Kolonie der NATO-Staaten
International Afghanistan - Perspektiven für ein zerstörtes Land (Teil I)
Von Matin Baraki
Bei Kämpfen und Anschlägen in Afghanistan gab es im vergangenen Jahr so viele zivile Opfer wie noch nie. Das geht aus einem Anfang Februar veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen hervor. Entgegen der Position einzelner Bundesländer hält die deutsche Bundesregierung an ihren 2016 formulierten Plänen fest, Geflüchtete nach Afghanistan abschieben zu wollen. Ende Dezember ging der erste Abschiebeflug nach Kabul.
Die Situation in Afghanistan hat sich auch deshalb verschärft, weil die Parteien der offiziell für beendet erklärten Kriegshandlungen weiterhin ihre Interessen vor Ort durchsetzen. Die vergangenen Jahre haben das Land nicht nur kriegerisch, sondern auch gesellschaftlich tiefgehend zerstört. Am 31. Dezember 2014 erklärte die NATO formal ihren Kampfeinsatz in Afghanistan für beendet. Begleitet wurde der Truppenabzug dann von düsteren Szenarien, dass eine Machtübernahme der Taliban in Kabul nun nicht mehr auszuschließen sei - ein psychologischer Schachzug, um eine andauernde NATO-Präsenz weiter zu rechtfertigen. Dies ist in verschiedenen Abkommen und Verträgen schon lange festgelegt. Bereits 2005 hatte der damalige Präsident Hamid Karsai mit den USA einen Vertrag abgeschlossen, auf dessen Grundlage die US-Armee auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben kann. Der Text dieses Vertrages wurde bis heute unter Verschluss gehalten. Es gibt weitere kolonialähnliche bi- und multilaterale Verträge mit einzelnen NATO-Ländern (u.a. den USA und der BRD) und der NATO als Organisation: Auf der Lissaboner NATO-Tagung im November 2010 unterzeichneten der damalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmusen und Hamid Karsai eine Erklärung, auf deren Grundlage eine dauerhafte Präsenz der NATO-Truppen in Afghanistan festgeschrieben wurde - unter dem Deckmantel als Berater und Ausbilder für »Resolute Support«. Damit ist das Land am Hindukusch nach wie vor eine Militärkolonie und bleibt weiterhin ein unsinkbarer Flugzeugträger der NATO für künftige regionale Einsätze der Allianz.
Im November 2013 wurde ein sogenanntes Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan beschlossen, mit dem die US-Armee bis Ende 2024 und darüber hinaus in Afghanistan präsent bleiben kann. Die US-Soldat_innen dürfen sieben Flughäfen und fünf Binnenhäfen bzw. Grenzübergänge für ihre Ein- und Ausreise nutzen und insgesamt neun Stützpunkte vollständig besitzen. Auch die Frage der Immunität ist im Sinne der USA geregelt worden. Sowohl militärisches als auch ziviles US-Personal ist ausschließlich US-Recht unterstellt. Mit diesem Abkommen werden die wichtigsten strategischen Regionen Afghanistans faktisch militärisch besetzt. Hamid Karsai, wohl der am meisten verhasste Politiker im Land, wollte damit sein weiteres Überleben in Afghanistan sichern.
Die von der NATO für Afghanistan weiterhin favorisierte »militärische Lösung« kann es aus verschiedenen Gründen nicht geben. Trotz 17 Jahren NATO-Krieg ist der Widerstand nicht schwächer, sondern eher stärker geworden. Darüber hinaus ist der Einsatz ein gigantischer »Ressourcenschlucker«. Der Krieg kostet jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar. Selbst offizielle Angaben bezifferten die Kriegskosten allein für die USA bis Ende 2011 mit 440 Milliarden US-Dollar. Ende 2014 wurden die Kosten für die USA bereits mit einer Billion Dollar benannt. Dabei sind noch gar nicht alle Kosten mit eingerechnet. Die Bundesrepublik hat seit Beginn des »Abenteuers Afghanistan« im Jahre 2001 über 11 Milliarden Euro für diesen Krieg ausgegeben, 8 Millionen davon gingen an die Bundeswehr. Aus einer vertraulichen Aufstellung des Verteidigungsministeriums geht hervor, dass 8,8 Milliarden Steuergelder waren. Allein der Abzug der Bundeswehr kostete rund 66,2 Millionen Euro. Deutschland will im Rahmen des aktuellen EU-Hilfsplans allein im kommenden Jahr 430 Millionen Euro für den Wiederaufbau Afghanistans zur Verfügung stellen. Bis Ende des Jahres 2020 könnten aus dem Bundeshaushalt insgesamt bis zu 1,7 Milliarden Euro in das Land fließen. Nochmals 150 Millionen Euro im Jahr sollen zur Deckung der Personalkosten von afghanischer Armee und Polizei ausgegeben werden. Im Gegenzug sollen afghanische Flüchtlinge zurückgenommen werden. (ak 621)
Alte Abhängigkeiten
Die Kabuler Administrationen waren und sind damit finanziell noch immer völlig von den USA und ihren Verbündeten abhängig. Ein Bruch mit ihnen war und bleibt undenkbar. Mit vier Milliarden US-Dollar werden die Sicherheitskräfte Afghanistans seit Ende 2014 jährlich finanziert - 200.000 Soldat_innen und 160.000 Angehörige der sogenannten Nationalen Polizei, die von vielen Afghan_innen als »Räuberbanden« bezeichnet und als eine Art paramilitärische Truppe wahrgenommen werden. Darüber hinaus fließen weitere vier Milliarden US-Dollar an Wirtschaftshilfe. Die Kabuler Administration wäre niemals in der Lage, solche Summen aufzubringen.
Dazu kommt: Seit der Ankündigung der NATO, die Kampftruppen abzuziehen, verlassen täglich Millionen von US-Dollar illegal das Land. Der Präsident der afghanischen Zentralbank gab offiziell zu, dass schon 2011 über 4,6 Milliarden US-Dollar außer Landes gebracht worden seien; das entspricht dem Jahresbudget der Regierung. Demgegenüber verschlechtert sich die Lage der Bevölkerung zusehends. Die Arbeitslosigkeit betrug schon Mitte der 2000er Jahre ca. 70 Prozent, mancherorts, vor allem im Osten und Süden, sogar 90 Prozent. Die Sympathien für die Taliban sind in diesen Regionen besonders hoch. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) stellte 2010 in einem Bericht fest: »80 Prozent der Bevölkerung Afghanistans leben am Existenzminimum. Jedes Jahr drängt eine Million junger Leute auf den Arbeitsmarkt.« Weitere Tausende von Afghan_innen, die als Putzkräfte, Fahrer, Türsteher, Köche oder Dolmetscher_innen und Spion_innen für die militärische Besatzung gearbeitet haben, werden hinzukommen. Dadurch werden immer mehr Menschen in Armut und Elend versinken, die Kriminalität wird weiter zunehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Verzweifelten dem islamischen Widerstand anschließen oder das Land verlassen. Afghan_innen sind mit mehr als 2,5 Millionen Menschen die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe der Welt (nach der Gruppe der syrischen Flüchtlinge). Selbst 40 Prozent der afghanischen Diplomaten kehren nicht nach Afghanistan zurück, wenn ihre Amtszeit abläuft. Zahlungskräftige Afghan_innen, die das Land verlassen wollen, kaufen sich Visa für Teilnehmer_innen internationaler Konferenzen in Afghanistan. Für die anderen bleibt der alltägliche Ausnahmezustand der Rechtlosigkeit.
Rechte nur auf dem Papier
Die afghanischen Frauen haben viele Feinde: Armut, alltägliche häusliche Gewalt oder Entführungen. »Alle zwei Stunden stirbt eine Frau bei der Geburt, etwa 24.000 Todesfälle sind es pro Jahr. Schon kleine Komplikationen können tödlich enden. (...) Ursache für diese erschreckenden Zahlen sind die großen Versorgungslücken im Gesundheitssystem: Auf 10.000 Einwohner kommen durchschnittlich gerade einmal zwei Ärzte und 4,2 Krankenhausbetten. Nur zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung haben überhaupt Zugang zu medizinischer Versorgung«, berichtete die Hilfsorganisation Cap Anamur Ende 2013. In einem Interview mit einer Aktivistin der maoistischen Frauenorganisation »Revolutionary Association of the Women of Afghanistan« (RAWA) in der Tageszeitung junge Welt war zu lesen, dass die Vergewaltigungsrate extrem angestiegen sei, was in der Geschichte des Landes »völlig untypisch« sei. Da Vergewaltiger keine nennenswerten Strafen zu befürchten haben, sind die Frauen vogelfrei. Hinzu kommt, dass Vergewaltigung als ausserehelicher Geschlechtsverkehr gilt und Frauen dafür sogar gesteinigt werden können. Mit dem Abzug der »internationalen Gemeinschaft« hat sich die Lage der Frauen weiter verschlechtert. Zum internationalen Frauentag am 8. März 2015 wurde in den afghanischen Medien von 4.837 ernsthaften Gewalttaten gegen Frauen im Jahre 2014 berichtet. Die Frauen werden in der Familie, auf dem Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit immer wieder Opfer von brutalen Männern.
Die Ermordung von Farkhondah war ein besonders gewalttätiges Beispiel dafür. Am 19. März 2015 wurde sie in Kabul auf offener Straße von einem Dutzend wild gewordener Männer mit Stöcken, Steinen und Fußtritten zu Tode gefoltert. Danach fuhr einer von ihnen mit einem Auto über ihre Leiche. Ein weiterer Mann übergoss sie mit Benzin und zündete sie an. Dabei war das Geschrei von Männern zu hören: »Es lebe der Islam und Gott ist groß«. Farkhondah war eine aufgeklärte Theologin. Als sie während einer Predigt den Frauen erklärte, dass Amulette nichts nutzen und der Mullah der Moschee doch mit diesem Betrug aufhören solle, rief der Geistliche als Rache in die Menge, Farkhondah habe den Koran verbrannt. Die Sicherheitskräfte in Kabul gaben am 20. März den Medien zufolge an, dass am Tatort nur einige Papierfetzen, aber keine Koranreste gefunden worden waren. Dies bestätigte auch der Innenminister, General Noorul Haq Ulumi. Am 21. März gaben mehrere Zeug_innen an, dass die Polizei nur zugeschaut und die Täter nicht daran gehindert habe, Farkhondah zu ermorden. Sie wurde am 22. März ausschließlich von Frauen zu Grabe getragen. Das ist einmalig in der afghanischen Geschichte. Mohammad Ayaz Nyazi, dem Geistlichen von Wazir Akbarkhan, dem Wohnort Farkhondahs, wurde nicht erlaubt, an ihrem Grab zu predigen.
Die Anwendung von Gewalt ist inzwischen zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden. Das hat zur Folge, dass Afghaninnen sich nirgends sicher fühlen können. Eine Strafverfolgung der Täter gibt es kaum. Proteste von Frauenorganisationen werden belächelt. All dies geschieht unter den Augen der Besatzungskräfte.
Was sich ebenfalls absehbar nicht ändern wird, unabhängig davon, ob die NATO geht oder bleibt, sind Korruption und Drogenwirtschaft. Seit dem Einmarsch der NATO-Truppen Ende 2001 in Afghanistan ist die produzierte Opium-Menge um das 40-fache gestiegen. Die Regierung in Kabul ist nach wie vor korrupt und mit der Drogenmafia eng verflochten. »Es gibt einen Schattenstaat im Staat, der die Wirtschaft, die militärische und politische Macht und deren soziale Basis vereinnahmt«, konstatiert Jawed Noorani, Chefrechercheur bei Integrity Watch Afghanistan (IWA). (1) Oder anders ausgedrückt: es gibt einen Drogenmafiastaat, der Afghanistan samt seines menschlichen Inventars als sein privates Eigentum ansieht und auch so behandelt. Die Menschen verachten diese Regierung und ihre Herren, nämlich die militärische Besatzung, wegen der andauernden nächtlichen Hausdurchsuchungen und der Angriffe durch die NATO, die sie militärisch absichert.
Ausläufer des Krieges
Die Korruptionsbekämpfung bleibt derweil ein Lippenbekenntnis. Bereits 2012 wurden auf einer Konferenz in Tokio Afghanistan insgesamt 16 Milliarden US-Dollar zugesagt, wenn Hamid Karsai im Gegenzug die Korruption bekämpfen lassen würde - was er entsprechend zusagte. Nun hat Karsai während seiner Amtszeit vieles versprochen, aber nichts davon gehalten. Auch bei seinem Nachfolger, Ashraf Ghani, kann sich daran im Grunde nur wenig ändern. »Würden alle Korrupten vor Gericht gestellt, hätten wir praktisch keine Regierung mehr«, stellt die Zeitung Aschte Sobh aus Kabul fest.
Zwar hat Ashraf Ghani die kommenden zehn Jahre zur »Transformationsdekade« erklärt. Aber wie er »die endemische Korruption« bekämpfen möchte, wodurch an den Grenzübergängen »jährlich rund 500 Millionen Dollar Im- und Exportsteuer verlorengehen«, so Friederike Böge in der FAZ, bleibt sein Geheimnis. Darüber hinaus hatte Karsai 110 Warlords, Kriegsverbrecher und Heroinbarone als »Berater« um sich versammelt, die auch unter seinem Nachfolger in Ehren und Ämtern bleiben werden. Jeder erhält monatlich ein Gehalt von 5000 US-Dollar. Viele von ihnen hatten im Verlauf eines Jahres nicht ein einziges Gespräch mit Karsai. Hätten diese und weitere Personen aus der Entourage von Karsai und Ashraf Ghani serbische Pässe, wären sie schon längst vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zitiert worden. Die NATO-Kampftruppen sind gegangen, ihre Hinterlassenschaft, nämlich die Korruption, die Prostitution, die Warlords, Drogenbarone und Kriegsverbrecher, sind den Afghan_innen erhalten geblieben. Mit der »Afghanisierung« des Konflikts nach 2014 töten nun am Boden Afghan_innen wieder Afghan_innen.
Matin Baraki lehrt Internationale Politik an der Universität Marburg. Dieser Beitrag ist eine redaktionelle Fassung eines Vortrags aus dem Jahr 2016. Der zweite Teil erscheint in ak 625.
Anmerkung:
1) Thomas Ruttig: Die Reichtümer Afghanistans. In: Le Monde diplomatique, Oktober 2014.
Tabubruch: Abschiebungen nach Afghanistan
In die fortlaufende Zerstörung und Destabilisierung des Landes hinein hat die Bundesrepublik im vergangenen Jahr einen weiteren Flüchtlings-Deal platziert, maßgeblich vorangetrieben von Thomas de Maizière: Die Zahlung von Hilfsgeldern soll zukünftig an die Rücknahme afghanischer Flüchtlinge geknüpft werden. (ak 621) Die Wiederaufnahme dieser Abschiebepläne, so Pro Asyl, soll dabei vor allem eines: der Abschreckung dienen. Die Bundesregierung setzt alles daran, sichtbare Zeichen zu setzen, dass afghanische Flüchtlinge in Deutschland nicht bleiben können. Mehr als 120.000 Menschen afghanischer Herkunft sind derzeit ohne Bleiberecht in der Bundesrepublik. Auch wenn klar ist, dass nicht auf einen Schlag Tausende Menschen abgeschoben werden können: Als »ausreisepflichtig« gelten zur Zeit 11.900 Afghan_innen, bei 10.300 liegt noch eine Duldung vor, 1.600 Menschen sind akut gefährdet. Bis zu 50 Personen pro Flug im Sammelcharter hat die Bundesregierung gegenüber der afghanischen Regierung als Abschiebemodus durchgesetzt. Im Dezember 2016 waren mit einem Charterflug von Frankfurt am Main zum ersten Mal seit zwölf Jahren 34 afghanische Staatsangehörige nach Kabul abgeschoben worden. Ende Januar ging der nächste Abschiebeflug. Große Demonstrationen in Hamburg, München und Berlin kündigten in den vergangenen Wochen und Monaten Widerstand gegen weitere Abschiebeversuche an. Schleswig-Holstein gab am 1. Februar 2017 als erstes Bundesland den Abschiebestopp für Afghanistan bekannt. Man nehme »an diesen Dingen« nicht teil, verkündete der Landesinnenminister Stefan Studt (SPD). Das Land Berlin folgte kurz darauf. Laut Medienberichten stellen nun auch Bremen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz diesbezügliche Pläne zurück. Der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann (Bündnis 90/DIE GRÜNEN), erklärter Befürworter von Abschiebungen in sogenannte sichere Herkunftsstaaten, stellt sich bislang hinter die Pläne der Bundesregierung.