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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 626 / 18.4.2017

Mehr als ein Zeitzeuge

Geschichte Primo Levis Werk vermittelt tiefe Einsichten in die Funktionsweise des NS-Gewaltsystems

Von Jens Renner

Vor 30 Jahren, am 11. April 1987, starb der italienische Schriftsteller Primo Levi. In seinem Turiner Wohnhaus stürzte er von der dritten Etage in den Treppenschacht. Da er keinen Abschiedsbrief hinterließ, war in Nachrufen von einer »depressiven Kurzschlusshandlung« die Rede. Weggefährt_innen glaubten an einen Unfall. Levi hatte Auschwitz überlebt und sich bis zu seinem Tod mit der Shoah auseinandergesetzt, in vielen Büchern, Interviews und Zeitungsartikeln, aber auch als Zeitzeuge in Schulen und Universitäten. Seine politische Botschaft, die er stellvertretend für andere Überlebende formulierte, lautete: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.«

Primo Levi, am 31. Juli 1919 in Turin geboren, entstammte einer liberalen jüdischen Familie. Sein Chemiestudium an der Universität Turin schloss er im Juli 1941 mit der Promotion ab. Trotz der 1938 erlassenen antisemitischen »Rassengesetze« konnte er eine Zeitlang als Chemiker arbeiten. Nach Mussolinis Sturz im Juli 1943 schloss die Regierung Badoglio im September 1943 ein Waffenstillstandsabkommen mit den Westalliierten, und deutsche Truppen besetzten blitzartig das Land. Primo Levi schloss sich einer bewaffneten Widerstandsgruppe an, die aber schon im Dezember 1943 zerschlagen wurde. Die faschistische Miliz nahm Levi gefangen und internierte ihn in einem Sammellager, das später der SS übergeben wurde.

Im Februar 1944 wurde Primo Levi nach Auschwitz deportiert. Er gehörte zu den wenigen, die das Lager überlebten - aufgrund einer Reihe von Zufällen und glücklichen Umständen: Als Chemiker war er aus Sicht der Deutschen »nützlich« für die Arbeit im Labor der IG Farben; mit seinem Freund Alberto Dallavolta teilte er durch Handel erworbene zusätzliche Nahrungsmittel, und dank seiner Deutschkenntnisse fand er sich in der brutalen Welt des Lagers besser zurecht als andere. Als Auschwitz im Januar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert wurde, war er an Scharlach erkrankt und wurde mit den anderen Kranken zurückgelassen; die auf Todesmärsche getriebenen Mitgefangenen starben fast alle. Am 27. Januar 1945 erreichten die sowjetischen Soldaten Auschwitz. Primo Levi gelangte auf Umwegen über Weißrussland, die Ukraine, Rumänien und Ungarn zurück nach Italien. Erst am 19. Oktober 1945 erreichte er Turin: »Das Haus stand, alle Familienangehörigen lebten, niemand hatte mich erwartet.«

Ist das ein Mensch?

Den Traum von seiner Rettung hatte er in Auschwitz oft geträumt: »Ein intensives, körperliches, unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause und mitten unter befreundeten Menschen zu sein und über so vieles berichten zu können. Und doch, es ist nicht zu übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen.« Dieser Traum erwies sich nun als ziemlich realistisch. Levi ließ sich davon aber nicht entmutigen, sondern »erzählte mündlich und schriftlich so viel, dass es mir schwindelte und dass allmählich ein Buch daraus entstand«. Schon im Januar 1946 beendete er »Se questo è un uomo« (deutsch: »Ist das ein Mensch?«), das 1947 in einer Auflage von 2.500 Exemplaren gedruckt wurde.

Dieses, sein bekanntestes und wichtigstes Werk, beginnt wie ein Bericht: »Am 13. Dezember 1943 wurde ich von der faschistischen Miliz festgenommen.« Als Partisan werde er sofort an die Wand gestellt, als Jude aber bis Kriegsende interniert, versichern die Faschisten. Levi gibt sich als Jude zu erkennen, »teils aus Müdigkeit, teils aus unvernünftig stolzem Aufbegehren«. Er wird in das Sammellager Carpi bei Modena gebracht, das wenig später der SS übergeben wird. Am 22. Februar 1944 werden alle inhaftierten Juden - Männer, Frauen und Kinder - deportiert: 650 »Stück«, wie der zuständige SS-Mann nach dem Zählappell an seinen Vorgesetzten meldet. Nach der qualvollen, fünf Tage dauernden Fahrt im überfüllten Güterwaggon folgt in Auschwitz die erste Selektion. 96 Männer und 29 Frauen des Transports werden für geeignet befunden, eine Zeitlang »zum Nutzen des Reiches zu arbeiten«. Die übrigen Menschen, mehr als 500, werden innerhalb von zwei Tagen ermordet. Von den 45 Menschen in Primo Levis Waggon kehren nur vier zurück.

Der Anblick der ersten uniformierten Häftlinge macht den Neuankömmlingen klar, was sie erwartet. Schon am nächsten Tag »sind wir in ebensolche Gespenster verwandelt, wie wir sie gestern Abend gesehen haben«. Primo Levi kommt nach Monowitz, sieben Kilometer entfernt vom Stammlager Auschwitz. Dort lässt die IG Farben Zwangsarbeiter eine Chemiefabrik errichten, die Buna-Werke, in denen synthetischer Gummi hergestellt werden soll (was bis Kriegsende nicht gelingt). Buna heißt auch das »Arbeitslager«, das für die allermeisten Jüdinnen und Juden nur eine Zwischenstation ist auf dem Weg in die Gaskammer von Auschwitz-Birkenau.

Essen wird für die schwer arbeitenden Gefangenen zum Lebenszweck. Denn »das Lager ist der Hunger. Wir selber sind der Hunger, der lebende Hunger.« Um bei den Selektionen nicht als zu schwach aussortiert zu werden, müssen die Gefangenen sich zusätzliche Rationen der völlig unzureichenden Verpflegung (vor allem Brot und Suppe) verschaffen: durch Diebstahl oder durch »Handel«. Primo Levi stiehlt »alles, außer dem Brot meiner Gefährten«. Die »Neuen« im Lager müssen schnellstens lernen, dass sich auch scheinbar wertlose Gegenstände eintauschen lassen - und dass auch alles gestohlen werden kann. Sie müssen lernen, »jawohl« zu sagen und die Frage »warum?« zu vergessen: »An diesem Ort ist alles verboten; nicht aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen, sondern weil das Lager zu diesem Zweck erschaffen wurde. Wenn wir darin leben wollen, müssen wir das rasch und gut lernen.«

Erst 14 Jahre nach der Fertigstellung von »Ist das ein Mensch?« begann Primo Levi, die Geschichte seiner Befreiung fortzuschreiben. »La tregua« (deutsch: »Die Atempause«) behandelt die neun Monate bis zu seiner Rückkehr nach Turin. Es ist ein über weite Strecken heiteres Buch voller Anekdoten über Schwarzhandel und Gaunereien der Versprengten, über Bürokratie und Schlendrian der sowjetischen Verwaltung. Im Nachhinein war Primo Levi sogar dankbar für die lange Zeitspanne bis zur Heimkehr: »Die eben verlebten Monate am Rande der Zivilisation erschienen uns jetzt, obgleich hart, eine Atempause gewesen zu sein, eine Zeitspanne zu unserer eigenen grenzenlosen Verfügbarkeit, ein gnädiges, aber unwiederholbares Geschenk des Schicksals.«

Aber auch nach der Atempause blieb das Grauen des Lagers gegenwärtig. Das vergleichsweise optimistische Buch endet mit der Schilderung eines »bald häufiger, dann wieder seltener« geträumten Albtraums: »Ich bin wieder im Lager ... Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft, das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehn, Wstawac.«

Die Untergegangenen und die Geretteten

Ein Kapitel in »Ist das ein Mensch?« trägt die Überschrift »Die Untergegangenen und die Geretteten«. Im Sommer 1986 veröffentlichte Primo Levi ein Buch gleichen Titels. Noch einmal geht es um Auschwitz, die Erinnerung daran, die zu ziehenden Lehren.

Levi widerspricht der verbreiteten These, der Nationalsozialismus sei ein »Ausbruch kollektiven Wahnsinns« gewesen. Nicht nur dessen politisches Ziel, auch die eingesetzten Mittel seien zwar »verabscheuungswürdig, aber nicht wahnsinnig« gewesen. Das gelte selbst für die scheinbar sinnlose Gewalt, der die KZ-Häftlinge tagtäglich ausgesetzt waren. Als Beispiele nennt er die Transporte in den Güterwaggons; der »Beleidigung des Schamgefühls« schon während der Fahrt folgte die »öffentliche und allgemeine Nacktheit« im Lager, »ein ständig wiederkehrender typischer Zustand«; die »absichtliche Demütigung« dadurch, dass den Gefangenen sogar Löffel vorenthalten wurden; die scheinbar sinnlose »inhaltslose, rituelle Zeremonie« der Zählappelle; das schikanöse Ritual des »Bettenbauens« innerhalb von zwei Minuten und vieles mehr. »Alle diese Leiden«, schreibt Levi, »waren die Abhandlung eines Themas, nämlich das des vermeintlichen Rechts des Volks der Übermenschen, das Volk der Untermenschen zu knechten oder auszurotten.«

In diesem Terrorsystem war an Widerstand nicht zu denken. Und auch nicht an Solidarität: Wer überleben wollte, musste versuchen, in die Gruppe der »Privilegierten« aufzusteigen. Primo Levi zieht einerseits einen klaren Trennungsstrich zwischen Tätern und Opfern; er zeigt aber auch die Problematik der »Grauzone«, wo die »Privilegierten« selbst schuldig wurden. Einen Grenzfall sieht er in den Häftlingen der Sonderkommandos, die in den Gaskammern und Krematorien arbeiteten. Ihre Geschichte solle »sowohl mitfühlend als auch streng« überdacht werden, »jedoch das Urteil über sie in der Schwebe« bleiben.

Während die Täter ihre Schuld verdrängen, verkleinern oder ganz leugnen, leben die wenigen »geretteten« Opfer mit einer unheilbaren Verletzung weiter. Fast alle fühlen sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, auch Primo Levi, der Jahrzehnte nach seiner Befreiung an eine winzige Menge Trinkwasser denkt, die er zwar mit seinem Freund Alberto, nicht aber mit Daniele geteilt hat. Zwar weiß Primo Levi, dass er aufgrund einer »Häufung glücklicher Umstände« mit dem Leben davon gekommen ist; gleichzeitig aber quält ihn der Gedanke: »Ich könnte an Stelle eines anderen leben, auf Kosten eines anderen; ich könnte jemanden verdrängt, und das heißt de facto, getötet haben.«

Moralische Pflicht

Zu diesem Schuldgefühl kam am Ende seines Lebens eine große politische Enttäuschung hinzu. 1986 löste Ernst Nolte mit seiner abstrusen These vom »bolschewistischen Klassenmord« als Ursache für den »nationalsozialistischen Rassenmord« den bundesdeutschen Historikerstreit aus; die FAZ als wichtigste unter den »seriösen« Zeitungen hatte ihm dafür Raum gegeben. Gegen die Versuche, »die Massaker der Nazis zu banalisieren«, protestierte Levi in einem längeren Artikel, der am 22. Januar 1987 in der Turiner Tageszeitung La Stampa erschien. Spürbar ist darin das - auch von anderen Shoah-Überlebenden geteilte - Gefühl, trotz aller Anstrengungen am Ende nur wenig bewirkt zu haben.

Zwei Monate zuvor, im November 1986, hatte Primo Levi seine letzte öffentliche Rede gehalten: »Die Pflicht Zeugnis abzulegen«. Er sei skeptisch gewesen, ob er die vielen jungen Leute im Publikum mit seiner Botschaft erreichen könne, schreibt seine Biografin Myriam Anissimov. (1) Die Rede endet mit den Sätzen: »Wir, die Überlebenden, sind Zeugen, und jeder Zeuge ist - sogar gesetzlich - gehalten, vollständig und wahrheitsgetreu auszusagen. Es handelt sich für uns um eine moralische Pflicht. Weil unsere schon immer kleine Gruppe immer kleiner wird.« Vor 30 Jahren hat Primo Levi diese Gruppe verlassen. Seine Bücher sind geblieben. Sie zu lesen, ist die moralische Pflicht der Nachgeborenen.

Anmerkung:

1) Myriam Anissimov: Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Berlin 1999.

Weitere Bücher von Primo Levi

Ein weiteres autobiografisches Buch neben »Ist das ein Mensch?« und »Die Atempause« ist »Das periodische System«, eine 1975 erschienene Sammlung von 21 Erzählungen. In dem Roman »Wann, wenn nicht jetzt?« (1982) würdigt Levi den Widerstand jüdischer Partisan_innen in der Sowjetunion. Kürzlich erschienen »So war Auschwitz« und der Interviewband »Ich, der ich zu Euch spreche«.