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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 625 / 21.3.2017

Sechs Jahre Krieg

International Im März 2011 begann der Konflikt in Syrien - zuletzt haben sich die Fronten und Koalitionen vor allem in Nordsyrien massiv verschoben

Von Bikoret Khatira

Die letzten Monate brachten vor allem im Norden Syriens einschneidende Veränderungen. Das Herrschaftsgebiet der IS-Miliz steht vor der Zerschlagung, Salafisten kontrollieren de facto die Provinz Idlib, nach dem Iran und Russland setzen nun auch die Türkei und die USA in größerem Stil Bodentruppen an der Seite lokaler Milizen ein. Es geht um territoriale Einflusszonen, geostrategische Interessen und internationale Politik.

Vor genau sechs Jahren, im März 2011, begann der Konflikt in Syrien mit Protestdemonstrationen, auf die das Regime von Präsident Bashar al-Assad mit massiver Gewalt reagierte. Ein Gemenge politischer und sozioökonomischer Faktoren löste den Konflikt aus und bestimmte seinen Verlauf. (ak 622) Inzwischen zeitigt der Krieg in Syrien, in den regionale und internationale Akteure eingriffen, globale Auswirkungen. Die Zerschlagung der aufständischen Enklave Ost-Aleppo zwischen Juli und Dezember 2016 war die entscheidendste Zäsur der letzten Jahre, seitdem beobachten wir neue Koalitionen und Frontlinien.

Russland führt seit Ende 2015 nicht nur den Luftkrieg an, russische Berater forcieren auch erzwungene Verhandlungslösungen, bei denen Aufständischen, die in Kesselzonen und durch intensive Bombardements massiv unter Druck gesetzt werden, die »Evakuierung« angeboten wird. Kämpfern und ihren Familienangehörigen wird dabei freies Geleit garantiert - gen Norden in die Provinz Idlib. An wenigen Orten wurden unter russischer Vermittlung auch sogenannte »Versöhnungsprozesse« durchgeführt, bei denen Kämpfer »bereuten«, sich unterwarfen und »reintegriert« wurden. Wie das Regime wirklich mit ihnen verfährt, ist noch nicht abzusehen. Nach und nach bündeln regimetreue Truppen nun ihre Kräfte zu Angriffen auf einzelne Gebiete und erzwingen dort Evakuierungen. So sollen alle, die seit 2011 irgendwie militant oder aktivistisch gegen das syrische Regime aktiv waren, aus seinem Kernterritorium vertrieben werden.

Oppositionelle Kämpfer und Aktivist_innen werden so in die von mächtigen Islamistenmilizen beherrschten Gebiete gezwungen, insbesondere die Aktivist_innen oft auch ins Exil in die Türkei und nach Europa. Diese Taktik zielt darauf, ein konsolidiertes, zusammenhängendes Regimegebiet zu schaffen und gegnerische Kombattanten in Idlib zu konzentrieren. Eine Win-Win-Situation, denn nicht nur werden die Reste nicht-islamistischer oppositioneller Militanz von Salafisten und Dschihadisten zerrieben, zudem stehen das Regime und Russland am Ende des Prozesses an vorderster Front des internationalen »Kampfes gegen den Terror«. Gemeinsam mit der internationalen Koalition können sie die Provinz Idlib bombardieren, die mittlerweile vom al-Qaida-nahen Verband Tahrir al-Sham dominiert wird.

Schon heute leiden und sterben Zivilist_innen in der Provinz unter fast täglichen Bombardements der russischen und syrischen Luftwaffe. Der Großteil der etwa 4.000 Kämpfer, die bei der »Evakuierung« Ost-Aleppos zusammen mit knapp 10.000 Zivilist_innen gen Norden gelangten, hat sich mittlerweile in Idlib reorganisiert bzw. den konkurrierenden Milizenverbänden Tahrir al-Sham oder Ahrar al-Sham oder denjenigen Verbänden angeschlossen, die von der Türkei in die Operation »Schutzschild Euphrat« eingebunden wurden. Die Türkei hatte das Ende der Enklave - wohl im Gegenzug für die russische Akzeptanz eines türkischen Einmarsches in Nordsyrien - offensichtlich abgenickt und die Evakuierung mit forciert. Die Massierung der Kämpfer an ihrer Grenze war in ihrem Sinne, konnten sie doch so direkt gegen den IS und den erklärten Hauptfeind der Türkei, die PKK-nahe kurdische Partei der demokratischen Union (PYD), eingebunden werden. Die PYD dominiert die föderalistische Regionalverwaltung Nordsyriens. Diese umfasst demokratische Ratselemente und ist interkonfessionell und ethnisch inklusiv - neben Kurd_innen sind Araber_innen, Turkmen_innen, Tscherkess_innen und andere Minderheitenvertreter_innen in die Verwaltungsstruktur eingebunden. Zwei Elemente, die sich weder in den vom Regime noch den von islamistischen Milizen kontrollierten Gebieten finden. Dennoch regiert die PYD zunehmend autoritär und zeigt wenig Toleranz für offene Opposition.

Der türkische »Schutzschild Euphrat«

Am 24. August 2016 begann die Militäroperation der Türkischen Streitkräfte und verschiedener unter dem Label der Freien Syrischen Armee (FSA) operierender Milizen im Norden der Provinz Aleppo. Der 24. August war der 500. Jahrestag der Schlacht von Marj Dabiq im Norden Aleppos, bei der im Jahr 1516 das Osmanische Reich den Sieg über die Mamluken errang, denen es Unterstützung des persischen Schahs, des schiitischen Safawiden Ismail I., vorwarf - eine interessante Datumswahl der geschichtsbewussten türkischen Führung, insbesondere angesichts der sunnitisch-islamistischen Rhetorik vom Kampf gegen den »safawidischen« Iran und das von ihm gestützte Assad-Regime.

Die türkische Armee rückte über die Stadt Jarablus nach Syrien vor, begleitet von »sunnitisch-arabischen« und »turkmenischen« Milizenverbänden unter dem Banner der FSA, die seit langem von der Türkei unterstützt und auch von US-Stellen, insbesondere der CIA, ausgerüstet werden. Das Label »FSA« ist problematisch, da in der Realität an den Fronten keine kohärente »FSA« existiert. Es existieren verschiedene Milizen und Koalitionen, die unter diesem Label operieren. Diese sind meist lokal verwurzelt und setzen sich vor allem aus Deserteuren und Zivilisten, die zu den Waffen gegriffen haben, zusammen. Der ideologische Rahmen ist national definiert, unter dem FSA-Label operieren keine salafistischen und dschihadistischen Milizen.

Da die Türkei ein Interesse an der öffentlichen Darstellung eines kohärenten Kampfverbandes hat, wird die gesamte Operation als »FSA-Operation« bezeichnet. Doch mit eingebunden wurden auch andere Milizen, von denen einige der salafistischen Ahrar-al-Sham-Bewegung nahestehen. Die meisten Milizen waren bzw. sind auch im »Hawar Kilis Operations Room« organisiert, der seit dem Frühjahr 2016 von türkischen Geheimdienst- und Militärstellen zusammen mit der CIA betreut wird. Das Verhältnis zwischen der Türkei, den USA und den verschiedenen Milizen, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Ablehnung des Assad-Regimes und des IS ist, kann dabei bestenfalls als angespannt und widersprüchlich bezeichnet werden. Nicht nur konkurrieren viele der Milizen untereinander, etwa um materielle Pfründe, türkische Stellen und Proxymilizen sabotieren auch immer wieder Projekte der CIA bzw. US-gestützter Milizen.

Im letzten halben Jahr eroberten türkische Soldaten und syrische Milizionäre im Rahmen der Operation die Gebiete um Jarablus, Azaz und Al-Bab. Die Eroberung Al-Babs, zuvor ein wichtiger infrastruktureller und wirtschaftlicher Knotenpunkt in Nordsyrien, vom IS dauerte allerdings mehr als drei Monate. Sie war überaus verlustreich für Milizen und türkische Spezialeinheiten, noch mehr allerdings für in der Stadt gefangene Zivilist_innen, von denen Hunderte bei türkischen, aber auch russischen und US-Bombardements getötet wurden. In Jarablus und Azaz installierte die Türkei in den letzten Monaten lokale Verwaltungen und setzte Polizeikräfte ein, die von der Türkei ausgestattet und trainiert wurden. Die Polizeischilde tragen türkische Schrift, in den Schulen wird türkisches Lehrmaterial eingesetzt. In den ländlichen Gebieten ist die Versorgung jedoch schlecht, und verschiedene Milizen konkurrieren um Schutzgelder und Straßenzölle. In den Städten demonstrierten Zivilist_innen bereits mehrfach gegen die Präsenz Bewaffneter.

Anlass der Operation »Schutzschild Euphrat« war die drohende Kontrolle der Grenzgebiete durch die PYD und ihre »Volksverteidigungseinheiten« (YPG), die auch die Unterstützung der USA genießen. Immer wieder hatten türkische Regierungsvertreter diese vor einem Überschreiten des Euphrat gewarnt, also vor dem Versuch, die kurdischen Kantone Kobane und Cizîrê im Rahmen der föderalistischen »Selbstverwaltung« der PYD mit dem Kanton Efrîn im Nordwesten Syriens zu verbinden. Dass die YPG und die von ihnen dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nach einer verlustreichen Schlacht gegen den IS in Manbij einrückten und westlich des Flusses standen, löste Mitte 2016 dann den Einmarsch aus - mit dem eindeutigen Namen »Schutzschild Euphrat«.

Manbij, Raqqa und die Interessen der Großmächte

Die Türkei hatte ursprünglich eine Fortsetzung ihrer Offensive gegen den Kanton Efrîn im Westen und die Präsenz der YPG und SDF westlich des Euphrats geplant, im Rahmen ihres Kampfes »gegen den Terror« der PKK. Doch das Erdogan-Regime verschätzte sich. Nach der Vertreibung des IS aus dem Dreieck Jarablus-Azaz-Al-Bab bremsten Russland und die USA die Angriffe der türkischen Kräfte und der Milizen des »Schutzschildes Euphrat« gegen Stellungen der SDF und der YPG schnell aus. In den letzten Wochen rückten Militärkolonnen der russischen wie der US-Streitkräfte mit demonstrativ wehenden Flaggen ins Gebiet Manbij ein, dessen Grenzstreifen in Richtung türkischer Pufferzone von den SDF zudem an ein kleines syrisches Armeekontingent übergeben wurde - eine völlig neue Gelegenheitskoalition und ein deutliches Zeichen Russlands und der USA in Richtung Türkei. Wie lange dieser Schutz für die SDF anhält, und was das Schicksal der Enklave Efrîn sein wird, die in einem Kuhhandel an die Türkei gehen könnte, ist völlig unklar, ebenso die Zukunft der in die Operation eingebundenen Milizen. Immerhin sucht Russland langfristig den Einfluss der USA zu sabotieren und die Türkei an sich zu binden, und die Türkei hat mehrfach deutlich gemacht, auch mit Russland und dem Iran koalieren zu wollen, solange sie eigene Ziele damit erreichen kann.

Die USA sind auf die Kampagne gegen den IS fixiert und koalieren mit jedem, der diesen bekämpft. In Syrien setzen sie dabei seit dem Kampf um Kobane vor allem auf die schlagkräftigen YPG und die von ihr dominierten SDF, auch wenn die CIA zuletzt mehrere FSA-Milizen unterstützte, die letztlich auch die YPG bekämpfen. In den letzten Monaten der Obama-Administration war dementsprechend unter führender Beteiligung des Pentagons ein Plan für die Eroberung der letzten syrischen IS-Bastion Raqqa ausgearbeitet worden, der die weitere Aufrüstung der YPG und arabischer SDF-Milizen und den Sturm Raqqas durch Kampfeinheiten der YPG sowie US-Spezialkräfte vorsah. Durch Lobbyarbeit der Türkei, die u.a. - wie auch Russland - den mittlerweile zurückgetretenen ersten Nationalen Sicherheitsberater Donald Trumps, Michael Flynn bezahlte, wurde der Plan von der neuen Administration zunächst abgelehnt, um schließlich mangels Alternativen doch aktiviert zu werden. Russland hat zwar ein Interesse an der Einnahme Raqqas durch das Regime. Assads Truppen und loyalistische Milizen sind jedoch weit von Raqqa entfernt, an diversen Fronten unter Druck und zu einer Offensive nicht in der Lage. Zugleich ist Russland durchaus zu Deals mit der PYD bereit. Deren Milizen sind jedoch untrennbar mit dem größten Widersacher Russlands in der Region, den USA, verbunden, welche YPG und SDF ausrüsten, trainieren und mit »embedded forces« unterstützen. Im Bau befindliche US-Basen verweisen zudem darauf, dass die USA eine permanente Präsenz aufbauen, weshalb sie wenig Interesse am Auswechseln ihrer Proxies haben dürften. Eventuell kommt es - wie in Mosul - zum gleichzeitigen Vorgehen von US-Spezialkräften, »kurdischen Milizen« und SDF einerseits und loyalistischen syrischen, libanesischen, irakischen und iranischen Kombattanten andererseits aus zwei verschiedenen Richtungen, unterstützt von russischen und US-Luftschlägen.

Die Türkei erklärte zuletzt immer wieder ihr Vorhaben, Raqqa mit den Verbänden der Operation »Schutzschild Euphrat« anzugreifen. Doch die USA trauen diesen keinen Erfolg zu und wollen die SDF nicht zugunsten der Türkei fallen lassen; Russland würde eine Offensive aufständischer Assad-feindlicher Verbündeter der Türkei nicht akzeptieren. Iran und die Hizbollah warten ebenfalls ab - sie haben an der Wüste kein Interesse. Einige Male ließ Russland zuletzt iranische Proxymilizen ins Feuer laufen - an iranischen Höhenflügen hat wiederum Russland kein Interesse. Zugleich weiß Russland, dass weder Erfolge gegen den IS noch die Stabilisierung des Regimeterritoriums ohne die iranischen Militärs und die motivierten Milizionäre möglich sind, aus deren Reihen bereits über 7.000 Kämpfer gefallen sind. An Stabilität aber ist Russland interessiert. Zur Erweiterung seiner Marinebasis in Tartus läuft gerade ein Großbauprojekt. Das Zugeständnis an Israel, dass es Waffentransporte und -lager angreifen kann, die für die Hizbollah bestimmt sind, während unmittelbar in syrisch-russische Militäraktionen eingebundene Kräfte Tabu sind, verdeutlicht die pragmatische russische Linie.

Angesichts der Ausrufung der ersten mehrheitlich arabischen lokalen Selbstverwaltung - der »demokratischen Verwaltung von Manbij und Umgebung« - Mitte März, unter dem Schutz der russischen und US-Armee, muss die Türkei umdisponieren. Sie wird sich in Nordsyrien festsetzen und erhöht den Druck nun anderswo. Das autoritäre Barzani-Regime der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, deren wichtigster Handelspartner die Türkei ist, mobilisierte zuletzt Peshmerga-Einheiten aus Syrien und dem Irak gegen im Sinjargebiet stationierte PKK-nahe Milizionäre - eine Eskalation könnte zu bürgerkriegsartigen Kämpfen führen. Barzanis Peshmerga sind von den USA, aber auch von Deutschland ausgerüstet und ausgebildet worden, zuletzt aber vor allem von der Türkei, die auf irakischem Gebiet mit dem Segen der USA regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen fliegt. Die PKK-nahen Milizen reagieren wiederum mit dem Ausbau der Beziehungen zu iranischen Proxymilizen im Irak, die in Syrien an der Seite Assads kämpfen und im Irak, hier wiederum unterstützt von den USA, alle Fronten dominieren. Allerorten wird gepokert, und die verschiedenen Koalitionen sind zumeist reine Zweckbündnisse. Am Ende kämpft jeder für sich, und jeder gegen jeden.

Bikoret Khatira ist ein Blogprojekt, das Informationen und Hintergründe zu Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten verfügbar macht. In ak 622 schrieb die Gruppe über die Bedingungen, die zum »Syrischen Frühling« und von dort in den Bürgerkrieg führten. bikoretkhatira.wordpress.com