komplexer Genitaloperationen zur Herstellung eines weiblichen respektive männlichen Genitals blieb im untersuchten Zeitraum nahezu konstant.
Es lässt sich bei genauerem Hinsehen feststellen, dass Intersex-Diagnosen rückläufig sind, während Diagnosen, die in irgendeiner Weise Störungen der (weiblichen oder männlichen) Geschlechtsentwicklung attestieren, häufiger gestellt wurden. Ulrike Klöppel vermutet als einen Grund eine entsprechende Verschiebung der Diagnosestellung. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Eingriffe bei intersex-diagnostizierten Kindern leicht, bei jenen mit einer Störung der Geschlechtsentwicklung bleibt sie konstant oder steigt an.
Der Rückgang der Häufigkeit von Intersex-Diagnosen, so nimmt Ulrike Klöppel an, steht im Zusammenhang mit den gesunkenen Operationszahlen - während früher die Diagnose Intersexualität Operationen legitimierte, sorgen die öffentlichen Diskussionen über Menschenrechte intergeschlechtlicher Menschen jetzt dafür, dass der umgekehrte Fall eingetreten ist. Neugeborene mit zweifelhaftem Geschlecht werden nun einem der zwei Geschlechter zugewiesen und als entwicklungsgestörtes/r Mädchen oder Junge behandelt. Um seinem vermeintlich natürlichen Geschlecht entsprechend zweifelsfrei aufwachsen zu können, wird das Kind dann entsprechend operativ zugerichtet. Bei der Betrachtung der Ergebnisse zeigt sich, dass die Zweigeschlechtlichkeitsnorm weiterhin tief in den Praktiken und Überzeugungen der behandelnden Mediziner_innen verwurzelt ist.
Die mit dem »Consensus Papier« geänderte medizinische Bezeichnung von »Intersexualität« als »Disorders of Sex Development« (Störungen der Geschlechtsentwicklung) steht symbolisch für das Bedürfnis, geschlechtlich uneindeutige Menschen einordnen zu können und alle anderen zu pathologisieren. Ein willkommener Nebeneffekt könnte sein, den intergeschlechtlichen Widerstand gegen die medizinische Operationspraxis mundtot zu machen, indem die mittlerweile von Betroffenen angeeignete Bezeichnung aus der Medizin nach und nach verbannt wird und den Kämpfen so die Argumentationsgrundlage entzogen wird. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.
Umso wichtiger wird es, in linken Kämpfen die Forderungen intergeschlechtlicher Menschen angemessen mitzudenken und solidarisch für sie einzustehen. Zwar ist es ein erster Schritt, Intergeschlechtlichkeit unter LGBT*Q zu subsummieren und sie so zumindest sichtbar zu machen - oft fehlt jedoch eine explizit inter-solidarische Politik, geschweige denn der Kontakt zu intergeschlechtlichen Aktivist_innen. Der Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen muss als Menschenrechtsverletzung benannt und der Kampf um die Entpathologisierung jeglicher Varianten von Geschlechtlichkeit vorangetrieben werden.
Anja Gregor arbeitet als Soziolog_in an der FSU Jena zu queer- und geschlechtertheoretischen Themen, referiert zu inter*solidarischen Praxen in der queer_feministischen Linken und führte 2009-2014 eine Biographieforschung mit intergeschlechtlichen Menschen durch, die unter dem Titel »Constructing Intersex« im transcript-Verlag erschienen ist.
Anmerkungen:
1) Veröffentlicht am 01.12.2016 als Bulletin - Texte 42 der HU Berlin; abrufbar unter www.gender.hu-berlin.de/de/publikationen/gender-bulletins.
2) Der CEDAW-Schattenbericht sowie alle weiteren Parallelberichte sind abzurufen unter intersex.schattenbericht.org/.
3) Die Stellungnahme und die Dokumentationen ihrer Entstehung findet sich unter www.ethikrat.org/intersexualitaet.