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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 624 / 21.2.2017

Ende Gelände im Utopiedilemma

Aktion Wir müssen den Kapitalismus als umfassende Katastrophe besiegen wollen - ohne Attribute wie »fossil« oder »klimaschädlich«

Von Thalestris A. Zetkin

Der Zusammenschluss Ende Gelände ist ein großer Erfolg der europäischen und deutschen Klimabewegung. Das Eventhopping und das Tief nach dem Klimagipfel in Kopenhagen 2009 sind überwunden. Die Bewegung ist hochgradig international, und die Selbstorganisation der heterogenen Ende-Gelände-Allianz funktioniert. (ak 620) Hannes Lindenberg und Tadzio Müller attestieren Ende Gelände in der Zeitschrift Luxemburg, einer der wenigen Akteur_innen zu sein, die »das Universalinteresse am Klimaschutz« überhaupt glaubwürdig vertreten können. (Luxemburg 2/2016) Dieses Universalinteresse wurde von der politischen Weltgemeinschaft zuletzt auf dem Klimagipfel 2016 in Paris bekräftigt und ist somit eines der ambitioniertesten und legitimsten Ziele überhaupt. Im konkreten Handeln für dieses Ziel hat die hegemoniale Staatengemeinschaft - das heißt die G7, G20, EU, OECD usw. - jedoch ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Nicht so das Bündnis Ende Gelände, das jede Verlängerung der Kohleverbrennung radikal ablehnt und den sofortigen Ausstieg fordert. Das ist mehr, als sich die konsequenteren der großen NGOs auf die Fahnen geschrieben haben. Selbst Greenpeace Deutschland fordert den deutschen Kohleausstieg immer noch erst für das Jahr 2040 - viel zu spät für ein 1,5-Grad-Ziel. Zugleich gab Greenpeace nach dem Pariser Klimagipfel zu, dass der Ausstieg schon bis 2025 komplett vollzogen sein müsste, damit Deutschland bis 2035 CO2-neutral wäre und das 1,5-Grad-Ziel einhalten kann.

In Anbetracht dessen, dass die Industrieländer deutlich schneller sein sollten, um den weniger handlungsfähigen Ländern mit gutem Beispiel voranzugehen - denn auch das gibt Greenpeace zu -, muss selbst aus dem 2025 ein Sofort werden. Vor derart radikalen Forderungen schreckte Greenpeace im letzten Jahr jedoch zurück, ganz zu schweigen von den anderen großen NGOs. Daraus folgt, dass ein für die Kohlearbeiter_innen und Reviere sozial abgefederter und dadurch langfristiger Ausstieg das 1,5-Grad-Ziel aufgibt - und damit auch den Kampf gegen den Klimawandel.

Viele Linke nationalisieren die Klimafrage

Auf diese Weise wird die lokale soziale Frage gegen die globale ausgespielt. Denn wenn die 20.000 deutschen Kumpel_innen ihre Arbeit auch nur für weitere zehn Jahre behalten dürfen, söffen wesentlich mehr als 20.000 Menschen im globalen Süden ab, für die eine Anmeldung beim Arbeitsamt Cottbus und Köln ein unerreichbarer Luxus wäre. Zugleich ist es nachvollziehbar, dass die Kohlearbeiter_innen in Ende Gelände »unter den gegebenen Bedingungen faktisch« den »Feind« ihrer Arbeitsplätze sehen, wie Lindenberg und Müller schreiben. Denn ein schneller Kohleausstieg würde natürlich zum Verlust vieler der ca. 20.000 Arbeitsplätze führen und die Regionen für eine Zeit des Übergangs wirtschaftlich schwächen. Aus diesem Grund eilen immer noch viele Linke ihren Arbeiter_innen zu Hilfe, insbesondere Teile der Linkspartei, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Gewerkschaften und selbst der interventionistischen Linken. Sie nationalisieren und verengen dabei jedoch die Klimafrage auf »ihre« deutschen Arbeiter_innen. Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht falsch.

Daran ist zum Ersten falsch, dass es nicht »ihre« Arbeiter_innen sind. Der Mob, der Ende Gelände nach der Schicht im Kraftwerk Jänschwalde im Mai 2016 beschimpfte und sogar angriff, bestand aus »Menschen mit Fahnen der kohlefreundlichen IG BCE, Hooligans (und) organisierte(n) Nazis«. (Luxemburg 2/2016) Am Bahnhof, bei der Abreise von Ende Gelände, wurde ich Zeuge eines (friedlich endenden) Streitgesprächs zwischen um ihre Arbeitsplätze besorgten Lokalnazis und einem Klimainternationalisten. Auf die aus dem Klimawandel resultierenden Migrationsbewegungen angesprochen antworteten erstere, mit den Geflüchteten würden sie, die Nazis in der Lausitz, schon alleine fertig.

Daran ist zum Zweiten falsch, dass eine national bornierte Antwort auf die Frage des Jahrhunderts nicht ernstlich von einer progressiven Linken vertreten werden kann. Denn Klimarettung ist gleichbedeutend mit dem Fortbestand eines menschenfreundlichen Klimas und einer lebenswerten Biosphäre (gleichwohl sind beide schon heute stark beschädigt). Wer versteht, dass damit auch der Fortbestand einer schon heute immer weniger zivilisierten Menschheit nicht in irgendeiner fernen Zukunft, sondern inmitten dieses Jahrhunderts steht oder eben fällt, versteht auch, dass die Klimarettung eine furchtbar große soziale Frage ist. Auch wenn die Chancen auf eine Klimarettung immer kleiner werden, postuliert das Ausmaß der drohenden Katastrophe einen unhinterfragbaren ethischen Imperativ, der nicht opportunistisch wegen seiner Erfolgsaussichten kleingeredet werden kann.

Die Bundesrepublik ist Klimaschuldnerin an allen nichtindustrialisierten Ländern. Eine selbstverständlich mit Kosten und Anstrengung verbundene Dekarbonisierung (1) muss in einem der reichsten und stärksten Industrienationen mit Entschlossenheit begonnen werden. Und da hier nun einmal der Ort unserer politischen Kämpfe ist, muss das ein Kampf der gesamten Linken sein. Ende Gelände ist die Akteurin, die hier im Herzen des kapitalistischen Weltsystems das Anliegen des globalen Südens und somit des Großteils der Menschheit vertreten kann. Dazu gehört weit mehr als ein Stopp der Verbrennung fossiler Energieträger, auch wenn dieser für eine Klimarettung gegenwärtig der Hauptwiderspruch ist.

Ein Kampf der gesamten Linken

Angesichts des Dilemmas zwischen der globalen und der lokalen sozialen Frage sprechen sich Lindenberg und Müller dafür aus, die derzeit unlösbare lokale soziale Frage hinten anzustellen und wenigstens das Klima zu retten. Praktisch haben das schon die Klimacamps umgesetzt, nach langen und erfolglosen Bemühungen, sich mit den lokalen Arbeiter_innen und Gewerkschaften zu arrangieren. Aufgrund des politischen Drucks und der rapide sinkenden Rentabilität der Braunkohle arbeiten nun sogar ver.di, das Umweltbundesamt und einige Ministerien an Szenarien für einen sozial abgefederten Kohleausstieg für die beiden deutschen Reviere im Rheinland und in der Lausitz. Da es sich um eine überschaubare lokale soziale Frage handelt, wird die Lösung wohl sein, den Regionen einfach genügend Geld zu geben.

Ihre Grenzen erreicht ein solcher lokal-nationaler Transfer allerdings bei den »gegebenen Bedingungen«. Denn die Frage wird sich immer wieder stellen: bei der Steinkohle, beim Öl und Gas, bei der Autoindustrie, bei der Flugindustrie und vielen weiteren. Dort werden weit mehr als 20.000 Menschen betroffen sein, und eine Lösung durch Finanztransfer wird außerhalb von lokalen Nischen kaum möglich sein. Ende Gelände muss sich dazu verhalten, und es muss den Arbeiter_innen, die hoffentlich in der Mehrheit keine Nazis sind, ein besseres Szenario anbieten können als Arbeitslosigkeit.

Wenn ein solcher gerechter Übergang »von dem wir nur grob wissen, wie er aussehen könnte ... unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen jedoch kaum zu realisieren« ist (Luxemburg 2/2016), dann müssen eben diese Bedingungen in Frage gestellt werden. Dies nicht zu tun hieße, ein menschenfreundliches Klima stillschweigend aufzugeben. In Ermangelung einer Idee für eine emanzipierte postkapitalistische Welt kann Ende Gelände zu vielen Fragen - nicht nur den sozialen - nur schweigen oder ausweichend auf den nach wie vor richtigen ethisch-ökologische Imperativ verweisen.

There is no alternative to climate justice

Es ist sicher nicht die Aufgabe von Ende Gelände, einen detaillierten Plan für den abgefederten Übergang eines bestimmten Kohlereviers vorzulegen. Das können NGOs und Umweltbundesamt besser. Was diese wiederum aber ganz bestimmt nicht können, ist eine Utopie für eine bessere Welt jenseits des Kapitalismus vorzulegen oder gar einen Weg dahin zu deuten. Und damit fängt es schließlich an. Erst kommt die Hoffnung und der gemeinsame Traum, und dann die schlauen Theorietexte, die den Weg dahin zeigen.

Statt nur den »fossilen Kapitalismus überwinden« zu wollen, wie es im letzten Aufruf von Ende Gelände heißt, sollte der Mut da sein, den Kapitalismus als umfassende Katastrophe besiegen zu wollen - ohne Attribute wie »fossil« oder »klimaschädlich«. Es hat schon seinen Grund, warum die NGOs und die gesamte Klimawissenschaft niemanden zu zivilem Ungehorsam mobilisieren kann, nur damit alles so bleibt wie es ist, aber ohne Klimakollaps.

Wer gegen das Bestehende gewinnen will, braucht einen Traum des Kommenden. Das heißt, die alten Fragen zu stellen, sich mit den gescheiterten Versuchen und Antworten herumzuplagen und aus dem Schutt des postideologischen Zeitalters etwas Neues zu bauen. Wer sonst sollte das beginnen, wenn nicht eine erfolgreiche und internationale Umweltbewegung? Und was wäre unrealistischer, als angesichts des nun auch naturwissenschaftlich angesagten dystopischen Jahrhunderts auf eine Utopie für etwas radikal Besseres zu verzichten? Müsste es nicht in den Worten des Schlachtschiffs des neoliberalen Angriffs, Magaret Thatcher, heißen: There is no alternative (TINA) to climate justice? Muss nicht immer wieder zuerst TINA kommen und dann alles weitere? Haben schon einmal Tierbefreier_innen gerechte Sozialpläne für Metzger_innen gefordert?

Keine Frage, wer heute in diesem Land über so etwas laut nachdenkt, wird nicht nur von den Kohlekumpel_innen verlacht. Herbert Marcuse schrieb über die Möglichkeit einer Überwindung der gegebenen Zustände: »Die Revolution erfordert in der Vorbereitungs- und Übergangsperiode eine Führung, die auch den kompensatorischen Interessen der Massen entgegenstehen kann.« (2) Das gilt nach wie vor. Ende Gelände sollte deshalb auf den Applaus der nationalen Gewerkschaften und anderer Vertreter_innen des (fossilen) Kapitalismus freimütig verzichten. Im Jubiläumsjahr 2017 kann ein Blick ins Geschichtsbuch helfen, was möglich ist und was es braucht, für das unbescheidene Ziel der Klimarettung. Ein Ziel, für das es schlichtweg nicht eine einzige erstrebenswerte Alternative gibt.

Thalestris A. Zetkin ist kritischer Sozialwissenschaftler und aktiv bei Ende Gelände und in der Interventionistischen Linken (IL).

Anmerkung:

1) Dekarbonisierung meint den vollständigen Übergang von der Verbrennung von Kohlenwasserstoffen wie Öl, Gas und Kohle und aller damit verbundenen Sektoren wie Energie, Heizung, Transport und Industrie hin zu erneuerbaren Energien, die ohne Kohlenstoffemissionen (Karbon) auskommen. In der Europäischen Union und der Klimaschutzstrategie der Bundesrepublik ist eine notwendige Dekarbonisierung des Öfteren erwähnt worden und gilt als konsequentes Ziel einer ganz anderen Produktionsweise.