Willkommen in Fakiristan
Kultur Hasan Özgün über politisches Theater in der türkisch-syrischen Grenzprovinz Hatay und die Repression gegen linke Aktivist_innen
Interview: Hannah Schultes
Hasan Özgün lebt als Aktivist, Schauspieler und Regisseur des Arabischen Theaterensembles Ehliddar (»Gastgeber«) in Antakya in der türkischen Provinz Hatay. Seit über zwanzig Jahren macht er politisches Theater in seiner Muttersprache Arabisch. Als Mitglied der Parteiinitiative Toplumsal Özgürlük (»Soziale Befreiung«) ist er vor dem Referendum in der Nein-Kampagne aktiv gewesen. Wegen seiner künstlerischen und politischen Aktivitäten hat er immer wieder mit Repression zu tun gehabt.
Wie bist du zum Theater gekommen?
Hasan Özgün: Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Theater. 1994/1995 fing ich während meiner Schulzeit damit an, arabischsprachiges Theater zu machen. Da hatte ich seit Jahren kein künstlerisches Werk in meiner Muttersprache gesehen. Später ging ich nach Mersin und Izmir. Im Austausch mit anderen Schauspielern eignete ich mir die Grundlagen an und trat viel in ländlichen Gegenden auf. In Izmir gründete ich eine Straßentheatergruppe mit Textilarbeiterinnen, das »Theater der Armen«. Weil die Arbeiterinnen wenig Zeit hatten, trafen wir uns abends in ihren Vierteln und an ihren Urlaubstagen. Ich schrieb selbst kurze Stücke zu Themen, die sie bewegten, die wir dann auf dem Markt oder an den Picknickplätzen aufführten. Hier in Antakya trete ich seit vielen Jahren als »Farfur« auf Festivals auf - Stand-up-Comedy, wie ihr es wahrscheinlich nennen würdet. Diese Figur, ein einfacher Mann aus der Region, ist mittlerweile recht bekannt.
Was bedeutet es für dich, Theater auf Arabisch zu machen?
Ich bin in den 1990er Jahren zur Schule gegangen. Arabisch zu sprechen war verboten, in der Grundschule riefen die Lehrer die Kinder dazu auf, Verstöße zu melden. Damals konnte ich noch kein Türkisch, natürlich sprachen wir Arabisch - und bezogen dafür ordentlich Prügel. Wenn ich auf der Bühne Comedy auf Arabisch mache, ist das meine Rache für diese Prügel. Noch Ende der 1990er erhielt ich in der Schule für fünfzehn Tage einen Schulverweis, weil ich mit einem Freund Arabisch gesprochen hatte. Es gibt in der Türkei fast 1,5 Millionen Alawiten. Die meisten leben am östlichen Mittelmeer, in Mersin, Adana und Hatay. Dieser Teil der Bevölkerung hat seit 1.400 Jahren mit Unterdrückung und Massakern zu tun. Mit der Republiksgründung begann die Türkisierung der Alawiten, davor ging es nur um ihre Sunnitisierung. Aber Mustafa Kemal gegenüber empfanden viele dennoch Sympathie, weil er formal den Laizismus einführte, den viele als Schutz ihrer säkularen Lebensweise sahen. Nach dem Putsch von 1980 wurde das Arabische in der Schule verboten, selbst bei Hochzeiten durften keine arabischen Lieder mehr gesungen werden. Heute geben viele Eltern das Arabische auch nicht mehr an ihre Kinder weiter, weil sie selbst als Kinder geschlagen wurden, wenn sie Arabisch sprachen. Sie wollen, dass ihre Kinder es einfacher haben. Das ist ein großes Problem. Gemeinsam mit Freunden habe ich die erste arabischsprachige Theatergruppe gegründet, das Arabische Theaterensemble Ehliddar. Aber wir machen auch mit hunderten Kindern in vielen Vierteln Theaterarbeit, organisieren eine Sommerschule und einen arabischen Chor.
Wo tretet ihr mit eurer Gruppe auf?
2012 haben wir ein altes Gebäude renoviert und das Kulturzentrum Ehliddar gegründet. Aber wir wollten keine elitäre Kunst machen für ein eingegrenztes Publikum mit einem hohen Bildungsgrad. In den Dörfern und Vierteln, in denen wir auftreten, gibt es oft keine Bühnen, keine Technik, und bei unseren Stücken stehen schon mal 25 Leute auf der Bühne. Ein paar Dinge konnten wir auf Raten kaufen, Freunde von uns halfen in technischer Hinsicht aus. Wenn wir mit dem Equipment von Dorf zu Dorf fahren, kann unsere Bühne manchmal auch ein Lastwagen sein.
Du bist Regisseur der Gruppe. Wie arbeitet ihr?
In unserer Gruppe gibt es drei Prinzipien. Erstens: Wir machen Theater in unserer Muttersprache. Zweitens: Wir erzählen Geschichten aus einer feministischen Perspektive, denn auch in der Kunst dominieren die Männer. Es geht nicht nur darum, Probleme von Frauen zu benennen, sondern aus der Perspektive der Frauen zu erzählen - und nicht die Sprache der Männer zu benutzen, beispielsweise keine Witze über die Körper von Frauen zu machen. Wir schreiben eigene Stücke zum 25. November zum Tag der Gewalt gegen Frauen und zum 8. März. Drittens: Der Zweck des Theaters ist natürlich Unterhaltung, aber wir wollen auch eine empathische Haltung mit den Unterdrückten fördern: mit den Arbeitern statt den Chefs, den Flüchtlingen statt den Kriegführenden. Eines unserer Stücke heißt »Fakiristan«, Land der Armen. Es thematisiert den Neoliberalismus auf eine komische Weise, in der Sprache der hiesigen Bevölkerung, anhand ihrer eigenen Erfahrungen. Fast 35.000 Leute haben dieses Stück bisher gesehen.
Wie reagieren die Menschen auf die Stücke?
Es passiert schon mal, dass eine sechzig oder siebzig Jahre alte Frau, die kein Türkisch spricht, die weder lesen noch schreiben kann, uns eine sehr schöne Theaterkritik liefert: Das hat mir gut gefallen, aber warum habt ihr jenes so gemacht? Durch die Assimilation können viele junge Leute selbst kein Arabisch sprechen, obwohl sie es verstehen. In weniger arabisch geprägten Städten wie Istanbul haben sich die Leute weggeschmissen vor Lachen, als wir ein Stück zu dieser gängigen Entschuldigung - »Ich verstehe es, aber ich kann nicht sprechen« - aufgeführt haben. Dort ist das der Normalzustand: Alle verstehen es, aber niemand kann sprechen.
Welchen Einfluss hat der Ausnahmezustand auf eure Arbeit?
Wir haben eine Zeitlang pausiert. Dann haben wir beschlossen: Jetzt erst recht! Repression, Angst - in solchen Zeiten ist Kunst umso wichtiger. Die Behörden gaben uns keine Erlaubnis, draußen zu spielen, aber wir konnten Aufführungen in geschlossenen Räumen wie Hochzeitssalons organisieren. Dafür mussten wir unglaublich viele Dokumente wie Adressen und Personalausweise hinterlegen.
Ende März warst du zusammen mit zwölf anderen Freunden und Freundinnen für vier Tage in Polizeigewahrsam. Wie kam es dazu?
In den Monaten vor dem Referendum sind wir durch die Nachbarschaften gegangen und haben dort Hayir-Räte gegründet, um für ein Nein zu mobilisieren. In Samandag, einem linken Viertel, gibt es seit kurzem einen ähnlichen Ort wie das Ehliddar, ein Kulturzentrum, in dem auch Theaterproben stattfinden werden. An diesem Sonntag saß ich mit Freunden in diesem Gebäude. Wir unterhielten uns, überlegten, was für die letzten drei Wochen der Nein-Kampagne noch zu tun wäre. Es war gegen 15 Uhr, als plötzlich bewaffnete Polizisten ins Gebäude stürmten und uns befahlen, uns mit dem Gesicht zur Wand zu stellen. Sie redeten von einem Gerichtsbeschluss, zeigten ihn uns aber nicht. Dann begannen sie, das Gebäude zu durchsuchen. Wir bestanden darauf, unsere Anwälte anzurufen, aber sie nahmen uns die Telefone weg. Mit Autos brachten sie uns zur Polizeistation, aber bevor ich ins Auto stieg, konnte ich den Nachbarn noch die Namen unserer Anwälte zurufen. Wir waren nicht die ersten und auch nicht die letzten, die wegen der Nein-Kampagne Repression erlitten haben: Zuvor haben sie vier Personen am Markt verhaftet, weil sie dort Flyer verteilten. Außerdem waren 34 HDP-Angehörige für zehn Tage in Gewahrsam. Aber dass sie ein Gebäude, in dem wir sitzen und uns unterhalten, mit Waffen stürmen - das gab es bisher noch nicht. Wären wir nicht festgenommen worden, wären wir in diesen Tagen übrigens in einem Dorf aufgetreten.
Was wurde euch vorgeworden?
Erst erfuhren wir gar nicht, was uns vorgeworfen wird. Dann hieß es: Organisation von Treffen und Kundgebungen. Natürlich sagten sie nicht direkt, dass sie uns wegen der Nein-Kampagne verhaftet haben. Wir bereiteten uns dementsprechend auf unsere Aussage vor. Plötzlich hatte sich die Anklage in »Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« geändert. Angeblich würden wir versuchen, Mitglieder für die TKP-kivilcim zu gewinnen. Diese Organisation gibt es aber bereits seit den 1990ern nicht mehr - deshalb steht sie auch gar nicht auf der Terrorliste. Wir haben nicht verheimlicht, dass wir politisch in der TÖPG organisiert sind, das ist schließlich eine legale Organisation. Die Befragungen waren absurd. Natürlich gab es keinen einzigen Beweis. Im Gebäude hatte die Polizei Materialien der Kampushexen, einer feministischen Organisation an der Uni, gefunden. Sie fragten mich: »Bist du Mitglied der Kampushexen?« Ich verneinte natürlich. Sie fragten: »Warum?« Ich meinte: »Weil ich ein Mann bin.« Dann wollten sie wissen, ob ich Mitglied der Schülerzeitung Liseli kivilcim (»Schülerfunke«) sei. Ich bin aber schon lange raus aus der Schule! Die Schülerzeitung steht unserer Organisation nahe und soll den Vorwurf begründen - weil auch die TKP-kivilcim, für die wir angeblich Propaganda machen, den Begriff Funke im Namen trägt.
Wie erging es euch in Polizeihaft?
Wir waren zu acht in einem zehn Quadratmeter großen Raum, wo wir auf dem Boden schlafen mussten. Die Polizisten versuchten, die jüngeren Leute einzuschüchtern: »Geh doch lieber arbeiten oder studieren«. Ich sei »ein gefährlicher Mann«. Ich war zwar schon oft in Polizeigewahrsam, aber verurteilt wurde ich nie. Einer der Polizisten kannte meine Figur und fragte mich: »Bist du nicht Farfur?« Ich meinte zu ihm: »Ja, eigentlich bin ich der Schauspieler, aber hier seid ihr es«. Jeden Abend brachten sie uns zum Gesundheitscheck ins Krankenhaus, um feststellen zu lassen, dass wir nicht gefoltert wurden. Dafür legten sie uns Handschellen an. Ich protestierte dagegen: »Ich bin blind, weil ich in Mersin auf einer Polizeiwoche gefoltert wurde. Wohin soll ich schon abhauen?« Schließlich ließen sie die Handschellen bei mir weg.
Wie ging es weiter?
Es gab breiten Widerstand gegen unsere Festnahmen. Am zweiten Tag protestierten unsere Familien, Freunde, Gewerkschafter, oppositionelle Parlamentarier und zahlreiche Menschen aus der Bevölkerung in Samandag. Am dritten Tag kam zunächst einer von uns frei, am nächsten Tag nach und nach alle. Vier von uns dürfen nun nicht ins Ausland reisen und müssen sich jede Woche auf der Polizeiwache melden. Ziel der Verhaftung war, die Nein-Kampagne zu schwächen und unsere Organisation zu kriminalisieren, aber das Gegenteil ist passiert. Eigentlich sollten wir der AKP danken: Weil sie uns festgenommen haben, haben wir viele Leute erreicht.
Was macht ihr nun?
Der Ausnahmezustand erschwert unsere Arbeit auf jeden Fall. Die Nein-Kampagne läuft, aber man sieht sie nicht. Im öffentlichen Raum heißt es überall nur »Evet«. Ein Hayir-Lied auf Arabisch, eine Nein-Comedy, die sich um die Diktatur dreht - was ich mache, kann ihnen nicht gefallen, aber es ist kein Verbrechen. Gerade protestieren wir gegen weitere Festnahmen von Freunden. Die Ironie ist: Als wir verhaftet wurden, waren sie es, die sich für uns eingesetzt haben. Man ließ uns frei und nahm sie fest. Jetzt sind wir es, die von draußen ihre Freilassung fordern.
Das Interview wurde vor dem Referendum geführt. Die Freund_innen von Hasan Özgün sind mittlerweile bis auf eine Person freigelassen worden. (Stand: 11. April 2017)