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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 625 / 21.3.2017

Zur Aktualität von James Baldwin

Kultur Der Film »I am Not Your Negro« widmet sich dem Werk des US-Autors. Warum das Revival gerade jetzt kommt

Von Dominique Haensell

Dass einer der größten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts im antiintellektuellen Klima dieser Tage wieder breiter rezipiert wird, ist erfreulich, aber auch verständlich. Neben aller Nostalgie für Radical Chic und Coolness der 1950er, wird James Baldwin besonders für seine geradezu prophetische beziehungsweise brandaktuelle Aussagekraft herangezogen. So auch im Oscar-nominierten Dokumentarfilm »I am Not Your Negro« von Raoul Peck, der historisches Filmmaterial über die Bürgerrechtsbewegung mit aktuellen Protestbildern zusammenschneidet, während Samuel L. Jackson aus Baldwins unveröffentlichtem Manuskript über die Biografien von Malcom X, Martin Luther King und Medgar Evars liest.

Vor wenigen Jahren wurde in den USA noch ernsthaft über den Anbruch einer postrassistischen Ära und das Ende von institutioneller Unterdrückung diskutiert. Um aber im Gegenteil Kontinuität aufzuzeigen, lag für viele Autor_innen und Aktivist_innen der Bezug auf Baldwin nahe. Im letzten Jahr erschien beispielsweise die von Jesmyn Ward herausgegebene Essaykollektion »The Fire This Time«, in der »eine neue Generation« über race spricht und sich nicht nur im Titel an Baldwins ernüchterter Gesellschaftsanalyse von 1963, »The Fire Next Time« (deutscher Titel »Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung«), orientiert.

Feinsinniger Beobachter, mehrfacher Außenseiter

Dabei war der 1924 in New York City geborene Baldwin in vielerlei Hinsicht ein unwahrscheinlicher Kandidat, um zum Sprachrohr einer Bewegung zu werden. Baldwin ist Einzelgänger, notorisch skeptisch gegenüber Kollektiven, seine Beobachtungen sind sensibel für menschliche Widersprüche und übersetzen sich schwer in politische Parolen. Schon früh entflieht er dem rassistischen Alltagsterror in den USA, verbringt einen Großteil seines erwachsenen Lebens in Europa, vor allem in Paris. Erst mit Beginn der Bürgerrechtsbewegung empfindet er es als seine Pflicht, zurückzukehren und Zeugnis abzulegen. Er reist durch den amerikanischen Süden, freundet sich mit Civil Rights Leadern an, trifft sich mit Robert Kennedy. Bald bezeichnet die Presse ihn als wichtigsten Kritiker US-amerikanischer race relations.

Baldwins Perspektive ist die des feinsinnigen Beobachters, aber auch die des mehrfachen Außenseiters. Er blickt einerseits als Autor im Exil auf die USA, seine Fernanalysen sind klar und pointiert. Vor allem aber ist sein Blick der eines westlichen Schwarzen Mannes, der sich immer zugleich mit den Augen der weißen Mehrheitsgesellschaft wahrnehmen muss. Anhand dieser Art der distanzierten Selbstwahrnehmung, die der Soziologe W.E.B. DuBois Anfang des 20. Jahrhunderts als double-consciousness beschrieb, formuliert Baldwin seine Einsichten in das soziale Gefüge der USA. Die Essaybände »Notes of A Native Son« und »Nobody Knows My Name« widmen sich größtenteils dem, was in jenen Tagen noch verschleiernd »Negro Problem« genannt, von Baldwin aber bereits als Grundstruktur amerikanischen Lebens identifiziert wird. Der brillante Essayist Baldwin, der sich nie vereinnahmen lassen, auf keinen Fall zum race-Repräsentanten werden will, ist dabei aber kein Soziologe, auch kein Politiker oder Aktivist, sondern vor allem Schriftsteller. In seinen literarischen Texten sprengt Baldwin den soziologischen Rahmen, beleuchtet komplexe Innenleben. So wundert es nicht, dass ein Roman wie »Another Country« oder eine Kurzgeschichte wie »Sonny's Blues« zeitlose Meisterwerke sind. Dass aber seine politischen Essays noch heute den Nerv der Zeit treffen, ist geradezu tragisch.

Gespräch zwischen Männern

Blickt man via Baldwin zurück auf ein halbes Jahrhundert Widerstand, stellt sich der Status Quo je nach Perspektive als Fortschritt oder grausame Wiederkehr dar - allerdings als Wiederholung in und durch Veränderung. So gibt es natürlich Unterschiede zwischen James Baldwin und dem als seienn geistigen Nachfolger gepriesenen Autor Ta-Nehisi Coates, auch wenn sich letzterer nicht nur in Form und Inhalt seines 2015 erschienenem »Zwischen mir und der Welt« auf Baldwin bezieht. Ähnlich wie in »The Fire Next Time« richtet sich Coates in Briefform an seinen männlichen Nachkommen (dort ein Neffe, hier ein Sohn), um resigniert über den Nicht-Fortschritt zu resümieren. In beiden Fällen stellt sich Schwarzes Bewusstsein als etwas dar, das von Männern an Männer weitergegeben wird. Und auch die drei Männer, über die Baldwin in der textlichen Vorlage für »I Am Not Your Negro« schreibt und deren Leben Raoul Pecks Dokumentation strukturieren, werden gern als race men gelesen - also einzelne, herausragende Männer, die sich explizit auf ihr Schwarzsein beziehen und darin verallgemeinert werden. Die Theoretikern Hazel Carby kritisiert, dass auf diese Weise ein bestimmter Typ von Männlichkeit zum Repräsentanten für das ganze Schwarze Amerika gemacht wird.

Aufschlussreich ist auch eine drei Jahre vor Baldwins Tod 1987 im Essence Magazine veröffentlichte wunderbare Unterhaltung zwischen James Baldwin und der feministischen Autorin Audre Lorde. Baldwin, der offen schwul war und sicher alles andere als Black Power Machismo verkörperte, beweist in diesem Gespräch erstaunlich wenig Sinn für die komplexen Verschränkungen von race und gender, die heute unter dem Begriff der Intersektionalität verhandelt werden. Die markantesten Marker des heutigen US-amerikanischen Rassismus mögen die Ermordungen junger Männer wie Michael Brown oder Trayvon Martin sein, die wichtigste aktuelle Widerstandsbewegung, Black Lives Matter, wurde von drei Frauen gegründet und wäre ohne Schwarzen Feminismus nicht denkbar. Der feine Unterschied also, in dem sich Geschichte heute wiederholt, erschließt sich vielleicht am besten so: Baldwin lesen, Lorde lesen.

Dominique Haensell ist Literaturwissenschaftlerin und Journalistin. Sie schrieb in ak 620 über unsolidarische Kritik an antirassistischen »Identitätspolitiken«.