Weiße Vorherrschaft für manche, aber nicht für alle
Diskussion Wie der Rassismus in den USA den gemeinsamen Kampf der Arbeiter_innen verhindert
Von Keeanga-Yamahtta Taylor
Wenn weiße Arbeiter_innen von kapitalistischer Ausbeutung nicht profitieren, warum ist es dem Rassismus dann möglich, sie von der Vereinigung mit nicht-weißen Arbeiter_innen abzuhalten? Schließlich könnten sie mit diesen gemeinsam für das Wohl aller Arbeiter_innen kämpfen? Die Antwort liegt in der weißen Identität, die ein gegen Schwarze Menschen gerichteter Rassismus produziert.
Die Sklavenhalter und die herrschende Klasse der USA im Allgemeinen zogen vielfachen Nutzen aus der Sklaverei. Ein Nutzen war, dass eine auf Rassifizierung beruhende Sklaverei dabei half, Klassenkonflikte innerhalb der weißen Gesellschaft im Zaum zu halten. Die Freiheit weißer Amerikaner_innen war abhängig von der Versklavung Schwarzer Menschen. Der Historiker Edmund Morgan beschrieb dies in seinem Buch »American Slavery, American Freedom« so:
»Die Sklaverei war das Übel, von der die Menschen die Gesellschaft befreien wollten. Deshalb kämpften sie gegen die Monarchen und für die Republik. Die Sklaverei war aber auch die Lösung, um einem der größten Probleme der Gesellschaft Herr zu werden, nämlich der Armut. Die herrschende Klasse in Virginia hatte gegenüber den Republikanern in England - oder im Neuen England (1) - einen entscheidenden Vorteil, weil sie das Problem gelöst hatte: Sie hatte eine Gesellschaft errichtet, in der die meisten Armen versklavt waren.«
Die Strategie der weißen Vorherrschaft
Es war ausgesprochen schwierig für die versklavten Menschen Amerikas, Widerstand zu leisten. Und wenn sie es taten, konnten sich alle weißen Menschen zusammenschließen, um diesen Widerstand niederzuschlagen. Weiße Kleinbauern und weiße Plantagenbesitzer hatten nichts gemeinsam außer der Tatsache, dass sie keine Sklaven waren - doch das genügte, um Spannungen zwischen ihnen in Zaum zu halten.
Nach dem Ende der Sklaverei wirkte die sich nun entwickelnde Strategie der weißen Vorherrschaft auf ähnliche Weise. Grob gefasst war weiße Vorherrschaft die Antwort auf die angebliche Bedrohung einer Schwarzen Herrschaft. Dahinter stand die Furcht, dass das Ende der Sklaverei und die »Ära der Rekonstruktion« die Hierarchie von Weiß und Schwarz in den USA auf den Kopf stellen würden. Viele arme Weiße wurden für die Verteidigung weißer Vorherrschaft rekrutiert. Sie standen angeblich vor der Wahl, ihre eigenen Privilegien zu schützen oder in einer von Schwarzen dominierten Gesellschaft unterzugehen. Der Schlachtruf der weißen Vorherrschaft sollte ihnen freilich nicht helfen; er diente in erster Linie dazu, von den wirklichen Problemen abzulenken. Weiße Vorherrschaft war keine kohärente Strategie, »sondern beruhte auf impulsiven Antworten auf chaotische Umstände«. (2) Ursprünglich ging es darum, Schwarze von politischer Macht fernzuhalten. Dadurch waren sie stärkeren ökonomischen Zwängen ausgeliefert. In jedem Fall »bedeutete weiße Vorherrschaft nicht, dass Weiße herrschten«. Die Herrschaft lag in den Händen der Großgrundbesitzer im sogenannten Schwarzen Gürtel, der reich an Baumwolle war. Dieser Elite diente die Strategie weißer Vorherrschaft, um Ängste Weißer zu manipulieren und ihre Klassenherrschaft zu bewahren. Weiße Vorherrschaft hat historisch den sozialen, politischen und ökonomischen Einfluss Schwarzer Menschen bekämpft, während sie die sozialen, politischen und ökonomischen Unterschiede innerhalb der weißen Bevölkerung verschleierte. Wie die Sklaverei war sie ein notwendiges Mittel, um Produktivität und Profit zu maximieren und gleichzeitig die extremen Gegensätze zwischen den reichsten und ärmsten weißen Menschen herunterzuspielen.
Was hat das alles mit der heutigen Welt zu tun? Es wäre falsch, zu behaupten, dass die USA immer noch einer politischen Strategie der weißen Vorherrschaft folgt, wenn das bedeutet, alle Weißen zu vereinen und alle Schwarzen Menschen politisch wie ökonomisch auszuschließen bzw. zu marginalisieren. Zwar kontrollieren nach wie vor vorwiegend weiße Menschen die Institutionen, die das politische und ökonomische Schicksal dieses Landes bestimmen. Aber das Vermächtnis der weißen Vorherrschaft zeigt sich heute vor allem in der anhaltenden Nivellierung weißer Klassenwidersprüche. Weiße Menschen werden in der Regel als homogene Masse mit gemeinsamen Erfahrungen von Privilegien, sozialer Mobilität und Zugang zu den Zentren der Macht gesehen. Dieses Bild wird bestärkt von akademischen Diskussionen über »Weißheit« als Status, den alle Menschen angeblich anstreben.
Der Mythos der klassenlosen Gesellschaft
»Weißsein« wird in diesem Sinne nicht notwendigerweise von weißen Menschen verkörpert. Alle können diese Kategorie ausfüllen, auch Schwarze Menschen, Latinos/Latinos oder Asiat_innen. Die Unterscheidung zwischen »weißen Menschen« und »Weißsein« sollte ursprünglich differenziertere Analysen ermöglichen. Aber wenn uns heute erklärt wird, dass reaktionäre nicht-weiße Figuren wie Clarence Thomas, Richter am Obersten Gerichtshofs der USA, »weiß handeln«, dann wird die Unterscheidung dazu verwendet, Diskussionen über »Klasse« durch Diskussionen über »Rasse« zu ersetzen. Dies verschleiert jedoch nur Klassengegensätze. Theorien von »Weißsein« werden damit zu linken Adaptationen des Mythos, dass die USA eine klassenlose Gesellschaft seien. Nicht-weiße Menschen in Machtpositionen werden der »Inszenierung von Weißsein« angeklagt, anstatt der Ausübung ihrer Klassenherrschaft. Damit wird auch unterstellt, dass Menschen wie Clarence Thomas oder Barack Obama nicht meinen, was sie tun. Im Hintergrund steht immer die Voraussetzung einer gemeinsamen weißen Erfahrung. Doch diese gibt es nicht.
Mehr als 19 Millionen weiße Amerikaner_innen leben unter der Armutsgrenze, das sind beinahe doppelt so viele wie Schwarze Amerikaner_innen. Im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung sind Schwarze Menschen am stärksten von Armut betroffen, aber diese absolute Zahl sollte reichen, um gewisse Mythen über die amerikanische Gesellschaft zu verabschieden. Zudem ist der Prozentsatz weißer Arbeiter_innen, die unter der Armutsgrenze leben, seit dem Jahr 2000 von drei Prozent auf elf Prozent gestiegen. Obwohl die jüngste Rezession Schwarze Armut verstärkt hat, hat sie auch den Graben zwischen weißer und Schwarzer Armut verringert - nicht weil es nun Schwarzen Menschen besser geht, sondern weißen schlechter. 76 Prozent aller weißen Menschen in den USA haben irgendwann in ihrem Leben Armut erfahren. Obwohl das Wissen um »weiße Privilegien« heute zum Gemeinplatz geworden ist, stehen die meisten gewöhnlichen weißen Menschen vor einer unsicheren Zukunft. Was ihre ökonomischen Aussichten betrifft, war der Pessimismus unter Weißen in den letzten 25 Jahren nie so hoch wie heute; Millionen von ihnen glauben, ihren Lebensstandard nicht halten zu können.
Afroamerikaner_innen haben unter der Gewalt des Strafjustizsystems am stärksten zu leiden, aber die Allgegenwart des »Recht-und-Ordnung«-Prinzips bedeutet, dass auch Weiße sich zunehmend in dessen Netz verfangen. 2.300 von 100.000 Schwarzen Menschen befinden sich in den Haftanstalten der USA. Von 100.000 weißen Menschen sind es 450. Die Inhaftierungsrate Schwarzer Menschen ist absurd. Der Unterschied zur Rate weißer Menschen ist ein Beleg für den rassistischen Charakter des amerikanischen Strafjustizsystems. Darüber dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass die Inhaftierungsrate Weißer in den USA immer noch höher ist als die Inhaftierungsrate in beinahe jedem anderen Land der Welt. Das Gleiche gilt für von der Polizei verursachte Todesfälle: Schwarze und Latinos/Latinas sind viel öfter betroffen als Weiße, aber es gibt auch Tausende Weiße unter den Opfern tödlicher Polizeigewalt. Das macht die Erfahrungen von Weißen und People of Color nicht gleich; aber es schafft eine Basis für Solidarität zwischen weißen und nicht-weißen Arbeiter_innen.
Die Profiteure der Ungleichheit
Ein differenziertes Bild der materiellen Lebensumstände der weißen Arbeiterklasse darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele gewöhnliche Weiße rassistischen Vorstellungen anhängen oder sie zumindest tolerieren. Die materiellen Lebensumstände Weißer sind - unabhängig der Messkriterien - im Schnitt immer besser als die von Afroamerikaner_innen, aber das sagt nicht allzu viel darüber aus, wer von dieser Ungleichheit am meisten profitiert. Was bedeutet es beispielsweise, wenn in einem Land mit 400 Milliardären 43 Prozent weißer Haushalte pro Jahr mit 10.000 bis 49.000 Dollar auskommen müssen? Natürlich hat eine verhältnismäßig weit größere Zahl von Schwarzen Menschen nicht mehr als diesen erbärmlichen Betrag zur Verfügung (65 Prozent, um genau zu sein), aber wenn wir nur die Durchschnittseinkommen weißer und Schwarzer Arbeiter_innen vergleichen, übersehen wir den viel dramatischeren Einkommensunterschied zwischen den Reichsten des Landes und allen anderen.
Wenn es nicht im Interesse gewöhnlicher Weißer liegt, rassistisch zu sein, warum billigen dann viele nach wie vor rassistische Ideen? Nun, es gibt viele Variationen dieser Frage: Warum billigen Männer sexistische Ideen? Warum übernehmen Schwarze Arbeiter_innen eine rassistische Antieinwanderungsrhetorik? Warum denken viele Schwarze Migrant_innen aus der Karibik und aus Afrika, dass Schwarze Amerikaner_innen faul sind? Warum pflegen die meisten amerikanischen Arbeiter_innen - egal welcher Ethnizität sie angehören - rassistische Vorstellungen über Araber_innen und Muslim_innen? Kurz, wenn es offensichtlich zu sein scheint, dass es im Interesse aller Arbeiter_innen liegen würde, sich zu vereinen, warum hängen Arbeiter_innen dann reaktionären Ideen an, die ein Hindernis für jede Vereinigung darstellen?
Der Wettbewerb um Ressourcen ist real
Es gibt zwei Hauptgründe: Wettbewerb und die ideologische Hegemonie der herrschenden Klasse. Der Kapitalismus schafft trügerischen Mangel, das heißt, die Wahrnehmung, dass es mehr Bedarf als Ressourcen gebe. Solange Milliarden für Krieg, Gerichtsvergleiche aufgrund von Polizeiübergriffen und öffentlich finanzierte Sportarenen ausgegeben werden, ist es schwierig, an Geldmangel zu glauben. Doch wenn es um Schulen, Wohnungen, Nahrungsmittel und andere Notwendigkeiten des täglichen Lebens geht, erklären uns Politiker, dass das Geld an allen Ecken und Enden fehlen würde. Kürzungen seien in diesen Fällen unvermeidlich. Der Mangel wird künstlich erzeugt, dennoch ist der dadurch hervorgerufene Wettkampf um die Ressourcen real. Menschen, die gezwungen sind, für die Notwendigkeiten des täglichen Lebens zu kämpfen, glauben oft die schlimmsten Gerüchte über andere Arbeiter_innen, weil sie ihre Konkurrenten sind. Sie bedürfen einer Rechtfertigung, um etwas für sich zu fordern, das sie anderen vorenthalten wollen.
Die dominante Ideologie einer Gesellschaft setzt sich aus den Ideen zusammen, die unsere Wahrnehmung der Welt bestimmen und anhand derer wir unserem Leben Sinn verleihen. Sie wird produziert von den Medien, der Unterhaltungsindustrie, dem Bildungssystem und anderen Mächten. Die politischen und ökonomischen Eliten formen die ideologische Welt, in der wir leben, zu ihrem Vorteil. Da wir in einer durch und durch rassistischen Gesellschaft leben, sollte es uns also nicht verwundern, wenn Menschen rassistische Ideen pflegen. Die entscheidende Frage ist, unter welchen Umständen sie diese Ideen ändern können. Es gibt einen Widerspruch zwischen der herrschenden Ideologie und den Erfahrungen, die Menschen in ihrem Alltag machen. Die Medien mögen die Öffentlichkeit mit einem ständigen Fluss an Bildern und Nachrichten überschwemmen und Schwarze dabei als Kriminelle und Sozialschmarotzer darstellen, aber die Erfahrungen, die Menschen mit Schwarzen Kolleg_innen am Arbeitsplatz machen, können diesen Stereotypen völlig widersprechen. Daher kommt die Behauptung vieler Weißer, nicht rassistisch sein zu können, »weil sie Schwarze Menschen kennen«. In ihrem Kopf mag das wahr sein. Das Bewusstsein von Menschen kann sich nicht nur ändern, es kann auch widersprüchlich sein.
Auch Afroamerikaner_innen, die antirassistischen Ideen anhängen, können gleichzeitig rassistische Vorstellungen über Schwarze Menschen haben. Sie sind Teil der rassistischen Gesellschaft, in der wir leben, und werden täglich rassistischen Stereotypen ausgesetzt. Die Entwicklung des Bewusstseins ist niemals linear. Sie pendelt ständig zwischen Bildern, die dem gesellschaftlichen common sense entsprechen, und Erlebnissen, die diese Bilder infrage stellen.
Bewusstsein durch gemeinsames Handeln
Ob eine bestimmte Gruppe von Arbeiter_innen reaktionäres, widersprüchliches oder revolutionäres Bewusstsein hat, ändert nichts daran, dass sie objektiv ausgebeutet und unterdrückt wird. Mithilfe des Bewusstseins kann eine Klasse jedoch von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden. Es hängt vom Bewusstsein ab, ob Arbeiter_innen ihre Lebensbedingungen durch gemeinsames Handeln radikal verändern können oder nicht. Duncan Hallas schrieb: »Nur ein Kollektiv kann eine grundlegend andere Sicht der Welt entwickeln und (zu einem gewissen Grad) die Entfremdung von manueller und intellektueller Arbeit überwinden, die allen - Arbeiter_innen wie Intellektuellen - eine unvollständige und fragmentierte Sicht der Wirklichkeit aufnötigt.«
Um also auf unser konkretes Beispiel zurückzukommen: Nur weil manche weiße Arbeiter_innen reaktionären Vorstellungen von Afroamerikaner_innen anhängen, ändern sich nicht die objektiven Fakten, dass die Mehrheit der Armen in den USA weiß ist, dass die Mehrheit der Menschen ohne Krankenversicherung weiß ist und dass die Mehrheit der Obdachlosen weiß ist. Es ist wahr, dass Schwarze und Latinos/Latinas in unverhältnismäßig höherem Maße von dem rauen ökonomischen Klima betroffen sind, das in den USA herrscht, aber sie teilen diese Realität mit der Mehrheit weißer Arbeiter_innen. Diese gemeinsame Erfahrung von Unterdrückung und Ausbeutung formt das Potenzial für einen gemeinsamen Kampf, um die Lebensbedingungen aller zu verbessern. Zu einem solchen Kampf kommt es nicht automatisch, und es gibt auch keine Garantie dafür, dass aus gemeinsamen ökonomischen Kämpf auch gemeinsame Kämpfe für die politischen Rechte Schwarzer, frei von Diskriminierung und Rassismus zu leben, hervorgehen. Aber politische Einigkeit - die erfordert, dass auch weiße Arbeiter_innen verstehen, wie wesentlich der Rassismus das Leben Schwarzer und lateinamerikanischer Arbeiter_innen bestimmt - ist der Schlüssel für die Befreiung aller.
Unsere Bewegungen brauchen theoretische, politische und strategische Klarheit, um sich den Herausforderungen der wirklichen Welt stellen zu können. Als 2012 die Schwarze Leiterin des öffentlichen Schulsystems Chicagos, Barbara Byrd Bennett, gemeinsam mit Bürgermeister Rahm Emanuel entschied, mehr als 50 Schulen zu schließen, von denen praktisch alle in Schwarzen und lateinamerikanischen Vierteln lagen, hätten sich da Schwarze Lehrer_innen, Schüler_innen und Eltern auf ihre Seite stellen sollen, weil sie selbst rassistische und sexistische Diskriminierung erfahren hat? Oder war es besser, gemeinsam mit dem Vizepräsidenten der Chicagoer Lehrergewerkschaft, einem weißen, heterosexuellen Mann, sowie mit Tausenden von weißen Lehrer_innen eine Bewegung aufzubauen, um das öffentliche Bildungswesen zu retten?
Es gibt wahrscheinlich wenige Menschen, die so viel an rassistischem Hass haben ertragen müssen wie Barack Obama. Obama zu verteufeln, ist heute gewissermaßen eine Abkürzung, um Rassismus zu verbreiten. Gleichzeitig hat Obama die Banken und die Wall Street von jeder Verantwortung für den Zusammenbruch der Ökonomie freigesprochen, mit dem Resultat, dass seit 2007 vier Millionen Häuser zwangsgeräumt wurden und mehr als zehn Millionen Menschen auf der Straße standen. Sollen Schwarze Arbeiter_innen das ignorieren und sich aufgrund einer »gemeinsamen Lebenserfahrung« hinter Obama stellen? Oder sollen sie sich mit den Weißen und Latinos/Latinas vereinen, die ebenfalls ihre Häuser verloren haben, um eine Politik anzugreifen, die immer und immer wieder die Interessen der Unternehmer über die Interessen der Arbeiter_innen und der Armen stellt? Will man diese Fragen abstrakt diskutieren, kann man sie sicher kompliziert machen. Aber wenn es darum geht, ein öffentliches Bildungssystem zu retten, eine wirkliche Gesundheitsreform durchzusetzen oder räuberische Zwangsenteignungen zu stoppen, dann müssen politische Bewegungen konkret Stellung beziehen.
Verkürztes Verständnis von Solidarität
Der »blinde Fleck«, den manche Antirassist_innen in Bezug auf Klassenpolitik offenbaren, führt nicht nur zu einem Unvermögen, Spaltungen in der Arbeiterklasse hinreichend zu erklären. Er führt auch dazu, die materiellen Grundlagen für Solidarität und Einheit in der Arbeiterklasse zu unterschätzen. »Solidarität« und »Einheit« werden darauf reduziert, ob jemand ein »Verbündeter« sein will oder nicht. Es ist nichts falsch daran, ein Verbündeter zu sein, aber dieses Konzept trägt den tatsächlichen Gemeinsamkeiten Schwarzer und weißer Arbeiter_innen nicht wirklich Rechnung. Weiße Arbeiter_innen können sich nicht einfach dafür entscheiden, nicht mit Schwarzen Arbeiter_innen verbunden zu sein, ohne selbst Schaden zu nehmen. Das Ausmaß der Angriffe auf die Arbeiterklasse ist überwältigend. In den USA gibt es eine systematische Anstrengung beider Parteien, auch noch die letzten Reste des Wohlfahrtsstaats zu beseitigen. Im Jahr 2013 wurde beispielsweise das Budget für Lebensmittelmarken um fünf Milliarden Dollar gekürzt. Das hatte katastrophale Auswirkungen auf das Leben von Millionen weißer Arbeiter_innen.
Unter solchen Bedingungen ist Solidarität nicht einfach eine Option. Vielmehr ist sie entscheidend dafür, dass Arbeiter_innen überhaupt die Möglichkeit haben, der ständigen Verschlechterung ihrer Lebensstandards etwas entgegenzusetzen. Solidarität ist nur möglich, wenn wir uns mit aller Entschlossenheit darum bemühen, weiße Arbeiter_innen für den antirassistischen Kampf zu gewinnen. Wir müssen die Lüge aufdecken, dass Schwarze Arbeiter_innen selbst daran Schuld sind, dass es ihnen noch schlechter geht. Weiße Arbeiter_innen müssen verstehen, dass auch sie Armut und Bitterkeit nicht entkommen werden, wenn sie sich den Kämpfen Schwarzer Arbeiter_innen nicht anschließen - auch wenn ihr Leben immer noch etwas besser als das Schwarzer Arbeiter_innen sein mag. Der Erfolg von Arbeiterkämpfen hängt davon ab, ob alle Arbeiter_innen sich als Brüder und Schwestern verstehen, deren eigene Befreiung unauflösbar mit der Befreiung aller Arbeiter_innen verbunden ist.
Solidarität bedeutet, sich mit Menschen zu vereinen, auch wenn du selbst deren spezifische Form der Unterdrückung nicht erfahren hast. Solange der Kapitalismus existiert, bringen materielle und ideologische Umstände Arbeiter_innen dazu, andere Arbeiter_innen als Konkurrenten zu sehen. Für weiße Arbeiter_innen kann das bedeuten, rassistische Vorstellungen zu übernehmen. Aber es gibt Momente des Kampfes, in dem die gemeinsamen Interessen der Arbeiter_innen offensichtlich werden und sich das Misstrauen endlich gegen die Richtigen wendet: die Plutokraten, denen es gut geht, weil es uns schlecht geht. Die entscheidende Frage ist, ob in diesen Momenten eine kohärente politische Analyse der Gesellschaft, in der wir leben, und der Unterdrückung und Ausbeutung, die wir erfahren, artikuliert werden kann; eine Analyse, die uns hilft, unsere Wirklichkeit zu verstehen und uns gleichzeitig eine andere Wirklichkeit vorzustellen; eine Analyse schließlich, die einen Weg skizziert, um zu dieser anderen Wirklichkeit zu gelangen.
Keine ernstzunehmende sozialistische Strömung der letzten hundert Jahre hat je verlangt, die Kämpfe von Afroamerikaner_innen oder Latinos/Latinas beiseite zu schieben, um andere Klassenkämpfe zuerst zu führen. Diese Vorstellung beruht auf der falschen Idee, dass die Arbeiterklasse weiß und männlich und daher unfähig sei, sich den Fragen von »Rasse«, »Klasse« und »Geschlecht« anzunehmen. Tatsächlich ist die amerikanische Arbeiterklasse weiblich, migrantisch, Schwarz, weiß, Latino/Latina und vieles mehr. Migration, Geschlecht und Antirassismus sind Fragen der Arbeiterklasse.
Keeanga-Yamahtta Taylor arbeitet und veröffentlicht zu Rassismus, Schwarzem Befreiungskampf und sozialen Bewegungen.
Übersetzung: Gabriel Kuhn
Anmerkungen:
1) Anspielung auf die Region New England im Nordosten der USA, dem »Geburtsort der amerikanischen Republik«.
2) Jack M. Bloom: Class, Race, and the Civil Rights Movement. Indiana University Press, Bloomington 1987, S. 20.
Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation
Der Text ist eine leicht gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung eines Abschnittes aus dem Buch »Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation«. Darin analysiert Keeanga-Yamahtta Taylor die historischen und politischen Hintergründe von Rassismus, sozialer Ungleichheit und Polizeigewalt in den USA. Das Buch erscheint in diesen Tagen beim Unrast Verlag und wurde übersetzt von ak-Autor Gabriel Kuhn.