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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 625 / 21.3.2017

Eine Nation, eine Sprache, ein Geschlecht?

International Die Türkei gab sich einst einen frauenfreundlichen Anstrich, aber der Krieg gegen die Kurd_innen ist ein Krieg gegen die Frauen

Von Rosa Burç

»Wir haben so viel zu sagen aus Kurdistan, doch ich möchte es heute bei einer Sache belassen: Für alle Völker und für alle Frauen sagen wir nein, nein und nochmal nein«, ruft Leyla Güven, Co-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongress (DTK), den Menschenmassen in einem viel zu kleinen Saal in Diyarbakir zu. Mit diesem Satz leitete sie am 2. März 2017 den Wahlkampf für ein »Nein« im Verfassungsreferendum ein. Ihre Vorgängerin, Selma Irmak, sitzt währenddessen im Gefängnis.

Im Publikum ist auch Feleknas Uca, Abgeordnete im türkischen Parlament für die Demokratische Partei der Völker (HDP). Sie fliegt noch am selben Abend nach Berlin, um den Clara-Zetkin-Ehrenpreis entgegenzunehmen. Ihre Dankesrede ist kurz. Sie widmet den Preis all jenen die unter Einsatz von Leib und Leben für Frauenrechte in der Türkei kämpfen und nennt unter anderem Figen Yüksekdag, Co-Vorsitzende der HDP. Auch sie sitzt zurzeit im Gefängnis.

Seit dem Wahlerfolg der HDP im Juni 2015 und der klaren Aussprache gegen den Umbau der Türkei zu einem Präsidialsystem nach Erdoganschen Kriterien werden in Ankara die Immunität der Abgeordneten aufgehoben, Staatsanwälte leiten Verfahren wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation« ein, gewählte Repräsentant_innen kommen ins Gefängnis, Bürgermeister_innen kurdischer Bezirke werden durch Statthalter der AKP ersetzt, (pro-)kurdische Zeitungen, Radiosender und Fernsehanstalten werden per Dekret geschlossen und die Zivilbevölkerung - hauptsächlich in den Hochburgen der HDP - ist einem Krieg der Sondereinsatzkommandos der Polizei (PÖH) und der Gendarmerie (JÖH) ausgesetzt. Alles unter dem Deckmantel des »Kampfes gegen den Terror«.

Die männliche Hegemonie soll wiederhergestellt werden

Das nationale Narrativ der AKP basiert auf der Idee einer nationalen Einheit, die vor »internen Feinden« geschützt werden müsse - nachdem der Ausnahmezustand im Zuge der Vereitelung des Putschversuches am 15. Juli 2016 im gesamten Land ausgerufen wurde, gilt dies umso mehr.

Während die AKP selbst anfangs noch aus der politischen Peripherie Macht akquirierte, beruft sie sich heute bei der Gestaltung eines neuen Staates und der neuen Definition der türkischen Nation auf die Werkseinstellungen der Republik: Ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Nation.

Bei dieser Rückbesinnung geht es neben der Liquidierung politischer Gegner_innen im kurdischen Milieu oder der Lösung des Kurdenkonfliktes auf militärischen Wege, auch - und vielleicht vor allem - um die Wiederherstellung männlicher Hegemonie.

Darauf zielen die Bilder posierender PÖH- und JÖH-Kommandos in kurdischen Städten und Dörfern vor sexistischen Wandbemalungen an zerstörten Häuserfassaden. »Wir sind gekommen, aber nur eure Töchter waren da«, heißt es da, oder: »Huren dürfen umsonst abtreiben«. Auch die Zurschaustellung des nackten und misshandelten Körpers von Ekin Van, einer Guerillakämpferin im kurdischen Wan, zeigt: Je stärker die nationale Einheit sein soll, desto frauenfeindlicher sind die Praktiken des Staates.

Als die Genderforscherin Cynthia Enloe 1989 die These aufstellte, dass alle Nationalismen zurückzuführen seien auf vermännlichte Erinnerung, vermännlichte Erniedrigung und vermännlichte Hoffnung, konnte sie nicht ahnen, dass sie damit auch die heutige Türkei treffend beschrieb. Denn Nationalismus und Sexismus sind zwei Phänomene, die insbesondere in der Türkei nicht voneinander zu trennen sind.

Männliche Aggression im Erdogan-Regime manifestiert sich entweder in Form von nationalistischen Mobs, die zu Angriffen auf kurdische Geschäfte mobilisieren, HDP-Büros anzünden, Frauen auf offener Straße angreifen oder in Form von strukturellen Veränderungen wie der Abschaffung des Frauenministeriums, der Entlassung aller Frauen in universitären Führungspositionen, Straffreiheit von Sexualtätern und der unverhältnismäßigen Polizeigewalt gegen Politikerinnen. Dass sich ein sexistischer Nationalismus so einfach etablieren lässt, ist zurückzuführen auf die männliche Hegemonie im türkischen Nationalstaat.

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches war die Frauenfrage entscheidend für die Schaffung eines neuen Nationalstaates. Mit der Etablierung von Frauenrechten wollte Atatürk die neu entstandene Türkei von der osmanischen Vergangenheit abgrenzen und seinen Anspruch auf einen Platz in der westlichen Staatengemeinschaft deutlich machen. Die Anerkennung von Frauenrechten sollte westliche Partner von der Demokratiefähigkeit der Türkei überzeugen.

Demokratischer Anstrich durch Frauenpolitik von oben

Er ließ dafür Sabiha Gökçen, ein armenisches Waisenkind und die Adoptivtochter Atatürks, als weltweit erste Frau zur Kampfpilotin ausbilden und stilisierte sie zum Symbol für den türkischen Fortschritt. Sie trat 1936 der türkischen Luftwaffe bei und flog ihren ersten Einsatz als Kampfpilotin während des Dersim-Massakers von 1938. Sie unterstützte den Vormarsch türkischer Bodentruppen, indem sie den kurdischen Widerstand durch Bombardierungen aus der Luft niederschlug. Später wurde Dersim umbenannt in »Tunceli«, was so viel bedeutet wie »Eisenfaust«. Heute ist der zweite Flughafen in Istanbul nach ihr benannt.

Ähnlich war es mit Tansu Çiller, der ersten Frau im Amt des Premierministers. Sie regierte das Land in den frühen 1990er Jahren und ist verantwortlich für die sogenannten »dunklen Jahre« der Republik. Sie ließ Redaktionsräume der kurdischen Zeitung Özgür Gündem bombardieren und veranlasste die Tötung kurdischer Geschäftsmänner, Anwälte und Intellektueller. Mit ihrem Studienabschluss an der Yale University und ihrer Professur für Ökonomie wurde auch sie als Personifizierung türkischen Fortschritts vermarket.

Sabiha Gökçen und Tansu Çiller stehen nicht nur symbolisch für die Assimilierungspolitik der Türkei, sondern auch dafür, wie Nationalstaaten Frauenrechte oder Frauen in Führungspositionen instrumentalisieren, um in Kriegssituationen demokratische Legitimität zu proklamieren. Jasbir Puar forscht zum Zusammenhang von Nationalismus und Gender und beschreibt diese staatlichen Praktiken als »Pinkwashing«: Ein frauenfreundliches Bild wird gefördert, um antidemokratische Handlungen des Staates - wie zum Beispiel Kriegsverbrechen, Massaker, Besatzungen - demokratisch einzurahmen.

Frauenbefreiung statt Emanzipation

Frauenrechte in der Türkei haben aus diesem Grund lediglich die Emanzipation der Frau, nicht aber ihre Befreiung befördert. Strukturelle männliche Hegemonie lässt sich nämlich nur dann überwinden, wenn Frauen ihre Interessen bereits im Prozess der Nationenbildung oder bei der Gestaltung eines neuen Nationalprojekts selbstbestimmt vertreten können.

Die HDP hat mit ihrem pluralistischen und dezentralen Demokratieansatz nicht nur das homogene Nationenverständnis und den tradierten Staatszentralismus herausgefordert, sondern auch die Heteronormativität und männliche Hegemonie des türkischen Staates infrage gestellt, indem neben ethnischen und religiösen Underdogs türkischer Politik, insbesondere auch Frauen und LGBTQ-Personen erstmals gleichberechtigt politisch und zivilgesellschaftlich partizipieren konnten. Neben demokratischen Antworten auf die nationale Frage integrierte die HDP bei der Gestaltung ihres Parteiprogramms die Interessen der Frauen durch direkte Bündnisse unter anderem mit der LGBTQ- und Frauenbewegung der türkischen Linken und mit dem Kongress der Freien Frauen Kurdistans (KJA). Letztere Organisation ließ der Staatspräsident im Zuge des Ausnahmezustandes per Dekret schließen.

Wenn also in der Berichterstattung über die HDP - egal, ob in der Türkei oder in Deutschland - von einer (pro-)kurdischen Partei die Rede ist, ist dies nur ein Teil der Wahrheit. Denn sie ist vor allem eine Frauenpartei, die die Institutionalisierung männlicher Dominanz abschaffen möchte und gleichzeitig gendergerechte Alternativen schafft. Angefangen von der De-facto-Durchsetzung der Doppelspitzenregelung und einer Frauenquote von 40 Prozent in allen Gremien, bis hin zu gesonderten Vetorechten für Frauen in Abstimmungsverfahren.

Der Rousseau'sche Gesellschaftsvertrag ist nach feministischer Lesart als ein Vertrag zwischen Männern zu verstehen. In der Türkei wurde der Gesellschaftsvertrag traditionell auch unter Männern abgeschlossen, die sich zum Türkentum bekennen und nach ihrem Ermessen Frauenrechte gestalten oder nicht. Mit Erdogan verengte sich die Reichweite des Gesellschaftsvertrags weiter auf diejenigen, die sich regierungstreu verhalten. Nun möchte er diesen Gesellschaftsvertrag verfassungsrechtlich verankern.

Der Erfolg der HDP als Linksbündnis, Sprachrohr der Unterdrückten und vor allem als Frauenpartei hat den türkischen Nationalstaat in seiner Männlichkeit gekränkt. Der Krieg in den Kurdengebieten und der Feldzug gegen die HDP ist in erster Linie auch der letzte Versuch, den männlichen Status quo zu verteidigen.

Rosa Burç ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

Die HDP vor dem Referendum

Am 17. März begannen die Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahrsfest, am 21. März wird das Fest in Diyarbakir und Van gefeiert. In Ankara und Istanbul untersagten die Gouverneure die öffentlichen Feiern. Kurz vor den in 33 Orten geplanten Festivitäten zu Newroz nahm die Polizei am 16. März in zahlreichen türkischen und kurdischen Städten Dutzende Mitglieder und Vertreter_innen der HDP fest. In Izmir nahmen Sicherheitskräfte Frauen fest, die sich an öffentlichen Aktionen zum 8. März beteiligt hatten. In Mardin kam der Vorsitzende des assyrischen Vereins in Gewahrsam. In Ankara traf es den Dihaber-Journalisten Hayri Demir, in Adana wurde die HDP-Politikerin Suzan Kiliç bereits zum fünften Mal in vier Monaten festgenommen. Immer mehr türkische Staatsbürger_innen beantragen in Deutschland Asyl: Waren es 2016 insgesamt 5.700 Asylanträge, so zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seit Beginn des Jahres 2017 bereits mehr als 1.100. Weil ihr in der Türkei lebenslange Haft droht, verlängerte die HDP-Abgeordnete Tugba Hezer Öztürk ihre Dienstreise nach Deutschland. »13 unserer Abgeordneten sind inhaftiert, mehrere unserer Co-Bürgermeister sind inhaftiert und können sich nicht äußern zu den Sachen,... können überhaupt nicht zum Referendum sprechen«, sagte sie dem Deutschlandfunk. Zwischen dem 14. und 16. April, dem Tag des Referendums, treffen sich in Hamburg Studierende, Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen unterschiedlicher sozialer Bewegungen zu einem Kongress, um die Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung zu diskutieren. (Stand: 17. März 2017)