Aufgeblättert
Queer-Kritik
In ihrem neuen Sammelband thematisieren Patsy l'Amour laLove und 26 weitere Autor_innen gegenwärtige dogmatische und autoritäre Formen queerer Theoriebildung und aktivistischer Praxis aus unterschiedlichen Perspektiven. Die teils persönlich gehaltenen Erfahrungsberichte und teils eher theoretischen Texte spannen den Bogen von Schutzraum-, Trigger- und Privilegienkonzepten über das Verhältnis zum Islam und Antisemitismus bis hin zur konstatierten »antiemanzipativen Wende in der Queer Theory«. Kritisiert wird in den vielschichtigen Artikeln die Tilgung von Ambivalenz, die zur Überführung von komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen in ein widerspruchsfreies, simplifizierendes und personifiziertes Gut-und-Böse-Denken samt aktivistischer Kurzschlüsse führe. Der problematische Umgang mit Dissens sowie die Fetischisierung von Identität und die damit einhergehenden Ausgrenzungsmechanismen, die abweichende Meinungen vielfach autoritär zum Schweigen bringen wollen, sind gleichermaßen Thema. Queer könne nur dann eine Kritik an der heterosexuellen Normalität darstellen, wenn der Aktivismus sich nicht hauptsächlich in autoritären Verboten und entlang von Schuldzuweisungen manifestiere. Herausgeberin und Autor_innen dürften mit ihrer Kritik auf viel Gegenwind treffen, was diese umso wichtiger erscheinen lässt. Es ist zu hoffen, dass dieses mutige Buch zumindest bei einigen Leser_innen Reflexionsprozesse anstoßen kann.
Moritz Strickert
Patsy l'Amour laLove (Hg.): Beißreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag, Berlin 2017. 272 Seiten, 16,90 EUR.
Arbeit und Entwicklung
Max Henningers Buch »Armut, Arbeit und Entwicklung« enthält Texte, die seit 2009 erschienen sind. Der Einstieg ist den historischen Bezugspunkten gewidmet, auf die sich Henninger und die von ihm wesentlich geprägte Zeitschrift Sozial.Geschichte Online beziehen. Sehr lebendig wird dort die Geschichte des italienischen Operaismus nachgezeichnet. Drei Texte widmen sich unterschiedlichen Facetten der Frage nach der Geltung Marx'scher Kategorien. Deutlich wird Henningers Kritik an einem werttheoretischen Modell der Ausbeutung von Arbeit, das wichtige Formen von nicht als Lohnarbeit erscheinenden Tätigkeiten unberücksichtigt lässt. Dass Entwicklung bis heute mit Inwertsetzung gleichgesetzt wird, produziert nicht zuletzt auch blinde Flecken in den politischen Modellen, mit denen soziale Kämpfe erklärt und verallgemeinert werden. Auch die weiteren Texte des Bands stellen eine notwendige Revision linker Lieblingstheoretiker vor, so etwa die Kritik an der Krisentheorie von Engels. Im letzten Teil des Buchs versammeln sich schließlich Texte, die die Perspektive noch einmal erweitern - auf die Debatte zu Urbanisierung und Transnationalisierung sowie zu technologischen Revolutionen. Am Ende steht dann die Wiederentdeckung eines Textes des Situationisten Guy Debord. Das Buch ist eine Weltreise durch den Marxismus der 2000er Jahre, kombiniert mit einer profunden Kenntnis über theoretische Debatten. Es ist - geschrieben aus parteilicher Sicht - außerordentlich lesenswert.
Peter Birke
Max Henninger: Armut, Arbeit und Entwicklung. Politische Texte. Mandelbaum Verlag, Wien 2017. 292 Seiten, 16 EUR.
Alltagsmachtfragen
Das Erstlingswerk der Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski »Untenrum frei« trägt einerseits, wie schon von der Autorin gewohnt, polemische und bissige Züge zur Schau. Dennoch, etwas scheint hier anders zu sein: Stokowskis Werk ist persönlicher denn je. Was sich auf den ersten Blick wie eine lustige Reise in die Vergangenheit liest, wird im nächsten Moment ins Gegenteil verkehrt. Die Journalistin beschreibt Situationen, wie sie viele heranwachsende Mädchen der 1990er Jahre erlebt haben: Da ist der große Bruder mit dem Gameboy, den man auch immer haben wollte, aber nie bekommen hat. Dann später die bravoschwangeren, drogeriedaueraustestenden Teenagerjahre. Wie Stokowski von kleinen nostalgischen Anekdoten schreibt, so schreibt sie aber auch schonungslos von sexueller Gewalt und sich ritzenden Mädchen, die schon damals wussten, dass hier etwas gewaltig schief läuft. Etwas, das sie aber nicht benennen konnten. Stokowski schlägt geschickt den Bogen von diesen vielen kleinen und großen Erlebnissen, die zusammen ein Mosaik ergeben, hin zur Frage: Wie hängen diese persönlichen Erfahrungen mit den herrschenden Machtstrukturen zusammen? Bei der Lektüre berührt besonders, dass Stokowski so viel von sich selbst preisgibt. Die Autorin hat ein Buch geschrieben, das vor schmerzhafter Ehrlichkeit strotzt. Ein Versuch, sich von gedanklichen Konstrukten und Stereotypen freizumachen. Auch wenn es wehtut.
Melanie Schröder
Margarete Stokowski: Untenrum frei. Rowohlt Verlag, Berlin 2016. 252 Seiten, 19,95 EUR.
Duisburg-Marxloh
Marxloh, der Stadtteil im Norden Duisburgs, ist berüchtigt. Die meisten Menschen verbinden mit dem Namen islamische »Parallelgesellschaften« und »Ausländerkriminalität«. Ein Investigativjournalist ist dort hingezogen und hat sich umgesehen. Herausgekommen ist ein Buch, das zunächst durch die reißerische Aufmachung irritiert. Zum anderen überraschen die unterschiedlichen Textformen: Ich-Reportagen, Wortlaut-Interviews und Kommentartexte wechseln sich munter ab. Doch gerade dieses Unfertige erweist sich als größter Vorzug. Die Beiträge geben wenig vor und laden so zu eigenen Analysen ein. Bemerkenswert sind die unterschiedlichen Blickwinkel der Anwohner_innen auf ihren Stadtteil: Für den Rentner Willi ist es eine No-Go-Area, aus der er so schnell wie möglich wegziehen würde, wenn er es sich nur leisten könnte. Eine Blumenverkäuferin sieht in der von Brautmodegeschäften geprägten Weseler Straße einen perfekten Ort für ihren Laden. Für Dzanana macht Marxloh aus, dass niemand aufgrund seiner oder ihrer Abstammung diskriminiert, gemobbt oder gehasst wird. Und dann ist da noch Ahmed, der als »Gastarbeiter« bei Thyssen nur eine Zeit lang bleiben wollte, doch nun seit fast einem halben Jahrhundert in Marxloh lebt. Als Langzeitarbeitsloser hadert er heute mit seinen nicht genutzten Möglichkeiten. Für ihn ist Marxloh vor allem eines: eine Falle. Diese und viele andere Geschichten machen »Inside Duisburg-Marxloh« zu einem überraschend aufschlussreichen und bisweilen berührenden Buch.
Sebastian Friedrich
Franz Voll: Inside Duisburg-Marxloh. Ein Stadtteil zwischen Alltag und Angst. Orell Füssli, Zürich 2016. 224 Seiten, 17,95 EUR.