Sie haben zuerst geschossen
Geschichte 2. Juni 1967: Der staatliche Mord an Benno Ohnesorg galt der ganzen radikalen Linken
Von Jens Renner
Der 2. Juni 1967 hat vieles verändert; der Tag, an dem »alles anfing«, war er nicht. Denn die Außerparlamentarische Opposition (APO) in der Bundesrepublik und Westberlin hatte einen jahrelangen Vorlauf, nicht nur in studentischen Zirkeln. An Protesten gegen die »Wiederbewaffnung« in den 1950er Jahren oder anlässlich der Spiegel-Affäre 1962 waren Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen beteiligt. Der 26-jährige Student Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 in Westberlin ermordet wurde, war auch nicht das erste Opfer von Polizeigewalt. Schon 1952 war bei einer antimilitaristischen Demonstration in Essen der junge Kommunist Philipp Müller von der Polizei erschossen worden.
Aber der 2. Juni 1967 markiert eine Zäsur. Der gezielte Todesschuss sowie die zynischen Reaktionen von Politik und Medien, später dann der Freispruch für den Schützen, Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras, machten der Protestbewegung klar, mit welchem Gegner sie es zu tun hatte. Unmittelbare Folge der Westberliner Ereignisse war die Verbreiterung und Radikalisierung der Proteste im gesamten Bundesgebiet. Später nannte sich eine bewaffnete Gruppierung Bewegung 2. Juni - auch um deutlich zu machen, von wem die Eskalation ausgegangen war.
Staatsbesuch eines Diktators
Im Juni 1967 reisen der Schah von Persien, Resa Pahlewi, und seine Frau Farah Diba auf Staatsbesuch durch Europa. In Westdeutschland werden die Lieblinge der Regenbogenpresse wegen ihres »märchenhaften« Reichtums, den sie offen zur Schau stellen, von einem Millionenpublikum umschwärmt. Über die sozialen und politischen Zustände unter der kaiserlichen Diktatur informieren der iranische Schriftsteller Bahman Nirumand (»Persien - Modell eines Entwicklungslandes«), die Konföderation Iranischer Studenten (CISNU), der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und westdeutsche studentische Vertretungen.
Erste Station des Staatsbesuchs auf deutschem Boden ist Westberlin. Iranische Geheimpolizisten und monarchistische Studenten (»Jubelperser«) schlagen mit Latten auf Gegendemonstrant_innen ein. Auch die Polizei reagiert mit bisher nicht da gewesener Brutalität auf die »Störungen«. Während das kaiserliche Paar, Bundespräsident Heinrich Lübke, Außenminister Willy Brandt und der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz mit ihren Ehefrauen in der Deutschen Oper Mozarts »Zauberflöte« hören, hetzen Greiftrupps der Polizei Demonstrant_innen, prügeln und nehmen vermeintliche »Rädelsführer« fest.
Benno Ohnesorg, der zum ersten Mal an einer Demonstration teilnimmt, flüchtet sich in einen Garagenhof. Dort wird er von mehreren Polizisten verprügelt. Kriminalobermeister Kurras schießt ihn in den Hinterkopf - in »Notwehr«, wie er nach der Tat behauptet. Ein Gericht spricht ihn im November 1967 von der Anklage der fahrlässigen Tötung frei - weil die Notwehrversion nicht eindeutig zu widerlegen gewesen sei.
Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) stellt sich voll hinter die Polizei und macht die Demonstrant_innen für den Tod Benno Ohnesorgs verantwortlich: »Die Geduld der Stadt ist am Ende. Einige Dutzend Demonstranten, unter ihnen auch Studenten, haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland beschimpft und beleidigt zu haben, sondern auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte. Ich sage ausdrücklich und mit Nachdruck, dass ich das Verhalten der Polizei billige und dass ich mich durch eigenen Augenschein überzeugt habe, dass sich die Polizei bis an die Grenze des Zumutbaren zurückgehalten hat.«
Das war schlicht gelogen, wie Albertz später zugeben musste. 1981, nach seiner Wandlung zum Harmonisierer und Gesprächspartner der Linken, schrieb er: »Die Nachricht vom Tode Benno Ohnesorgs kam schon über die Mitternachtsnachrichten des Rundfunks. Der Pressechef des Senats las mir eine von ihm formulierte Erklärung vor: Ich stünde voll hinter der Polizei. Ich stimmte zu. Am nächsten Morgen musste ich den Schah zum Flugplatz bringen. Ich fragte ihn, ob er von dem Toten gehört habe. Ja, das solle mich nicht beeindrucken, das geschehe im Iran jeden Tag.«
»Linksradikale Störenfriede« gegen »anständige Berliner«
Unmittelbar nach der Orgie staatlicher Gewalt werden deren Opfer zu Tätern gemacht. Springers BZ schreibt am Tag danach: »Linksradikale Störenfriede haben gestern Abend vor der Deutschen Oper der Polizei eine regelrechte Straßenschlacht geliefert. (...) Es war das Werk eines Mobs. Ihm ging es nicht mehr um die politische Aussage in irgendeiner Form. Ihm ging es nur um Krawall, um Unruhe, um Prügelei. Um Terror. Frauen, die gekommen waren, um den Schah zu sehen, brachen von Steinen getroffen blutend zusammen. Polizisten wurden schwer verletzt abtransportiert. Und auch die Demonstranten kamen nicht ungeschoren davon.«
Mit dieser zynischen Verdrehung der Tatsachen und der mehr oder weniger offenen Billigung des Todesschusses lässt man es im Hause Springer nicht bewenden. Die BZ heizt den »Volkszorn« gegen die »Krawallmacher« noch weiter an: »Die Berliner haben kein Verständnis dafür, dass ihre Stadt zur Zirkusarena unreifer Ignoranten gemacht wird. Wer Anstand und Sitte provoziert, muss sich damit abfinden, von den Anständigen zur Ordnung gerufen zu werden. Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen. Die Anständigen in dieser Stadt aber sind jene Massen der Berliner, die Berlin aufgebaut und Berlins Wirtschaft angekurbelt haben. Ihnen gehört die Stadt. Ihnen ganz allein!« (BZ, 3.6. 1967)
Enteignet Springer!
Der Westberliner Senat verhängt am 3. Juni faktisch den Ausnahmezustand: Die Gebäude der Freien Universität (FU) sind verschlossen, auch auf dem Campus herrscht - ebenso wie im gesamten Stadtgebiet - ein generelles Versammlungsverbot. Ein Trauermarsch in der Innenstadt wird von der Polizei eingekreist und aufgelöst. Als sich trotz Verbot 6.000 Studierende auf dem Campus versammeln, droht die Polizei damit, auch diese Versammlung gewaltsam aufzulösen. Schließlich öffnet der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät sein Gebäude. Dort beschließen die Studierenden, für mindestens eine Woche den normalen Lehrbetrieb zu unterbrechen und statt dessen Diskussionen zu führen: »über die Ereignisse der letzten Tage«; die »Manipulation des öffentlichen Bewusstseins«; »den faktischen Ausnahmezustand in Berlin«; »die Möglichkeiten der Universität als Ort sich politisch verstehender Wissenschaft, aktiv politisch zu intervenieren, um die Demokratie in Berlin wiederherzustellen, zu verteidigen und weiter zu entwickeln.«
Der Beschluss wird vom Konvent übernommen und an fast allen Fakultäten in die Tat umgesetzt. An den westdeutschen Universitäten werden Trauerkundgebungen abgehalten. Auf der Trauerfeier in Westberlin spricht der Theologieprofessor Helmut Gollwitzer vor 15.000 Menschen. Am 9. Juni wird Benno Ohnesorgs Leichnam in Hannover beerdigt. Dort beginnt am selben Tag der Kongress »Hochschule und Demokratie - Bedingungen und Organisation des Widerstandes«, an dem 5.000 Studierende und Hochschullehrer_innen aus der gesamten Bundesrepublik teilnehmen.
Unmittelbar nach dem 2. Juni beginnen politische Aktivist_innen eine eigenständige Ermittlungsarbeit über das Vorgehen der Polizei. Dadurch können sie die Lügen der Presse und der verantwortlichen Politiker in Flugblättern und Zeitungen widerlegen. In einer längeren Analyse des SDS-Bundesvorstandes, die noch im Juni 1967 erscheint, heißt es: »Die Ereignisse in Berlin haben zugleich Macht und Ohnmacht der oppositionellen Studentenbewegung in der Bundesrepublik und Westberlin demonstriert. (...) Das postfaschistische System in der BRD ist zu einem präfaschistischen geworden.« Im September 1967 beschließt der SDS die Kampagne »Enteignet Springer«, um »die Diktatur der Manipulateure« zu brechen und »Gegenöffentlichkeit« zu schaffen.
Gewalt und Gegengewalt
Der 2. Juni 1967 wurde für die gesamte radikale Linke in Westdeutschland zum Schlüsselerlebnis. Denn mit dem Staatsterror war auch die »Gewaltfrage« neu gestellt, die bislang eher theoretisch erörtert worden war: Als legitim galt die befreiende Gewalt »des Kolonisierten«, von der Frantz Fanon schrieb, und der Guerillakrieg des Vietcong.
Warum nach dem 2. Juni organisierte Militanz zur praktischen Notwendigkeit wurde, erläuterte Rudi Dutschke: »Am 2. Juni waren wir reines Objekt der West-Berliner Bürgerkriegsarmee. Die Lehre aus dem 2. Juni kann nur darin bestehen, dass wir in der Zukunft die fähigsten Kräfte des antiautoritären Lagers für die allseitige Leitung und Organisierung der Auseinandersetzung auf der Straße mobilisieren. Durch gemeinsame Erfahrungen und persönliche Freundschaft verbundene Kampfkomitees müssen die Führung der Demonstration übernehmen, nicht Ordner oder Funktionäre. Durch Organisierung und Leitung wird Entfaltung von Initiative, praktische Teilnahme aller Demonstranten erst möglich.«
Auch wenn das mehr Wunsch als Wirklichkeit war: Dass mehr Vorbereitung auf die »Auseinandersetzung auf der Straße« buchstäblich lebensnotwendig war, wurde in der Linken kaum bestritten. Schließlich schlug die Staatsmacht nicht nur brutal zu, sondern bekannte sich auch noch offen zum Rechtsbruch. Legendär der Ausspruch des damaligen Westberliner Polizeipräsidenten Erich Duensing, eines ehemaligen Generalstabsoffiziers der Wehrmacht, über die polizeiliche »Leberwursttaktik« gegenüber Demonstrationen: »Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.« (Die Zeit 23/1967)
Trotz solch klarer Feindbestimmung von höchster Stelle gibt es immer noch Stimmen, die mildernde Umstände geltend machen und das Wüten der Staatsmacht mit »Kopflosigkeit und Überforderung der Autoritäten« erklären wollen. So formuliert es der Historiker Eckard Michels in seinem neuen Buch »Schahbesuch 1967«, und Werner Bührer, ebenfalls Historiker, lobt in seiner Rezension Michels' Geschichtsschreibung »abseits der ausgetretenen Veteranenpfade«. Der Rezensent schließt mit dem Satz: »In diesem Stil kann es mit der Jubiläumsliteratur gerne weitergehen.« (Süddeutsche Zeitung, 27.3.2017)
Dass es so weitergeht, ist zu befürchten. Als 2009 herauskam, dass Kurras, der Todesschütze, Stasi-Mitarbeiter und SED-Mitglied war, wurde schon einmal versucht, die »Geschichte umzuschreiben«. (ak 540) Auch ehemalige Linke waren hieran beteiligt. Wirklich erfolgreich waren sie damit nicht. Denn Kurras war kein Auftragskiller der Stasi, sondern ein Büttel des Westberliner Repressionsapparats, dessen systematische Brutalität von der Polizeiführung geplant war.