Verhärtete Fronten
International In Venezuela sollten linke Regierung und rechte Opposition den Dialog suchen
Von Tobias Lambert
Die Lage ist unversöhnlich. Seit Anfang April tragen rechte Opposition und linke Regierung in Venezuela ihren Machtkampf unerbittlich auf der Straße aus. Bisher sind über 40 Todesopfer und Hunderte Verletzte zu verzeichnen, für die sowohl staatliche Sicherheitskräfte als auch oppositionelle Gruppen verantwortlich sind. Acht Menschen starben zudem durch Stromschläge, als sie in El Valle, im Südwesten von Caracas, eine Bäckerei plündern wollten und mit Starkstromkabeln in Berührung kamen. Während die Regierung von Nicolás Maduro mindestens bis zu den kommenden Präsidentschaftswahlen Ende 2018 im Amt bleiben will, fordern seine Gegner_innen zeitnahe Neuwahlen. Nachgeben will niemand, ein realistischer Ausweg aus der politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise ist nicht in Sicht.
Maduro glaubt ihn dennoch gefunden zu haben. Am 1. Mai verkündete er, eine »Verfassunggebende Versammlung der Bürger« einzuberufen. Nicht Parteien oder Eliten, sondern verschiedene Sektoren wie die Arbeiterklasse, Bäuerinnen und Bauern, Frauen, Studierende und Indigene sollten eine neue Verfassung ausarbeiten, um die politische Krise zu überwinden, betonte der Staatschef. Er nannte die Zahl von 500 Delegierten, von denen bis zu 250 von sozialen Bewegungen und Basisorganisationen und die übrigen auf kommunaler Ebene gewählt werden sollten. Laut seinen Vorstellungen sollen unter anderem die Staatsgewalten neu geordnet werden, die Sozialprogramme sowie Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang bekommen und das Wirtschaftsmodell verbessert werden.
»Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung«, sagte Maduro zwei Tage später und stichelte in Richtung Opposition: »Ihr wolltet Wahlen, hier habt ihr Wahlen.« Seinen Gegner_innen versicherte er, dass sie sich an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligen können, sofern sie Kandidat_innen aufstellen. Die Opposition wies den Vorstoß wie erwartet zurück: »Wir können uns nicht an einem betrügerischen Prozess beteiligen«, sagte Oppositionsführer Henrique Capriles. Die Regierung könne die Verfassung »nicht gewaltsam außer Kraft setzen«. Darüber, wie die Wahl genau ablaufen wird, entscheidet nun der Nationale Wahlrat (CNE). Unter anderem ist strittig, ob zur Einberufung der Versammlung und Verabschiedung einer neuen Verfassung Referenden nötig sind. Die aktuelle Konstitution sieht dies nicht ausdrücklich vor, obwohl in ihr zahlreiche direktdemokratische Elemente enthalten sind.
Seit dem deutlichen Sieg des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen Ende 2015 schaukelt sich der politische Machtkampf kontinuierlich hoch.
Auf der einen Seite steht eine immer autoritärer agierende Regierung, die sich die Verfassung für die eigenen Zwecke zurechtbiegt. Auf der anderen Seite stilisieren sich die rechten Regierungsgegner_innen als Verteidiger_innen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit stets abgelehnt haben.
Weitgehend unstrittig ist indes, dass sich die staatlichen Gewalten häufig politisch instrumentalisieren lassen und der Machtkampf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme verhindert. Während die oppositionelle Parlamentsmehrheit seit Beginn vergangenen Jahres offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet und den übrigen Gewalten die Anerkennung verwehrt, regiert Maduro per Dekret. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert derweil die parlamentarische Arbeit und nickt jede noch so abenteuerliche Interpretation der Verfassung ab.
Das Parlament kann bereits seit Mitte vergangenen Jahres keine bindenden Entscheidungen mehr treffen, weil es unter Missachtung eines Urteils des TSJ drei Abgeordnete aus dem Bundesstaat Amazonas vereidigt hat, denen Stimmenkauf vorgeworfen wird. Auch der in Venezuela als eigene Gewalt fungierende Nationale Wahlrat kommt seiner verfassungsmäßigen Rolle nur noch bedingt nach. Nicht nur stoppte er im vergangenen Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum gegen Maduro wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung. Auch verschleppt der CNE die laut Verfassung für Ende vergangenen Jahres vorgesehenen Regionalwahlen und hat im Februar eine Neuregistrierung fast aller politischen Parteien angeordnet. Ein Ende Oktober vergangenen Jahres begonnener Dialog zwischen Regierung und Teilen der Opposition, den unter anderem der Vatikan vermittelt hatte, kam nicht über die Anfangsphase hinaus.
Zum Auslöser der heftigsten Proteste seit 2014 wurde in diesem Kontext ein Urteil des TSJ Ende März, in dem das Gericht beschlossen hatte, die Kompetenzen der Nationalversammlung selbst zu übernehmen. Nachdem die regierungsnahe Generalstaatsanwältin Luisa Ortega während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen von einem »Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung« gesprochen hatte und daraufhin Präsident Maduro intervenierte, nahm das Gericht die umstrittenen Beschlüsse zurück. Weiteres Öl ins Feuer goss der Rechnungshof, der gemeinsam mit der Generalstaatsanwältin und dem Ombudsmann für Menschenrechte laut venezolanischer Verfassung ebenfalls eine eigene Gewalt darstellt. Am 7. April erkannte er dem prominenten Oppositionsführer Henrique Capriles unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen für 15 Jahre das passive Wahlrecht ab. Neben dem wegen Anstachelung zur Gewalt seit drei Jahren inhaftierten Leopoldo López galt Capriles bisher als aussichtsreichster Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018.
Auf fruchtbaren Boden fallen die derzeitigen Proteste vor allem aufgrund der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise, in der die Regierung keine gute Figur macht. Die Schuld daran lastet Maduro alleine dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Das System unterschiedlicher Wechselkurse und Devisenkontrollen etwa, das 2003 eingeführt wurde, um Kapitalflucht zu unterbinden, öffnet kleinen und großen Betrügereien Tür und Tor.
Die unabhängige Stimme: Luisa Ortega
Anders als häufig medial behauptet, wird die Opposition die Regierung durch die überwiegend von der Mittel- und Oberschicht getragenen Proteste jedoch kaum in die Knie zwingen. Zum einen steht die Militärführung, die nicht zuletzt wirtschaftlich von der Regierung profitiert, weiterhin demonstrativ hinter Maduro. Daran ändern auch die wiederholten Aufforderungen oppositioneller Politiker_innen an das Militär nichts, sich auf die Seite der Regierungsgegner_innen zu stellen. Zum anderen herrscht zwar auch in den chavistischen Hochburgen der barrios (Armenvierteln) Unzufriedenheit mit der Regierung. Die meisten Menschen dort wollen mit der Opposition jedoch aus guten Gründen nichts zu tun haben, da sie die ersten wären, die unter einer rechten Regierung zu leiden hätten.
Inmitten verhärteter Fronten profiliert sich die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega indes als unabhängige Stimme innerhalb der staatlichen Institutionen. Ende April wendete sie sich eindringlich gegen die Aktionen gewalttätiger Gruppen, nannte aber auch konkrete Beispiele, in denen der Staat die Rechte der Protestierenden etwa durch willkürliche Festnahmen verletzt habe. »Wir müssen endlich damit aufhören, uns als Feinde zu betrachten«, betonte sie und sprach sich für die Wiederaufnahme des Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialoges aus. Niemand in Venezuela wolle einen Bürgerkrieg oder Einmischung von außen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft seien Andersdenkende von fundamentaler Bedeutung. Anfang Mai legte sie in ihrer Kritik nochmal nach. »Wir können von den Bürgern nicht verlangen, sich friedlich und gesetzestreu zu verhalten, wenn der Staat Entscheidungen trifft, die gegen das Gesetz verstoßen«, sagte sie gegenüber der US-amerikanischen Tageszeitung The Wall Street Journal. An der aktuellen Verfassung sei nichts zu verbessern: »Es ist die Verfassung von Chávez.«
Eine neue Magna Charta würde die bolivarianische Verfassung von 1999 ersetzen, die zu Beginn der Regierungszeit von Hugo Chávez als eines seiner zentralen Wahlversprechen verabschiedet worden war. In der Vergangenheit hatten Chávez und viele seiner Anhänger_innen die Verfassung immer wieder als »beste der Welt« bezeichnet. Im Jahr 2007 scheiterte der Versuch, Venezuela durch eine breite Verfassungsreform als sozialistischen Staat zu definieren, knapp an den Wahlurnen. Maduro sprach denn auch nicht davon, die bestehende Verfassung komplett zu verwerfen. Vielmehr solle sie »perfektioniert« und »Chávez' Traum vollendet« werden.
Wenngleich Maduro mit seinem Vorstoß bei vielen chavistischen Basisbewegungen punkten könnte, die seit Langem eine Vertiefung der partizipativen Demokratie fordern, ist es fraglich, ob die politische Krise im Land dadurch beigelegt werden kann. Eine neue Verfassung braucht vor allem Legitimität. Doch die bisherigen Reaktionen deuten weder auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens noch auf fruchtbare Debatten hin.
Ist diese Verfassung das Problem?
Dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet, scheint mittlerweile kaum mehr möglich. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Eine Machtübernahme der rechten Opposition, die ideologisch kaum mehr als die Ablehnung der Regierung und der Glaube an die Kräfte des freien Marktes eint, hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit jedoch fatale Konsequenzen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben.
Eine linke Alternative, die sowohl unzufriedene Chavist_innen als auch mit den Oppositionspolitiker_innen unzufriedene Regierungsgegner_innen absorbieren könnte, hat sich bisher jedoch nur in Ansätzen herausgebildet. Dazu gehört etwa der sogenannte kritische Chavismus, zu dem sich Marea Socialista (eine Abspaltung von der Regierungspartei PSUV), einige von Chávez' Ex-Minister_innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Auch dessen Vertreter_innen äußerten sich ablehnend gegenüber der Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. »Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre permanente Verletzung?«, fragte etwa Miguel Rodríguez Torres, Innenminister zwischen 2013 und 2014. Nicmer Evans von Marea Socialista sprach vom »klaren Verrat an Chávez und der Bevölkerung«. Venezuela wäre derzeit wohl am meisten geholfen, wenn sich sowohl Regierung als auch Opposition an diese Verfassung halten und den Dialog suchen würden.
Tobias Lambert schrieb bereits in ak 617 über den Machtkampf zwischen Regierung und Oppostion in Venezuela.