Aufgeblättert
Erdogan und Merkel
Seit mehr als 100 Jahren kooperieren Deutschland und die Türkei. In einer Mischung aus Sachbuch und Empörungsschrift zeigt Sevim Dagdelen, dass und warum dies trotz der politischen Entwicklungen der letzten Jahre immer noch gilt. Bisher hatte die Bundesregierung weder ein Problem mit dem Krieg gegen die Kurd_innen noch mit dem »Putsch in Zeitlupe« oder mit Erdogans Unterstützung des Islamismus. Weitere dem deutsch-türkischen Verhältnis zuträgliche Faktoren waren die Stationierung von Bundeswehrsoldat_innen, Waffenlieferungen, die Netzwerkbildung der AKP in Deutschland und die De-Facto-Distanzierung der Regierung von der Bundestagsresolution zum Armenier-Genozid. Detailliert legt Dagdelen die Gründe für das weiterhin enge Verhältnis dar: geopolitische Erwägungen, die Abwehr von Geflüchteten und Profitinteressen deutscher Unternehmen, die ihre Investitionen in der Türkei und Handelsexporte im Blick haben. Über manche Zuspitzungen, Vergleiche und Bezugnahmen ließe sich streiten; sie erklären sich wohl auch damit, dass die Bundestagsabgeordnete der Linken mit ihrem Buch ein möglichst breites Publikum ansprechen möchte. Dagdelens umfassende Kritik bleibt aktuell: Anfang Februar traf Merkel Erdogan in Ankara und vereinbarte eine engere Zusammenarbeit im »Kampf gegen Terrorismus«. An dem für April angesetzten Referendum über die Einführung des Präsidialsystems änderten auch Merkels vielgelobte Mahnungen zu Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung nichts.
Hannah Schultes
Sevim Dagdelen: Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft. Westend, Frankfurt/Main 2016. 220 Seiten. 18 EUR.
Rechter Kulturkampf
Der Sammelband des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung widmet sich der neuen Rechten im weiteren Sinn. Das Spektrum wird kritisch, meist diskursanalytisch untersucht und im Kontext eines Kulturkampfs dargestellt. Dies geschieht allerdings stets in Bezug auf soziale und ökonomische Randbedingungen, jedoch ohne alles in Klassenkampf aufzulösen. Die AfD stehe in ihrem »autoritären Kulturkampf ... mit einem Bein außerhalb des neoliberalen Blocks«. In vier thematisch eingeleiteten Teilen finden sich Beiträge zur Beziehung von Neoliberalismus und völkischem Denken sowie zu den wichtigsten Akteur_innen und Themenfeldern. Die Texte eignen sich dabei stets sowohl für eine erste Orientierung als auch für eine Vertiefung einzelner Aspekte. Selbst die Konfliktlinien zwischen dem IfS in Schnellroda und der Jungen Freiheit werden fundiert nachgezeichnet. Ein abschließender Teil zu Strategien gegen den rechten Kulturkampf schafft es hingegen nicht, die Debatte abzubilden und bringt (teils bereits veröffentlichte) Beiträge zusammen, die keine neuen Strategien im Umgang mit AfD und Co. bereithalten. Elsässer und Compact werden zwar erwähnt, sind aber leider nicht Gegenstand eigener Aufsätze. So wird zwar ein wichtiger Ausschnitt der neuen Rechten porträtiert, aber eben doch nur ein Ausschnitt. Das Buch zeigt dennoch die vielen Verästelungen des Spektrums auf und gibt nicht zuletzt in Quellenangaben und Fußnoten auch nützliche Hinweise auf weitergehende Lektüre.
Christian Meyer
Helmut Kellershohn, Wolfgang Kastrup (Hg.): Kulturkampf von rechts. AfD, Pegida und die Neue Rechte. Edition DISS/Unrast Verlag, Münster 2016. 242Seiten, 24 EUR.
Marginalisierte Linke
Der russische Antifaschist Aleksej Gaskarow wurde wegen Organisierung von Protesten nach Putins Wiederwahl zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Mit einer noch längeren Gefängnisstrafe hat der russische Anarchist Ilja Romanow zu rechnen. Er beschreibt die internen Hierarchien und die Korruption in russischen Gefängnissen. Von beiden sind Briefe in dem Buch »Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung« veröffentlicht. Herausgeben wurde es von dem weißrussischen Wissenschaftler Luca Bublik, dem Berliner Historiker Johannes Spohr und der russischen Publizistin Valerie Waldow. »Wer sich einer gesellschaftlichen Situation nähern will, tut gut daran, sich die Lage derer zu gegenwärtigen, denen die Teilnahme an ihr untersagt oder beschränkt ist«, schreiben sie im Vorwort. Die nach diesem Grundsatz ausgewählten Beiträge geben einen Überblick über eine politische und künstlerische Szene, die gesellschaftlich marginalisiert wird und immer in Gefahr ist, im Gefängnis zu verschwinden. Die Gefängnisbriefe sind wichtige Zeugnisse von Repression und Widerstand. Die Sozialwissenschaftlerin Galina Milhaleva gibt einen guten Überblick über zivilgesellschaftliche Alternativen in Russland unter Putin. In einem kurzen Text zeigt die Initiative Kein Mensch ist illegal aus Minsk, dass auch Weißrussland mit Frontex bei der Abwehr von Geflüchteten kooperiert. Im letzten Text geht Falk Springer auf die Situation der schwul-lesbischen Bewegung in der DDR ein.
Peter Nowak
Luca Bublik, Johannes Spohr, Valerie Waldow (Hg.): Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung. Trauerarbeit. Störung. Fluchtlinien. Edition Assemblage, Münster 2016. 128 Seiten, 12,80 EUR.
Spanier im KZ
Der katalanische Autor Joaquim Amat-Piniella (1913-1974) erzählt in »K.L. Reich« die wenig bekannte Geschichte der 7.000 spanischen Häftlinge im KZ Mauthausen, von denen nur 2.000 überlebten. Er tut das in Form eines Romans, um »mit den Mitteln der Fiktion die allgemeinen Erfahrungen der Spanier in den deutschen KZs zu schildern«, wie Marta Marín-Dómine im Nachwort schreibt. Dabei verarbeitet Amat-Piniella vor allem eigene Erfahrungen. Wie die meisten spanischen Gefangenen war er nach Francos Sieg im Bürgerkrieg als Kämpfer nach Frankreich geflohen und dort im Sommer 1940 von den deutschen Besatzern gefangen genommen worden. Der Autor verzichtet weitgehend auf Heroisierung. Er beschreibt vielmehr die politische Konkurrenz unter den Gefangenen, zeigt die nationalen Bestrebungen der einen wie die »Extratouren der Kommunisten«, die im Lager eine »Miniaturausgabe der KI« schaffen wollen. Die »Lagerkrankheit« - »Intrigen, Streit und Hass« - grassiert, kann aber überwunden werden, als eine Gruppe von Spaniern eingeliefert wird, die in der Résistance gekämpft hat. Schließlich kommt die Befreiung, wenn auch »mit Chaos, Untaten und Blut« - und der Gewissheit, »dass andere Kriege kommen werden«. Denn »der Feind liegt leblos, aber noch warm«. Damit endet das Buch. Schwächen sind unübersehbar. So bezeichnet der Autor Homosexualität als »Verderbtheit« und beschreibt die von den Nazis als »Berufsverbrecher« und »Asoziale« Inhaftierten durchgehend als moralisch verkommene Figuren.
Jens Renner
Joaquim Amat-Piniella: K.L. Reich. Roman. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Czernin Verlag, Wien 2016. 367 Seiten, 24,90 EUR.