Der doppelte Ausschluss
Gender Gewalt ist ein zentrales Mittel männlicher Sozialisation - wie lässt sich sexualisierte Gewalt gegen Jungen und Männer einordnen?
Von Thomas Schlingmann
Bei sexualisierter Gewalt gegen männliche Betroffene sind Jungen und männliche Jugendliche ganz klar die zahlenmäßig größte Betroffenengruppe. Es gibt aber auch zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen und Übergriffe gegen erwachsene Männer in Strukturen wie Armee, Feuerwehr oder Polizei, genauso wie im Rahmen homophober Gewalt oder in Lagern und Gefängnissen. In Kriegssituationen kommt es teilweise zu massiver sexualisierter Gewalt gegen ganze männliche Bevölkerungsgruppen. Die meisten Täter sexualisierter Gewalt gegen männliche Betroffene sind wie bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen Männer, aber es gibt einen nicht zu unterschätzenden Anteil von Täterinnen.
Bisher fehlt es an Wissen darüber, wie sexualisierte Gewalt gegen männliche Betroffene einzuordnen ist. Es gibt wenige Konzepte, die die Konsequenzen von Geschlechterkonstruktionen berücksichtigen. Meine Überlegungen diesbezüglich basieren auf den Erfahrungen von über 20 Jahren Beratungs- und Selbsthilfearbeit der Berliner Anlaufstelle Tauwetter für Männer, die in Kindheit oder Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren.
Hegemoniale Männlichkeit und Gewalt
Es gibt nicht die eine Männlichkeit, der sich alle anpassen, sondern verschiedene Konstruktionen von Männlichkeit, die miteinander konkurrieren. (1) Dennoch existiert eine hegemoniale Vorstellung, die im Regelfall von den in der Gesellschaft mächtigsten Männern bestimmt wird. Die anderen Formen von Männlichkeiten werden an den Rand gedrängt, marginalisiert. Als ihre Vertreter haben Männer dennoch Anteil an dem, was »patriarchale Dividende« genannt wird. Frauen sind per se ausgegrenzt und zählen nicht zu dem Teil der Menschheit, der ein Anrecht auf eine Beteiligung an der Macht hat. Dass Frauen heute beispielsweise in der Wirtschaft »ihren Mann stehen können« ist hierzu kein Widerspruch, sondern eher eine Bestätigung, denn wie der Spruch schon sagt, müssen sie sich dazu männlichen Normen unterwerfen.
Teil der hegemonialen Männlichkeitskonstruktion ist, dass Männer durchsetzungsfähig sind und ihre Position in der Männergesellschaft in einem permanenten Kampf untereinander gewinnen. Dieser Wettbewerb ist »ein zentrales Mittel männlicher Sozialisation«: Er trennt Männer nicht voneinander sondern ist »ein Mittel der Vergemeinschaftung«. (2) Der Wettbewerb kann auch körperlich und gewalttätig sein, wie das Mensur-Schlagen oder das historische Duell zeigen. Hier gilt: Nicht jeder ist satisfaktionsfähig, das heißt berechtigt, das Duell zu fordern, nur der, der dazu gehört. Das grenzt Männer aus den Unterklassen aus, aber auch Frauen.
Noch heute gilt: Eine Frau schlägt »man(n)« nicht, denn sie gilt als schwach und nicht als ebenbürtig. Unter erwachsenen Männern sind diese Auseinandersetzungen heute meist nicht körperlich gewalttätig; stattdessen werden andere Mittel (»Mein Haus, mein Auto, mein Boot, ...«) eingesetzt. Wenn diese nicht verfügbar sind, ist aber jederzeit ein Rückgriff auf den Körper möglich: Deshalb gibt es in den Unterklassen eine höhere männliche Gewaltbereitschaft, denn von anderen Mitteln sind sie oft abgeschnitten. Hinter den »zivilen« Formen der Gewalt, bei der Konkurrenten in den Ruin getrieben werden, steht die körperliche Gewalt. Bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern sind körperlich gewalttätige Formen der Konkurrenz noch wesentlich verbreiteter: das Spaßprügeln auf Schulhöfen, Hooligans oder Gangs.
Gewalt in der Gesellschaft kann zwei unterschiedliche Funktionen haben. Sie kann erstens die Hierarchie in der Gemeinschaft klären und damit die Zugehörigkeit des Einzelnen bestätigen. Oder sie übernimmt die bekannte Funktion der Ausgrenzung und des Ausschlusses aus der Gemeinschaft - bis hin zur Vernichtung, entweder direkt körperlich oder als Mitglied der Gesellschaft. Dabei schließen diese gesellschaftlichen Funktionen einander nicht aus; vielmehr beinhalten viele Gewalthandlungen Elemente beider. Die Bedeutung der einzelnen Gewalttat ergibt sich aus dem Verhältnis dieser beiden Elemente.
Meistens haben alltägliche Gewalthandlungen von Männern untereinander eher eine hierarchieklärende und gemeinschaftsbildende Funktion: Es existieren ungeschriebene Regeln wie Fairnessgebote, aber auch institutionalisierte Vereinbarungen wie die Genfer Konvention. Bei Gewalt von Männern gegen Frauen ist das ausschließende Moment wesentlich stärker: Durch Gewalt werden Frauen »auf ihren Platz verwiesen«, sie werden in ihrer Gesamtheit als minderwertig und zweitrangig deklariert.
Sexualisierte Gewalt bedeutet Entmenschlichung
Sexualisierte Gewalt ist vor allem in den massiveren Formen eine ausgrenzende und ausschließende Form von Gewalt. Sie macht Betroffene zu Objekten, das Menschsein wird ihnen abgesprochen.
Aufgrund der gesellschaftlichen Vermitteltheit der menschlichen Existenz hat solch ein Ausschluss eine existentielle Dimension: Menschen organisieren ihr Überleben seit Jahrtausenden nicht mehr in Kleingruppen oder vereinzelt, indem sie sich an die Umwelt anpassen, sondern sie gestalten als Gesellschaft ihre Umwelt entsprechend ihren Bedürfnissen. Ohne die Gesellschaft verhungern die Einzelnen. Die Gesellschaft bestimmt die Bedingungen des Überlebens von Einzelnen. Aus dem Bedürfnis zu überleben wurde im Laufe der Entwicklung der Menschheit das Bedürfnis, Teil der Gesellschaft zu sein, um über eigenes Überleben entscheiden zu können. (3) Wer nicht Teil des Entscheidungsprozesses ist, bleibt auf Wohlwollen angewiesen und ihm ausgeliefert. Der Unterschied zwischen Recht und Almosen liegt darin, dass ein Recht absichert, wohingegen bei Almosen nie klar ist, was morgen geschieht und existentielle Unsicherheit das Leben bestimmt. Das ist die Lebenssituation von Menschen ohne Papiere und anderen Personen, denen die Bürgerrechte verweigert werden.
In der psychologischen Definition von Trauma spiegelt sich die emotionale Seite dieser Existenzbedrohung darin wider, dass von Ohnmacht und Entsetzen im Zuge einer Lebensbedrohung die Rede ist. Die gesellschaftliche Dimension verschwindet in der Traumadefinition allerdings, und deshalb hat die Psychotraumatologie Probleme zu erfassen, worin denn die Lebensbedrohung bei sexualisierter Gewalt besteht. Rein körperlich betrachtet ist sexualisierte Gewalt oft nämlich nicht mit lebensbedrohlichen Verletzungen verbunden.
Sexualisierte Gewalt besaß in unterschiedlichen Gesellschaften und Zeiten unterschiedliche Bedeutungen: Im Zuge des Aufstiegs des Bürgertums prägte die bürgerliche Subjektvorstellung die Selbstdefinition der Männer, durch die Emanzipationsbewegungen der Frauen wurden auch sie zu Subjekten. Die bürgerliche Subjektkonstruktion ist eng mit Geschlecht und Sexualität verbunden und so wurde sexualisierte Gewalt zunehmend zu einem Angriff auf die Subjekthaftigkeit.
Auf der Ebene der Bedeutungen beinhaltet sexualisierte Gewalt gegen Männer einen doppelten Ausschluss: aus der menschlichen Gemeinschaft und aus dem männlichen Geschlecht. Der sexualisierter Gewalt innwohnende Aspekt der Negierung des Menschseins wird ergänzt durch die hegemoniale Männlichkeitskonstruktion, der zufolge ein Mann kein Opfer ist. Es gibt keine männliche Solidarität mit männlichen Opfern sexualisierter Gewalt, weil es in der vorherrschenden Männlichkeitskonstruktion gar keine gibt. Sexualisierte Gewalt wird deshalb von männlichen Betroffenen oftmals nicht nur als etwas erlebt, was sie absondert von anderen Personen, sondern auch als etwas, was sie unmännlich macht.
Männliche Normen, weibliche Täter
Fachleute waren nicht erstaunt, als öffentlich wurde, dass das Wachpersonal in einem Lager in Deutschland männliche Geflüchtete vergewaltigt hat. Sexualisierte Gewalt kann ein Mittel sein, um das Opfer als ebenbürtiges Gegenüber auszuschalten. Ob dabei im Vordergrund eher rassistische Grundhaltungen der Security oder andere Motivationen gestanden haben, spielt eine untergeordnete Rolle. Es ging um mehr als bei normaler männlicher Konkurrenz, wo das Gegenüber marginalisiert werden soll - es ging darum, die Anderen grundlegend auszuschließen.
Wenn Frauen sexualisierte Gewalt gegen Männer verüben, geschieht dies ebenfalls genau vor dem Hintergrund der skizzierten Bedeutung sexualisierter Gewalt. Es geschieht in Kontexten, in denen Frauen männliche Verhaltensnormen internalisieren wie im Gefangenenlager Abu Ghuraib im Irak. Anpassung an diese ermöglicht ihnen einen individuellen Gewinn.
Sexualisierte Gewalt geschieht aber auch an Arbeitsplätzen in Form von sexuellen Belästigungen; in einigen Betrieben scheint sie für leitende Angestellte dazu zu gehören. Sexualisierte Gewalt durch Frauen geschieht des Weiteren im Rahmen »häuslicher Gewalt«, sei es in hetero- , sei es in homosexuellen Beziehungen. Dabei handelt es sich sowohl um kontinuierliche Gewalthandlungen aber auch um Übergriffe, bei denen die aktuelle Beziehungsdynamik eine größere Rolle spielt. In all diesen Fällen erleben männliche Betroffene neben den genannten Ausschlussdimensionen eine Verschärfung dadurch, dass die Gewalt von einer Frau ausgegangen ist, einer Person, die nach den klassischen Vorstellungen dem Mann unterlegen sein sollte.
Von sexualisierter Gewalt betroffene Jungen sind mit zunehmender Selbstdefinition als männlich mit der gesellschaftlichen Bedeutung dieser konfrontiert. Unabhängig vom Alter spielt die individuelle Entwicklung der Weltsicht in der Bewältigung der sexualisierten Gewalt eine große Rolle. Wichtig ist, zu durchschauen, dass die Erfahrung, als Objekt behandelt zu werden, in abgestufter Form alltäglich ist - und dass Betroffene sich nicht einer Selbstkonstruktion unterwerfen müssen, der zufolge ein Angriff, für den Sexualität eingesetzt wird, dauerhaft die eigene Identität beschädigt. Es ist außerdem hilfreich, Männlichkeitskonstruktionen als das zu erkennen, was sie sind: Konstruktionen statt unveränderliche Wesenseigenschaften.
Thomas Schlingmann ist Mitbegründer und Mitarbeiter von Tauwetter, einer Anlaufstelle von und für Männer, die in Kindheit oder Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren.
Anmerkungen:
1) Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 2000.
2) Meuser, Michael: Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer. In: Baur, Nina/Luedtke, Jens (Hg.): Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Opladen 2008.
3) Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main 1983.
4) Groth, Nicholas A.: Men who rape. The Psychology of the Offender. New York 1979.
Diskussion über Gewalt
Auch aufgrund seiner Instrumentalisierung für rassistische Kampagnen ist das Thema sexualisierte Gewalt in den Fokus linker Debatten gerückt. In ak 618 forderte Tanya Serisier eine kritische Beschäftigung mit dem Erbe der sogenannten zweiten Welle des Feminismus: Feminist_innen sollten Erfolg im Kampf gegen Gewalt nicht über steigende Raten von Anklagen und Verurteilungen definieren. In ak 621 stellte Melanie Brazzell den Transformative-Justice-Ansatz vor, der die Verantwortung für Gewalt nicht als individuelle, sondern als kollektive Aufgabe betrachtet. Aus dem Alltag von Frauenberatungsstellen berichtete Katja Grieger im Interview in ak 622: Die staatliche Finanzierung bleibe unzureichend, und Vorurteile und Mythen erschwerten die Arbeit. Gegen Vergewaltigungsmythen wollte auch Mithu Sanyal, Autorin des Buches »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens«, angehen, als sie Mitte Februar mit Marie Albrecht in einem Artikel in der taz vorschlug, neben dem Begriff »Opfer« von »Erlebenden sexualisierter Gewalt« zu sprechen. Die Gruppe Störenfriedas lancierte daraufhin einen von zahlreichen Feminist_innen unterzeichneten Offenen Brief, der Sanyal »sprachliche Verharmlosung sexueller Gewalt« vorwarf. Infolge des Briefes erhielt Sanyal massenhaft sexistische und rassistische Zuschriften, in denen ihr Vergewaltigungen gewünscht wurden. Ihren Vorschlag hat die Kulturwissenschaftlerin mittlerweile zurückgezogen und zugleich deutlich gemacht, dass sie sich eine faire Debatte über ihre Thesen wünscht. In einem Interview in der Jungle World sagte Sanyal im September 2016: »Generell ist es schwierig für uns, das Konzept, was eine Vergewaltigung ist, mit unserem Konstrukt von Männlichkeit zusammenzubringen.« Thomas Schlingmanns Artikel bietet eine Erklärung für diesen Umstand; er zeigt zudem, warum sexualisierte Gewalt oft als »besondere« Form von Gewalt verstanden wird.