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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 625 / 21.3.2017

Rechtes Denken

Frankreich Nicht nur der Front National, auch die Regierungslinke bedient reaktionäre Tendenzen des Alltagsverstandes

Von Kolja Lindner

Jenseits des Rheins bereitet man sich allseits auf eine Wiederholung des »politischen Erdbebens« vom 21. April 2002 vor. An diesem Tag zog der Gründer des rechtsextremen Front National (FN), Jean-Marie Le Pen, in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen ein. Sicher gibt es Unterschiede zur Situation von vor 15 Jahren, nicht zuletzt weil mittlerweile die Tochter des damaligen FN-Chefs den Parteivorsitz übernommen hat. So distanziert sich Marine Le Pen zumindest partiell von der klassischen kolonial-faschistischen Rechten - ein Prozess, der in Frankreich gemeinhin als »dédiabolisation« bezeichnet wird. Allerdings ist die programmatisch-strategische Krise der Linken, die den 21. April 2002 ermöglichte, keinesfalls ausgestanden. Auch starke soziale Bewegungen fehlen - eine Kombination, die nichts Gutes verheißt.

Mit den Wahlen 2002 endete die Amtszeit eines linken Regierungsbündnisses aus Grünen, Sozialistischer und Kommunistischer Partei. Diese Koalition stand unter dem Eindruck der Massenstreiks gegen den Sparplan des damaligen Premierministers Alain Juppé im Herbst 1995 sowie der Besetzungen von Kirchen und Arbeitsämtern, mit denen 1996 die Legalisierung von Sans Papiers (»Papierlosen«) und 1997/1998 eine Verbesserung der Situation von Arbeitslosen erreicht werden sollte. Dass der sozialistische Premierminister Lionel Jospin in der Programmdebatte der westeuropäischen Sozialdemokratien dem neoliberalen Kurs von Gerhard Schröder und Tony Blair widersprach, muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die Ausgabe von Papieren an zahlreiche illegalisierte Migrant_innen und die Einführung der 35-Stundenwoche im Jahr 2000 gingen ebenfalls auf den Einfluss der verschiedenen Mobilisierungen zurück.

Moralische Panik

Sicher, es gab linke Kritik an diesen Maßnahmen. So wurde z.B. nur die Hälfte der ursprünglich zugesagten Aufenthaltstitel ausgestellt und die 35-Stundenwoche mit zahlreichen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen erkauft. Dennoch, gemessen an der noch amtierenden sozialistischen Regierung, waren die Jahre der sogenannten pluralen Linken eine Hochzeit der Wirkmächtigkeit sozialer Bewegungen. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund allerdings, dass die ideologischen Hegemonieverhältnisse in dieser Zeit recht wenig in Bewegung kamen. Vielmehr bediente die Regierungslinke reaktionäre Tendenzen des Alltagsverstandes. So brachte der damalige Innenminister Jean-Pierre Chevènement die Sozialistische Partei auf einen Law-and-Order-Kurs. Und Jospin verstieg sich im Wahlkampf von 2002 sogar zu der Aussage, sein Programm sei »nicht sozialistisch« sondern »modern«.

Angesicht der überzogenen politischen und massenmedialen Beschäftigung mit Kriminalität in den proletarischen, von Einwanderung geprägten Vorstädten, die den Präsidentschaftswahlkampf 2002 bestimmte, war die Linke nicht zuletzt deswegen entwaffnet. Eine derartige »moralische Panik« kann als Ausdruck einer Hegemoniekrise gelten, argumentiert eine Gruppe um den Kulturwissenschaftler Stuart Hall für das Großbritannien vor Thatcher. (»Policing the Crisis. Mugging, the State, and Law and Order«) Etablierte soziale Repräsentationen, die mit bestimmten Formen von Legitimation, Zustimmung und Herrschaft einhergingen, verlören so an Plausibilität und Wirkungskraft. Der französische Urnengang vom 21. April 2002 illustrierte derartige Verschiebungen: So verpassten die Linksparteien nicht nur den Einzug in den zweiten Wahlgang, sondern verloren auch immer stärker die Unterstützung marginalisierter sozialer Gruppen.

Der Soziologe und Philosoph Didier Eribon hat diese Entwicklung in seinem hierzulande vieldiskutierten Buch »Rückkehr nach Reims« (ak 619) treffend beschrieben. Es sei die linke Abkehr vom Kampf für eine Allianz aus verschiedenen sozialen Gruppen und für die solche Bündnisse stützenden sozialen Repräsentationen, die überhaupt erst das politische Vakuum geschaffen habe, in dem Rassismus und FN gedeihen können.

Die Regierungslinke, die 2012 mit Präsident François Hollande erneut die Macht übernahm, hat aus den politisch-ideologischen Tendenzen, die in der Wahl von 2002 zu einem vorläufigen Höhepunkt gekommen waren, keine Konsequenzen gezogen. Zumindest nicht die, für die sich Eribon in seinem Buch stark gemacht hat: »Es gilt, einen theoretischen Rahmen und eine politische Sichtweise auf die Realität zu konstruieren, die es erlauben, jene negativen Leidenschaften, die in der Gesellschaft insgesamt und insbesondere im einfachen Volk im Umlauf sind, zwar nicht auszumerzen - denn das wäre unmöglich -, aber doch weitgehend zu neutralisieren; Theorien und Sichtweisen, die neue Perspektiven erschließen und der Linken einen Weg in die Zukunft weisen, in der sie ihren Namen wieder verdient.« Daher trägt die Sozialistische Partei für den nun erneut zu erwartenden Wahlerfolg des FN eine Mitverantwortung.

Ein Rückblick: Als Hollande die Präsidentschaftswahl gewann, herrschte in der französischen Linken eine gewisse Erleichterung vor. Immerhin hatte das Land unter seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy Minderheiten diskriminierende Kampagnen hinter sich, die im Wahlkampf zu einem absurden antimuslimischen Wettrennen mit dem FN eskalierten. Ernüchterung stellte sich allerdings recht bald ein. Nicht nur, dass der neue sozialistische Präsident und seine Regierung keine Veränderungen am undemokratischen System der Fünften Republik vorzunehmen bereit waren. Sie nutzten diese autoritären Strukturen vielmehr, um neoliberale Reformen durchzusetzen. Die letzten fünf Jahre stehen nicht zuletzt deswegen für die relative Wirkungslosigkeit sozialer Bewegungen.

Den zunehmenden Rassismus, aus dem der FN nun politisches Kapital schlägt, dürfte darüber hinaus auch die Reaktion eines Großteils der sozialistischen Regierung auf die islamistischen Terroranschläge vom Januar bzw. November 2015 in Paris gefördert haben. So betrieb Hollande eine offene Ethnisierung, in dem er sich dafür stark machte, allen Menschen mit Doppelpass, die für Terrorakte verurteilt wurden, die französische Staatsbürgerschaft aberkennen zu lassen. Dieses Vorhaben wurde nach heftiger Kontroverse und der verweigerten Zustimmung der zweiten Parlamentskammer zwar aufgegeben. Der Vorstoß verstärkte aber einmal mehr die Ansicht, islamistischer Terror sei ein Problem, das Frankreich »von außen« heimsuche - eine Absurdität nicht nur vor dem Hintergrund, dass die Attentäter allesamt in Frankreich aufgewachsen waren. Schließlich gerieten mit dieser Initiative insbesondere jene sozialen Verhältnisse aus dem Blick, die ihre Biografien prägten.

Diskriminierung von Muslim_innen

Weitere Beispiele zeigen, dass auch die derzeitige Regierungslinke keine Anstrengungen unternommen hat, alternative, nicht-rassistische soziale Repräsentationen zu entwickeln, die dem reaktionären Alltagsverstand, den sich der FN zunutze zu machen weiß, hätten entgegenwirken können. Nehmen wir die Auseinandersetzungen um den französischen Laizismus, die seit 30 Jahren in diskriminierender Weise auf Muslime abzielen. (ak 611) So zeigte die Linksregierung keinerlei Regung, das »genuine Laizismusthema« (Jean Baubérot) des weltlichen Ehestatuts in der Auseinandersetzung um die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare im Winter 2012/13 als solches zu rehabilitieren. Die einseitige Kaprizierung auf »Muslime« hätte durchbrochen werden können. Vielmehr förderte der sozialistische Premierminister Manuel Valls nach Kräften die Vorstellung, das Gleichheitsgebot der französischen Republik werde nicht primär durch soziale Verwerfungen, sondern vor allem durch ein paar kopftuchtragende Frauen herausgefordert. So plädierte Valls in der stark studentisch geprägten Anfangsphase der Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz dafür, das Kopftuch in den Universitäten zu verbieten - als hätten die chronisch unterfinanzierten französischen Hochschulen nicht andere Probleme.

Bereits 2007 schrieb Eribon in seinem bisher nur auf Französisch vorliegenden Buch »Über eine konservative Revolution und ihre Auswirkungen auf die französische Linke«, der 21. April 2002 gehe nicht zuletzt darauf zurück, dass gerade viele linke Wähler_innen dem sozialistischen Kandidaten ihre Stimme verweigert hätten. Und er fragt: »Warum sollte man sie für diese Niederlage verantwortlich machen, statt infrage zu stellen, wie die Sozialisten regiert, sich verhalten und sich insbesondere in den letzten 20 Jahren entwickelt haben, um zu dem zu werden, was sie nun waren und immer noch sind: eine Honoratiorenpartei, der vor allem an der Erhaltung ihrer Position gelegen ist, eine konservative, autoritäre, sektiererische Linke, die unter dem Einfluss rechten Denkens steht«?

An dieser ideologischen Lage hat sich in den letzten 15 Jahren nichts geändert - und genau das macht das zu erwartende Wahlergebnis möglich. Zugleich zeigt dieser Zustand der Linken, dass wieder viel aktiver um Hegemonie gerungen werden muss: um neue Allianzen und soziale Repräsentationen, die nicht auf sozialen Ausschlüssen beruhen.

Kolja Lindner schrieb in ak 622 über die Hochschulgewerkschaft Unter_bau.

Hegemoniekämpfe

Kolja Lindners Buch »Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus« ist soeben im Argument-Verlag (Hamburg) erschienen. Im Zentrum stehen dabei die Auseinandersetzungen um zwei Prinzipien des französischen Republikanismus: Laizismus und politische Repräsentation. 280 Seiten, 19 EUR.