Der Preis der Besatzung
50 Jahre Sechs-Tage-Krieg Israels demokratischer Minimalkonsens wird zunehmend ausgehöhlt
Von Achim Rohde
Am 1. Juni 2002, anlässlich des 35. Jahrestages der israelischen Besatzung Restpalästinas, wurde im Hamburger Völkerkundemuseum eine Ausstellung zum Thema »Palästina : Israel 2002 - Das Ende der Zukunft?« mit einem Symposium eröffnet, an dem u.a. die Historiker Moshe Zuckermann und Omar Kamil sowie die Ha'aretz-Korrespondentin Amira Hass teilnahmen. Die Referent_innen kritisierten die militärische Niederschlagung der zweiten Intifada durch Israel, wiesen auf das drohende Aus für eine Zweistaatenlösung infolge des Scheiterns des Oslo-Prozesses hin und diskutierten die Komplexitäten der deutschen Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Weitere 15 Jahre später ist nicht nur die Zukunft einer Zweistaatenlösung längst Vergangenheit. Vermutlich könnte auch eine Veranstaltung wie die erwähnte Ausstellung von 2002 in Deutschland heute nicht mehr stattfinden. Eine für Juni 2017 in Frankfurt geplante Tagung zum 50. Jahrestag der Besatzung oder eine für Mai angekündigte ähnliche Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing wurden beide unter dem Vorwand »mangelnder Ausgewogenheit« vorzeitig abgesagt. (1) Zu den ausgeladenen Referent_innen gehören Personen aus den akademischen und aktivistischen Milieus, die seit Jahrzehnten zum Stammpersonal der gelegentlich etwas abfällig so genannten israelisch-palästinensischen Dialogindustrie gehören und in Deutschland lange gut gelitten waren. In einem offenen Brief beklagen diese die Absage der Tutzinger Tagung als Ausdruck eines Übergreifens der autoritären Tendenzen in der israelischen Politik und der damit einhergehenden Delegitimierung von Gegner_innen der Besatzung auch auf die deutsche Debattenkultur.
Ausgrenzung der »Verräter«
Derzeit mehren sich Berichte in israelischen Medien, wonach Besucher_innen und Reisegruppen von israelischen Behörden an der Einreise gehindert wurden, weil ihre politischen Ansichten nicht genehm oder weil im Rahmen der Reise auch Besuche im Westjordanland vorgesehen seien. Linke israelische NGOs und Menschenrechtsorganisationen wie Breaking the Silence oder B'Tselem, die jüngst im Zusammenhang mit dem Besuch von Außenminister Gabriel in Jerusalem in den Schlagzeilen waren, sehen ihre Arbeit seit einigen Jahren massiven Behinderungen durch die israelische Politik ausgesetzt und werden in der Öffentlichkeit zunehmend als »Verräter« gebrandmarkt.
Damit machen diese jüdisch-israelisch geprägten Organisationen Erfahrungen, die für entsprechende palästinensische Organisationen seit langem zum Alltag gehören. Die Regierung Netanjahu hat es fertiggebracht, den für die jüdisch-israelische Bevölkerung in Israel/Palästina geltenden demokratischen Minimalkonsens soweit auszuhöhlen, dass der Weg zu einer aktiven Verfolgung von Gegner_innen der fortschreitenden Kolonisierung der besetzten Gebiete nicht mehr weit ist. Es ist bedrückend zu sehen, wie zutreffend die seit Jahrzehnten wiederholten Warnungen vor der korrumpierenden Wirkung der Besatzung waren. Dass diese nicht erst 1967 begann, sondern bereits im Jahr 1948 mit der Gründung des Staates Israel und der damit einhergehenden Vertreibung, Flucht sowie verhinderten Rückkehr von 800.000 Palästinenser_innen in ihre Heimat, verweist auf die im Zionismus angelegten strukturellen Gründe für die scheinbar ausweglose aktuelle Situation. Ein politischer Kompromiss zwischen Israelis und Palästinenser_innen auf Basis der Zweistaatenlösung wäre der Versuch gewesen, unter Anerkennung der historischen Tatsachen und mit dem Ziel der Vermeidung weiteren Unrechts eine für alle Seiten tragbare relative Gerechtigkeit zu etablieren. Dieser Versuch muss leider als gescheitert gelten.
Nach offiziellen israelischen Statistiken beträgt die israelische Bevölkerung derzeit 8,7 Millionen Menschen, davon sind 75 Prozent jüdische Israelis, 21 Prozent arabische Palästinenser_innen und 4 Prozent Andere (zumeist nicht-arabische Angehörige christlicher Konfessionen). Bei dieser Zählung wurden alle jüdischen Israelis einbezogen, also auch die ca. 420.000 israelischen Siedler_innen im Westjordanland, die offiziell gar nicht im israelischen Staatsgebiet leben. Die dort ebenfalls wohnhafte palästinensische Bevölkerung taucht in dieser Statistik aber nicht auf. Ihre Verwaltung obliegt offiziell der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ohne dieses Outsourcing unerwünschter Bevölkerungsgruppen sähe die Demografie aus zionistischer Perspektive deutlich weniger vorteilhaft aus: Palästinensische und israelische Statistiken beziffern die palästinensische Bevölkerung Israel/Palästinas übereinstimmend auf derzeit ca. 6,2 Millionen Menschen, darunter sind ca. 1,7 Millionen israelische Staatsbürger_innen.
Damit leben im historischen Mandatsgebiet Palästina heute zwei annähernd gleich große national definierte Gruppen, von denen aber nur eine Zugang zu Macht und vollen Bürgerrechten genießt. Bei Fortdauer des Status quo oder gar einer von Netanjahus Koalitionspartner und Bildungsminister Naftali Bennet (Jüdisches Heim) geforderten Annektierung des Westjordanlandes ist der Weg Israels in eine ethnisch segregierte Zweiklassengesellschaft unvermeidbar.
»Feindlich gegenüber allem Jüdischen«
Doch wer heute auf diese simplen Tatsachen hinweist, kann sich auf wütende Reaktionen und ggf. Sanktionen einstellen. Die Tageszeitung Ha'aretz etwa bildet in ihrer Berichterstattung einen Meinungspluralismus ab, der das gesamte politische Spektrum Israels widerspiegeln soll, auch wenn in den Editorials stets eine linksliberal-zionistische Linie vertreten wird und die israelische Besatzungspolitik eingehend und kritisch porträtiert wird. In den vergangenen Jahrzehnten konnte sich die Zeitung darauf verlassen, von Menschen aus unterschiedlichen politischen Milieus (sogar von Palästinenser_innen in den besetzten Gebieten) als journalistische Autorität anerkannt zu werden. Doch in der aufgeheizten gegenwärtigen Stimmung nimmt die gesellschaftliche und politische Fragmentierung zu und die Bereitschaft, das eigene Weltbild zu hinterfragen, ab.
In dem Kündigungsbrief zweier sich selbst als national-religiös bezeichnender langjähriger Ha'aretz-Abonnent_innen (in der hebräischen Ausgabe der Zeitung vom 17.4.2017) kommt diese Entwicklung exemplarisch zum Ausdruck: »Die Reportagen Gideon Levys hinsichtlich der Aktivitäten der israelischen Armee, insbesondere in Kriegszeiten, sind scheinheilig und zielen einzig und allein darauf, den gerechtfertigten und notwendigen moralischen Standpunkt der Armee zur Verteidigung der Bewohner_innen des Staates Israel zu schwächen ... Die einseitigen Artikel des Korrespondenten für Bildungsfragen, Or Kashti, der sämtliche Maßnahmen des Bildungsministeriums zur Stärkung der jüdischen Identität als gemeinsamer Basis der Erziehung aller israelischen Kinder ablehnt, zeigen uns, dass sein ganzes Streben der Zerstörung ... des israelischen Staates als jüdischer und demokratischer Staat gilt.«
Doch erst ein Artikel von Jossi Klein (in der hebräischen Ausgabe der Ha'aretz vom 13.4.2017) habe das Fass zum Überlaufen gebracht, denn dieser habe zum Boykott einer israelischen Firma aufgerufen, die große Summen an israelische Siedlungen im Westjordanland spende. Zudem habe er die national-religiöse israelische Rechte als gefährlicher für das Überleben Israels bezeichnet als selbst die Hisbollah - eine Aussage, die umgehend auch von führenden israelischen Politiker_innen aufgegriffen wurde, um die Ha'aretz als »feindlich gegenüber allem Jüdischen« zu diffamieren und vor Blutvergießen zu warnen, sollte sie ihren Ton nicht umgehend mäßigen.
Jenseits der Zweistaatenlösung
Die Zukunft Israel/Palästinas bleibt dennoch offen. Das ethnokratische israelische Herrschaftssystem ist nur mit viel Geld und Gewalt aufrechtzuerhalten und auf Dauer nicht durchsetzbar, zumal wenn in ein paar Jahren jüdische Israelis eine numerische Minderheit in Israel/Palästina sein werden. Weil die mit der Zweistaatenlösung anvisierte Aufteilung des historischen Mandatsgebietes Palästina in zwei ethnisch definierte Nationalstaaten infolge der räumlichen Verflochtenheit der jüdisch-israelischen und palästinensischen Bevölkerungen unrealistisch geworden ist, bleiben theoretisch zwei Optionen übrig: Einige Israelis haben sich eine alte Forderung linker PLO-Fraktionen aus den 1970er Jahren zu eigen gemacht und sehen die Lösung in einem binationalen Einheitsstaat vom Mittelmeer bis zum Jordan, der allen Bürger_innen ungeachtet ethnischer oder religiöser Kriterien gleiche Rechte gewährt.
Angesichts der Stärke beider Nationalismen sowie aufgrund der langen und bitteren Konfrontation und des Hasses auf beiden Seiten dürfte diese Option allerdings keine Chance auf Umsetzung haben. Eher schon wäre ein als consociational democracy (Konkordanzdemokratie) bezeichnetes Regierungssystem vorstellbar, in dem jüdische Israelis und Palästinenser_innen ähnlich wie im Libanon entlang eines festgelegten Proporzes Funktionen in einem gemeinsamen Staatswesen ausfüllen, gleichzeitig aber kommunale Angelegenheiten, Fragen der Bildung und des religiösen Lebens u.a. weitgehend autonom gestalten. (2)
Wie alle anderen vorstellbaren Lösungen ist auch diese Variante nur unter der Voraussetzung einer relativen Verteilungsgerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinenser_innen erfolgversprechend. An einer Umverteilung von Land, Ressourcen und politischer Macht zugunsten der Palästinenser_innen (inklusive Reparationen für die Flüchtlinge von 1948) führt kein Weg vorbei, wenn das Land nicht in einem endlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt gefangen bleiben soll. Vielleicht sind wir zum 75. Jahrestag des Krieges von 1967 so weit, über derartige Fragen ernsthaft diskutieren zu können.
Achim Rohde analysiert und kommentiert seit vielen Jahren den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Anmerkungen:
1) www.fr.de; www.ev-akademie-tutzing.de; www.sueddeutsche.de
2) Einen solchen Ansatz vertritt etwa der Tel Aviver Soziologe Yehouda Shenhav in seinem Buch »Beyond the Two-State Solution«, Cambridge 2012.