Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 626 / 18.4.2017

Und was ist mit Klassenkampf?

International Statt auf einen sozialistischen Staat setzt die Autonomiebewegung in Rojava auf Selbstverwaltung und Kooperativen

Von Anselm Schindler

»Hevgirtin« nennt sich die größte Kooperative im mehrheitlich von Kurd_innen besiedelten nordsyrischen Rojava. Hevgirtin bedeutet übersetzt so viel wie »Zusammenkommen«. Die Kooperative hat rund 10.000 Mitglieder, vor allem aus dem Handels- und Vertriebssektor, und eröffnet derzeit an möglichst vielen Orten »Volksmärkte«, an denen die Bevölkerung preiswert erhalten soll, was sie zum Leben braucht.

Auch wenn Hevgirtin darauf achtet, möglichst viel von Betrieben zu kaufen, die ebenfalls genossenschaftlich organisiert sind, existiert parallel zum genossenschaftlichen System auch die kalte Logik des Marktes - und wie in allen Kriegs- und Krisenregionen blüht auch in Rojava der Schwarzmarkt. Privateigentum und kapitalistische Verwertung sind noch lange nicht überwunden. Das bringt der apoistischen (1) Bewegung gerade aus marxistischen Kreisen oft den Vorwurf ein, die eigenen Ideale zu verraten.

Als die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, 1978 auf den Plan trat, waren die Ziele klar abgesteckt. In marxistisch-leninistischer Manier sollte der bürgerliche türkische Staat gestürzt werden, an seine Stelle sollte in den kurdischen Gebieten der Türkei ein sozialistischer, kurdischer Nationalstaat treten. Der Klassenkampf war neben der Verteidigung der kurdischen Identität und der Frauenbefreiung der wichtigste Programmpunkt der PKK. Heute hat die apoistische Bewegung Rojava und darüber hinaus weite Landstriche erst von der Unterdrückung Assads, dann vom Terror dschihadistischer Banden befreit - und die Praxis hat sich gegenüber dem Programm von vor 40 Jahren verändert. Seit die Kader_innen der PKK ab 2005 einen Prozess anstießen, der unter dem Begriff Paradigmenwechsel (2) in die Geschichte der Autonomiebewegung eingegangen ist, will man vom Nationalstaat nichts mehr wissen. Mit der geschärften Kritik am Staat an sich ging auch eine Abkehr vom Modell staatlicher Planwirtschaft einher.

Konföderalismus statt Klassenkampf?

Föderation Nordsyrien - so bezeichnet die Bewegung um die Partei der Demokratischen Union (PYD) das von den kurdisch-arabischen Einheiten erkämpfte Gebiet. Es umfasst längst nicht mehr nur kurdische Siedlungsgebiete. Mit dem Vormarsch auf die »IS-Hauptstadt« Raqqa weitet sich die nordsyrische Föderation in die mehrheitlich arabischen Provinzen weiter südlich aus. Und auch wenn es, den Umständen des Krieges und der Diplomatie in einer Welt der Nationalstaaten geschuldet, eine Übergangsregierung gibt, werden die Entscheidungen über alle Lebensbereiche vor Ort von der Bevölkerung an die Dorf- und Stadtteilräte und, wenn nötig, von dort weiter an die nächstgrößeren Räte delegiert.

Der Staat sollte auch in den marxistisch-leninistischen Bewegungen immer nur Mittel zum Zweck sein, ein Instrument, das in der Übergangsphase zum Kommunismus, der klassenlosen Gesellschaft, die Errungenschaften gegen die ehemals Herrschenden, die Reaktion und die imperialistische Aggression verteidigt. Wenn die Klassenwidersprüche erst einmal aufgehoben seien, werde er »absterben«. So sah das auch die PKK in ihrer Gründungsphase. Nur geklappt hat das mit der Abschaffung des Staates nie. Im Gegensatz zu anderen nationalen Befreiungsbewegungen zog die PKK aus dieser Erkenntnis Konsequenzen.

Im Gesellschaftsvertrag Rojava ist von Klassenkampf und sozialistischer Planung nichts mehr zu lesen. Die Verfassung Rojavas wird von Kritiker_innen des Demokratischen Konföderalismus immer wieder herangezogen, um zu belegen, dass es sich bei der Revolution, die 2012 begann, um eine bürgerliche, keine sozialistische Revolution handele. Reduziert man die Analyse auf die Abschnitte des Gesellschaftsvertrags, die sich auf Ökonomie beziehen, kann man durchaus zu diesem Schluss kommen. Um sich der gesellschaftliche Realität in Nordsyrien anzunähern, muss man allerdings analysieren, unter welchen Bedingungen der Klassenkampf in Rojava geführt wird.

Die ethnischen Widersprüche sind in den Gebieten des Nahen Ostens und darüber hinaus eng mit Klassenverhältnissen verwoben. Der Versuch, die Widersprüche aufzuheben, gleicht einem Mikadospiel: Die Frage ist, welches Stäbchen man zuerst aushebelt. Abdullah Öcalan schreibt in »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«: »In jedem Konflikt von Ethnien, Religionen, Konfessionen und Gemeinden über irgendeine Ansicht steckt immer ein klassenkämpferischer Kern.« Wer die Frage nach den Produktionsverhältnissen stellen will, muss also zunächst Antworten auf die ethnischen Fragen finden. In diesem Dilemma befindet sich die Befreiungsbewegung in Kurdistan.

Arabisierungspolitik und ethnische Konflikte

Um das Dilemma genauer zu analysieren, lohnt sich ein Blick in die jüngere Geschichte Syriens: Hafiz al-Assad, der Vater des jetzigen Herrschers von Damaskus, beschloss 1965 den sogenannten arabischen Gürtel. In einem 15 Kilometer breiten Gebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze wurden arabische Familien angesiedelt. Sie stammten aus den Regionen Raqqa und Aleppo. Im Gegenzug vertrieb Assad kurdische Familien aus der Region, viele Kurd_innen wurden zu Ausländer_innen erklärt und verloren ihren Status als syrische Staatsbürger_innen. Durch die Zersiedelung wollte Assad die kurdischen Gebiete arabisieren. Nicht zuletzt änderte er dazu die kurdischen Ortsnamen: Kobanê etwa wurde in Ain al-Arab (»Quelle der Araber«) umbenannt.

Mit der Vertreibung kurdischer Familien gingen große Teile des Landbesitzes an arabische Großgrundbesitzer über. Parallel zu einer kurdischen Komparadorenklasse, welche die kurdischen Gebiete für die Herrschenden in Damaskus verwaltete, entwickelt sich eine arabische Klasse von Großgrundbesitzern, die vor allem im Grenzgebiet zur Türkei die Gesellschaft dominierten. Die Arabisierungspolitik verschärfte die ethnischen Konflikte. Diese Politik wirkt bis heute nach: Als der Kanton Cizîrê von den kurdischen Selbstverwaltungskräften übernommen und das lokale Rätesystem aufgebaut wurde, hatten viele arabische Familien Angst, dass es ihnen genauso ergeht wie den Kurd_innen unter Assad.

Die Autonomiebewegung ist immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, dass die arabische Bevölkerung in der Föderation Nordsyrien benachteiligt würde. Ob diese Vorwürfe erfunden sind oder in Teilen zutreffen, ist nur schwer zu klären. Fest steht, dass sich in den Friedens- und Konsenskomitees (3) und in den lokalen Räten, welche schon vor der Revolution 2012 in der Illegalität aufgebaut wurden, zu Beginn vor allem Kurd_innen beteiligten. Teile der turkmenischen und arabischen Bevölkerung standen dem Projekt skeptisch gegenüber. Beim Aufbau gesellschaftlicher Strukturen wird deshalb großen Wert darauf gelegt, einer Benachteiligung entgegenzuwirken. So gibt es in den Gebieten Rojavas, in denen neben Kurd_innen auch oder überwiegend Araber_innen, Turkmen_innen oder andere ethnische oder religiöse Minderheiten leben, für die Ernennung der Doppelspitzen in den Räten neben der Quotierung der Geschlechter auch Quoten nach Ethnien.

Diese Entwicklung schlägt sich mehr und mehr auch im militärischen Bereich nieder. In den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ kämpfen auch zehntausende Araber_innen. Weil die Einheit der Bevölkerung Rojavas im Kampf gegen den IS gewahrt werden soll, steht die Befreiungsbewegung aber auch vor einem Problem: Um die arabische Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen, verzichtet sie in der Regel auf die Enteignung arabischer Großgrundbesitzer. Hier kommt die Strategie der Volksfront zum Tragen, die den Kampf gegen den IS über die innergesellschaftlichen Klassenkämpfe stellt. Die angestrebte Einheit der Volksfront ist mit dem Vormarsch der von den YPG/YPJ geführten Syrian Democratic Forces (SDF) gen Süden umso gefährdeter, schließlich leben dort auch Araber_innen, die während der Besatzung durch den Islamischen Staat mit den Dschihadisten kooperierten.

Eigentumsfragen in Zeiten des Krieges

Auch der Gesellschaftsvertrag von Rojava ist Ausdruck der Konflikte in diesem Spannungsfeld, er orientiert sich an den Gegebenheiten vor Ort. Die bürgerlich-liberale Stoßrichtung der Verfassung, in welcher das Privateigentum an Produktionsmitteln ermöglicht wird, ist vor allem ein Zugeständnis an die schwere Umsetzbarkeit des Klassenkampfes in der Situation der absoluten Bedrohung der Revolution von außen und an den Krieg gegen dieses Außen.

Es ist aber nicht so, dass die Befreiungsbewegung blind in diese Situation hineingestolpert wäre. Wenn man die theoretischen Texte der Autonomiebewegung Kurdistans und ihre Umsetzung in Rojava analysiert, wird klar, dass dem Selbstverwaltungsmodell die Enteignungsfrage inhärent ist. Wie die Produktionsverhältnisse auf den Äckern und in den Betrieben eines bestimmten Gebietes aussehen sollen, entscheidet nicht ein Staat, sondern die Kommunen vor Ort. Das schließt ein, dass sie sich auch für die Enteignung der Produktionsmittel - egal ob Acker oder Werkbank - entscheiden können.

Vor Ort ist diese Praxis allerdings mit einem weiteren Problem konfrontiert: Rojava weist zwar sehr fruchtbare Landstriche auf und auch einige Erdölvorkommen. Wegen der jahrzehntelangen Unterdrückung durch das Assad-Regime gibt es jedoch kaum verarbeitende Industrie. Getreide wie auch andere Güter wurden zwar auch zu Zeiten der Assads in Rojava hergestellt - die Gegend wird nicht umsonst als Kornkammer Syriens bezeichnet -, aber nicht dort verarbeitet, sondern in die syrischen Metropolen abtransportiert. Die Versuche, diese ökonomische Rückständigkeit zu überwinden, werden von den Embargos durch das türkische AKP-Regime im Norden und das kurdische Barzani-Regime im Osten Rojavas verlangsamt.

Aufgelöst sind die Klassenwidersprüche in Nordsyrien noch lange nicht, auch wenn es Menschen gibt, die das behaupten. Weil ein großer Teil der Bourgeoisie während der Rojava-Revolution 2012 oder spätestens mit den Angriffen des IS geflüchtet sei, handele es sich bei der Gesellschaft Rojavas schon nicht mehr wirklich um eine Klassengesellschaft, schreiben etwa Theoretiker_innen wie Janet Biehl oder David Graeber. Letzterer erlangte durch die Occupy-Wall-Street-Bewegung international Bekanntheit, die mit der Losung »Wir sind die 99 Prozent« angetreten war. Wie die Occupy-Bewegung vertritt auch Graeber recht vulgäre Vorstellungen von Ökonomie: Die Losung der 99 Prozent basiert vor allem auf einer Kritik der Wohlstandsverteilung und bleibt an diesem Punkt meist stehen. Arm gegen Reich - wer so argumentiert, braucht die Produktionsverhältnisse nicht zu analysieren.

In Rojava ist die Einheit der 99 Prozent gewissermaßen verwirklicht - in der Volksfront gegen den IS und andere Dschihadisten und ihre Förderer in der türkischen Regierung. Doch die Einheit der Bevölkerung gegen einen äußeren Feind ist nicht das Ende der Geschichte. Nur weil die Klassenkämpfe angesichts des Krieges aufgeschoben werden, bedeutet das nicht, dass es keine Klassen mehr gibt. Und nur weil Kapitalist_innen das Weite suchen, verschwindet nicht das Diktat der kapitalistischen Verwertungslogik. Die Kritik, dass es sich bei Rojava nicht um eine klassenlose Gesellschaft handelt, ist deshalb zwar richtig, die Behauptung, die Befreiungsbewegung in Rojava sei sich dieser Problematik nicht bewusst, ist es jedoch nicht.

Der Kommunismus sei kein »Zustand, der hergestellt werden soll«, kein Ideal wonach die Realität sich zu richten habe, schrieb Karl Marx in den »Thesen über Feuerbach«. Vielmehr sei die kommunistische Bewegung »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«. Die Revolution ist auch in Kurdistan ein Prozess, in dem diese Bewegung die gesellschaftlichen Widersprüche entweder Stück für Stück aufhebt oder an ihnen scheitert. Über Erfolg oder Misserfolg entscheidet auch, ob das Rätesystem weiter expandieren kann. Denn wie auch die stalinistische Vorstellung vom »Sozialismus in einem Lande« gescheitert ist, so wird auch die gesellschaftliche Umwälzung in Nordsyrien zusammenbrechen, wenn sie sich nicht ausweitet. Ob das gelingt, hängt unter anderem von der Unterstützung aus Europa ab.

Anselm Schindler schreibt in ak über den Krieg in Syrien und die politischen Entwicklungen in der Türkei.

Anmerkungen:

1) Die Autonomiebewegung in den mehrheitlich kurdischen Gebieten Syriens, der Türkei und des Iran bezieht sich in ideologischen Fragen stark auf den PKK-Mitbegründer Abdullah Öcalan - Spitzname »Apo«. Von diesem Spitznamen leitet sich das Adjektiv apoistisch ab.

2) Die als Paradigmenwechsel bezeichnete ideologische Umorientierung der kurdischen Autonomiebewegung begann um die Jahrtausendwende. Nicht zuletzt die Brutalität des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion und das Scheitern nationaler Befreiungsbewegungen trugen dazu bei, dass sich die kurdische Bewegung zu Teilen vom Marxismus-Leninismus ab und einem libertäreren Revolutionsmodell zuwandte.

3) Die Friedens- und Konsenskomitees ersetzen das staatliche Justizsystem durch ein dezentrales System, in dem Konflikte auf lokaler Ebene gelöst werden. In allen vier Kantonen Rojavas (Efrîn, Manbij, Kobanê und Cizîrê) existiert aber jeweils ein Gericht, an das Konflikte weiterdelegiert werden können. Für Fälle von sexualisierter Gewalt greift ein spezielles System der Frauenbewegung, da verhindert werden soll, dass Männer die Verfolgung von sexualisierter Gewalt blockieren könnten.

Selber machen Konferenz in Berlin

Idee und Wirklichkeit des Demokratischen Konföderalismus in Rojava, die Erfahrungen mit Rätestrukturen in den Kommunen des 21. Jahrhunderts, Gegenmacht und Selbstorganisierung im Stadtteil, in Kollektiven, besetzten Häusern oder sozialen Kliniken, um all das geht es auf der Selber Machen Konferenz zu Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie, die vom 28. bis 30. April in Berlin stattfindet. Programm, Infos und Teilnahmemöglichkeiten unter www.selbermachen2017.org