Fragiler Bonapartismus
International Auch ein Präsidialsystem garantiert keine Stabilität für die herrschende Klasse in der Türkei
Von Foti Benlisoy und Baris Yildirim
Viele mögen versucht sein, den türkischen Fall einfach als »illiberale Demokratie« oder eine Art »Sultanismus« zu beschreiben. (ak 618) Aber der Autoritarismus steht in direkter Verbindung mit der Krise des neoliberalen Modells. Der Neoliberalismus in den peripheren oder semiperipheren Ländern geriet in die Krise, lange bevor dies in den imperialistischen Kernländern der Fall war; die Türkei in den 1990er Jahren ist hierfür ein Beispiel.
Für die Hegemoniekrise in der Türkei waren damals drei Faktoren entscheidend: erstens die neoliberalen Politiken, die die arbeitenden Massen von der Regierung entfremdeten, zweitens der Antagonismus zwischen Großbürgertum und islamistischer Bourgeoisie und drittens der kurdische Aufstand in den 1990ern. Ein schwerer Konjunktureinbruch 2001 verschlimmerte die Krise. Direkt danach präsentierte sich die AKP als einzige Kraft in der Lage, die Probleme zu meistern. Eine linke Alternative fehlte, und so war Erdogans autoritärer Populismus erfolgreich darin, den gesellschaftlichen Groll, den die Krise von 2001 erzeugt hatte, zu kanalisieren. Sein Populismus setzte auf eine imaginäre kulturelle Kluft zwischen einem »nichtnationalen«, elitären Establishment einerseits, das angeblich »authentische« nationale Werte verachtet, und dem »Herzen der Nation« andererseits.
Die AKP als Anti-Establishment-Partei
Obwohl sie selbst an der Macht war, konnte die AKP behaupten, die elitäre Bevormundung durch Bürokratie und Militär zu bekämpfen, die den Fortschritt der Türkei behindere. Dadurch erlangte die Partei Hegemonie über die breiten Massen und konnte potenzielle Dissident_innen kooptieren. Ihr Diskurs der »pluralistischen Demokratie« beinhaltete zahlreiche gesellschaftliche Forderungen in verzerrter Form und präsentierte die AKP als wahre Vertreterin der Nation und diese als eine Gemeinschaft ohne Klassen und Unterschiede.
Die AKP zwang die breiten Massen, sich beim angeblichen Kampf zwischen der jakobinisch-kemalistischen Elite und der gottesfürchtigen Nation für eine Seite zu entscheiden. Dadurch wurde die Arbeiterklasse geschwächt. Klassenwidersprüche verschwanden hinter einem kulturalistischen Schleier.
Zu Beginn der 2010er Jahre sah sich diese Erzählung, die seit 2001 funktioniert hatte, infrage gestellt. Der Machtblock begann zu zersplittern (was schließlich im Putschversuch im Juli 2016 gipfelte): Der Versuch der AKP, außenpolitisch eigenständig zu handeln (insbesondere in Syrien) ließ ihre internationalen Bündnisse bröckeln, die globale Finanzkrise verschärfte den Konflikt zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Bourgeoisie und der Gezi-Aufstand brach aus. Die Strategie des populistischen Anti-Establishment-Diskurses hatte ihre Grenzen erreicht.
Die AKP konsolidierte ihre Basis rund um die Figur Erdogan und den Mythos von der »neuen Türkei«; dies war nur möglich durch die weitere Polarisierung der Gesellschaft und die zunehmende Anwendung nackter Gewalt. (ak 615) Bei diesem defensiven Unterfangen griff die AKP auf altbewährte Klischees wie »der Glaube und das Vaterland sind in Gefahr« zurück. Der Fokus verschob sich von der »demokratischen Revolution« zum »zweiten türkischen Unabhängigkeitskrieg«. Eckpfeiler dieser Verschiebung wurde der Mythos eines »nationalen und authentischen« Führers, der sich tapfer der durch ausländische Mächte und »Lobbys« geschmiedeten Verschwörung entgegenstellt.
Ihre schwerste Krise, die Wahlergebnisse vom 15. Juni 2015, überwand die AKP mit Hilfe des Krieges. Krieg wurde zum Hebel für die Regimebildung, weil er die Freund-oder-Feind-Logik auf die Spitze trieb. In diesem Zuge konnte die AKP die Bündnisse im Staat zu ihren Gunsten umstrukturieren und die Gesellschaft weiter polarisieren. Es folgte eine scharfe Wende zu »Sicherheitspolitiken« in der kurdischen Frage, und an der syrischen Front verschob sie den Fokus von einem Regimewandel zum »Krieg gegen den Terror«.
Mit Gewalt und Krieg zu »stabiler Instabilität«
Diese Manöver waren getrieben vom Wunsch, neue Verbündete zu gewinnen wie beispielsweise Putin, prominente Figuren des türkischen »tiefen Staates« oder ultranationalistische Führer wie den MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli und den Vorsitzenden der Vaterlandspartei, Dogu Perinçek. Schnell driftete das Regime ab in Richtung eines repressiven Modells mit einer dominanten Partei rund um einen starken Mann, basierend auf einer durch andauernden Krieg erzeugten »stabilen Instabilität«. Marx hatte argumentiert, dass Napoleon III. den Klassenkampf entführt hatte, indem er regelmäßig Krieg in Übersee führte; in ähnlicher Weise verzerrte Erdogan zunächst den Klassenkampf durch »Kulturkämpfe«, und entschied sich dann dafür, seine Macht mit militärischen Mitteln zu stärken.
Erdogans Herrschaft ähnelte mehr und mehr einem bonapartistischen Regime, von Trotzki definiert als »eine Regierung des Säbels in der Eigenschaft des Schiedsrichters der Nation«. Die staatliche Architektur war aufgrund der Auflösung nationaler und internationaler Bündnisse fragil geworden. Der einzige Weg, diese Schwäche zu kompensieren, war diktatorische Macht. Wie Walter Benjamin schreibt: »Wer herrscht, ist schon im vornhinein dafür bestimmt, Inhaber diktatorischer Gewalt im Ausnahmezustand zu sein, wenn Krieg, Revolte oder andere Katastrophen ihn heraufführen.« Was im türkischen Fall den Ausnahmezustand heraufführte, war der interne Konflikt in staatlichen Institutionen und die Zersplitterung der herrschenden Klasse.
In den Schriften von Marx und Engels bezieht sich Bonapartismus auf ein Regime, in dem der Exekutive im Staat unter der Herrschaft eines Einzelnen diktatorische Macht über alle anderen Gewalten und über die Gesellschaft zukommt. Die Intensität des Klassenkampfs in einer Gesellschaft hat die einander entgegengesetzten Klassen ermüdet und zu einem Patt geführt: Die Bourgeoisie kann ihre Herrschaft nicht länger mit verfassungsrechtlichen und parlamentarischen Mitteln aufrechterhalten, die Arbeiterklasse ist aber ebenso wenig in der Lage, die Macht zu übernehmen. Im Ergebnis wird der Staat unabhängig und findet - in der Regel durch das Auftreten einer mächtigen politischen Figur (ein Bonaparte) - eine Lösung für den Konflikt, die die Fortdauer der bürgerlichen Herrschaft garantiert.
In der Türkei ist das bonapartistische Moment nicht auf ein Kräftegleichgewicht zwischen zwei sich gegenüberstehenden Klassen reduzierbar. Vielmehr ist es das Ergebnis interner Spaltungen des »Parti de l'Ordre« (1) und der daraus resultierenden Schwäche der herrschenden Klasse und der Fragilität des Staatsapparats.
Der Gezi-Aufstand 2013, die massiven Streiks in der Metallindustrie 2015 und der Aufschwung der kurdischen Bewegung, gipfelnd in den Wahlerfolgen im Juni 2015, waren jeweils erhebliche Herausforderungen für das Regime. Es waren jedoch nicht diese Ereignisse, die die herrschende Klasse dazu zwangen, den Bereich »normaler« parlamentarischer Herrschaft zu verlassen; der Hauptgrund für den Aufstieg einer starken autonomen Exekutive ist das Versagen des parlamentarischen Systems, die Auflösung des Staates und die Fragmentierung der Bourgeoisie zu stoppen.
Innenpolitisch verstärkt Erdogans »Krieg gegen den Terror« die vorhandenen »Sicherheitsrisiken« und setzt die Türkei weiter der sich verschärfenden internationalen geopolitischen Rivalität aus. Die Regierung versagt schlicht dabei, ein neues Kräfteverhältnis zu stabilisieren. Zum Beispiel erreicht die gesellschaftliche Polarisierung durch die erwähnten »Kulturkriege« und die Islamisierung - für die AKP ein unverzichtbares Instrument, um ihre Basis zu konsolidieren - eine Ebene, auf der sie nicht mehr kontrollierbar ist. Die Kulturkämpfe und die Islamisierung führen zum Aufkommen von islamistischer Gewalt im Herzen des Staates (oft als »Pakistanisierung« bezeichnet) und treiben die Regierung an den Rand des Bruchs mit seinen Bündnispartnern im Staat und auf internationaler Ebene.
Außenpolitisch hat die 180-Grad-Wende in der Syrienpolitik und das Kuscheln mit Russland und dem Iran zu noch stärkeren Spannungen mit den USA geführt; das zeigt sich in den Debatten über die US-Unterstützung für die syrischen Kurd_innen oder an der Forderung, Fethullah Gülen an die Türkei auszuliefern. Regierungsvertreter äußern regelmäßig Verschwörungstheorien: Die USA förderten den Terror, um die Türkei zu destabilisieren. Eine zunehmende Feindschaft zwischen dem sogenannten Pro-NATO-Lager und pro-eurasischem Lager im Staat und sogar innerhalb der AKP selbst ist die Folge; die Konkurrenz imperialistischer Mächte spiegelt sich in der Struktur des türkischen Staates wider.
Auch die ökonomische Situation ist dramatisch: Weil das Finanzkapital aus den peripheren Staaten in die Kernländer flieht, nehmen die wirtschaftlichen Turbulenzen in der Türkei zu. (ak 623) Nach Trumps Sieg erlebte die Lira eine starke Abwertung, ebenso wie Währungen in Mexiko und anderen peripheren Ländern. Das Kreditwachstum kam zu einem jähen Ende, die industrielle Produktion begann zu schrumpfen, und 2016 erlebte die Türkei im dritten Quartal zum ersten Mal seit 2009 ein negatives Wirtschaftswachstum.
Die Spannungen in der Regierung wachsen
Das Ergebnis sind wachsende Spannungen in der Regierung zwischen einer neoliberalen Gruppierung, die strikte Haushaltsdisziplin predigt und einer eher neomerkantilistischen beziehungsweise developmentalistischen (2) Gruppe, die den erleichterten Zugang zu Krediten, Investitionen in Bauwirtschaft und Infrastruktur, das Ankurbeln des inländischen Marktes und die Erschließung nichteuropäischer Märkte propagiert. Dieser Kampf innerhalb der herrschenden Partei ist eng verbunden mit dem Kampf zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen.
Laufende massive politische Säuberungen und die Instabilität machen die bürokratische Umstrukturierung des Machtblocks extrem schwierig und riskant. Die blutigen Anschläge und Explosionen alle paar Wochen, das Attentat auf den russischen Botschafter, das Massaker vom 1. Januar in einem Nachtclub - all das prägt das Bild eines stark fragmentierten und nahezu »gescheiterten« Staates. Insgesamt verfehlt die bonapartistische Orientierung also das Ziel, den Machtblock zu stabilisieren.
In der gegenwärtigen bonapartistischen Situation präsentiert sich Erdogan als Retter auf einem weißen Streitross. Aber um ein echter Bonapartist zu sein, muss er über die sozialen Klassen und Fraktionen innerhalb des Staates hinauswachsen. Falls er stolpert, könnten andere potenzielle Bonapartes auftauchen, etwa mit verdeckter Unterstützung des Großbürgertums, das Erdogan nicht vollkommen für sich gewinnen kann.
In einem bemerkenswerten und keinesfalls isolierten Zwischenfall sagte ein pensionierter Militärrichter, dass das Militär die Macht übernehmen könnte, sollte Erdogan es nicht schaffen, »die Einheit und Geschlossenheit« des Staates und der Nation herzustellen. Das Schicksal des fragilen Bonapartismus in der Türkei dreht sich also um die Frage, wer diese flüchtige »Einheit und Geschlossenheit« herstellen wird. Die einzige Kraft, die dieses Bild radikal ändern können, sind »die unten« - besoffen von den »Schock und Ehrfurcht«-Politiken der letzten anderthalb Jahre.
Ein Präsidialsystem würde dem Präsidenten enorme Macht über die legislativen, judikativen und militärischen Bereiche des Staates garantieren. Aufgrund der immensen staatlichen Gewalt gegen die HDP und der Inhaftierung vieler ihrer Politiker_innen ist es unwahrscheinlich, dass die Partei eine umfassende Kampagne organisieren wird. Einnehmen könnte diese Rolle stattdessen die Plattform Demokrasi Için Birlik (Einheit für Demokratie), die HDP-Aktivist_innen, diverse linksradikale Parteien, Gewerkschaftsverbände und Berufskammern zusammenbringt. Wenn dieser »etabliertere« Teil der gesellschaftlichen Opposition sich mit den nach Gezi entstandenen Initiativen von unten sowie der Basisarbeiterbewegung zusammenschließt, könnte eine erfolgreiche Nein-Kampagne zum Frühjahrsreferendum entstehen - die dann eine Einheitsfront für die kommenden Jahren antreiben könnte.
Ein solcher Zusammenfluss der kurdischen Bewegung, der Gezi-Dynamik und der Arbeiterbewegung ist die einzige Hoffnung, die autoritäre Wende der Türkei zu bremsen. Mittlerweile sind einige »Hayir«-Stadtteilversammlungen in Istanbul entstanden, ebenso wie Nachbarschaftsräte. Einigkeit herrscht darüber, dass eine horizontale Netzwerkstruktur die Aktionseinheit aufrechterhält und gleichzeitig jeder Nachbarschaftsinitiative die Freiheit verleiht, die Nein-Kampagne der Soziodemographie und den Realitäten der jeweiligen Nachbarschaft entsprechend zu führen.
Jüngste Umfragen zeigen, dass die Stimmen für ein Nein leicht vorn liegen. Aber das Referendum wird inmitten des Ausnahmezustands durchgeführt werden, und das ruft Ängste vor einer neuen Repressionswelle, zunehmender Medienzensur und Manipulationen hervor, die einem Ja den Weg ebnen. Am 10. Februar gab die Regierung bekannt, dass das Referendum am 16. April stattfinden wird. Zwei Monate heftiger politischer Auseinandersetzungen in einem ungünstigen Terrain, aber mit vielen Möglichkeiten stehen bevor.
Foti Benlisoy ist Historiker, Teil des Kollektivs »Baslangiç« und Mitgründer des griechisch-türkischen Verlages Istos. Baris Yildirim ist Mitglied von »Baslangiç« und lebt als Übersetzer und politischer Aktivist in Istanbul.
Der Text ist eine aktualisierte Kurzfassung eines Artikels, der am 6. Januar 2017 auf der Onlineplattform LeftEast (www.criticatac.ro/lefteast/) erschien. Übersetzung und Bearbeitung: Hannah Schultes
Anmerkungen:
1) Die Parti de l'Ordre bestand aus Monarchisten und Konservativen, der Präsidentschaft Napoleon Bonapartes stand sie negativ gegenüber. 1849 erreichte sie in der Zweiten Französischen Republik eine absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen. Nach Napoleons Selbstputsch 1851 mussten die Mitglieder der Partei fliehen.
2) Developmentalismus bezeichnet eine Theorie, derzufolge ökonomischer Wohlstand in Staaten der »Dritten Welt« über eine »nachholende Entwicklung« zu erreichen sei; konkret beinhaltete diese Strategie die Förderung eines starken und vielfältigen Binnenmarkts und hohe Importzölle.