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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 627 / 16.5.2017

Gipfelproteste nach dem Empire

Diskussion Hafenblockade, linke Gegenentwürfe und Organisationsfrage - wozu die G20-Protesttage in Hamburg gut sein sollten

Von David Doell

Im Bewegungsblog des neuen deutschland warfen Tadzio Müller (Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Alexis Passadakis (attac) am 7. April die Frage auf, warum die (außerparlamentarische) Linke im Juli gegen das G20-Gipfeltreffen in Hamburg mobilisiert. Nach der Weltwirtschaftskrise von 2008, so ihr Argument, sei die Hegemonie des Neoliberalismus gebrochen. Mit dem Bewegungszyklus der letzten Jahre sei zudem das linke Projekt wieder sichtbar geworden. Gipfelproteste seien, anders als in den 2000er Jahren, daher vor allem ineffektiver Symbolismus: »Der Mittlerweileschonvielzuspät-Neoliberalismus kann seit dem Crash von 2008 kaum noch als hegemonial bezeichnet werden (trotz seiner Allgegenwart), er ist eher zu einer Strategie der Dominanz mutiert. Dementsprechend hat sich auch das Terrain geändert, auf dem Bewegungen agieren: Sichtbarkeit besteht, jetzt geht es darum, Hebel der strategischen Durchsetzung unserer Ziele zu finden. Dies ist die Frage, die sich während der Platzbesetzungen in Spanien, Griechenland und den USA stellte. Es geht darum, Regierungen zu stürzen, sie manchmal sogar, wie in Griechenland oder auf der lokalen Ebene in Spanien, selbst zu stellen.«

Bei so viel Optimismus, was die Weltlage und den Stand unserer Kämpfe angeht, stellt sich die Frage, ob die Linke die Niederlage in Griechenland 2015, den Brexit oder die Wahl von Donald Trump schon richtig verarbeitet hat. Während sich global besonders im letzten Jahr eine Rückkehr der Rechten zeigte, ist in Deutschland mit der Ernennung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD die Regierungsoption Rot-Rot-Grün so realistisch wie lange nicht mehr. Das Institut Solidarische Moderne (ISM), Thinktank für eine rotrotgrüne Regierungsoption, schrieb angesichts der Hegemonieschwäche des neoliberalen Kapitalismus Anfang März auf seiner Website, 2017 gehe es darum, eine gesellschaftliche Mehrheit für das Projekt eines sozialökologischen Gesellschaftsumbaus anzuvisieren: »Im Jahr der Bundestagswahl setzen wir auf eine Politisierung des aktiven gesellschaftlichen linken Lagers.«

Wozu noch Gipfelproteste

Tadzio Müller und Alexis Passadakis scheinen grundsätzlich eine ähnliche Situation zu beobachten. Im Rückblick auf die globalisierungskritischen Mobilisierungen der 2000er Jahre beschreiben sie eine Abfolge sinnvoller Gipfelproteste, die aber wegen des Crashs von 2008 und des Wiedererstarkens linker Bewegungen nicht mehr zeitgemäß seien. Dem wäre entgegenzuhalten, dass linke Bewegungen nicht grundsätzlich von der Krise des Neoliberalismus profitieren konnten. Das politische Feld wird vielmehr von einer verschärften neoliberalen Austeritätspolitik einerseits und einer neofundamentalistischen bzw. reaktionären Tendenz andererseits bestimmt.

Auch vermengt der Artikel unterschiedliche Erfahrungsstände heterogener Bewegungen zu einem seltsam einheitlichen Bild. Der griechische Bewegungszyklus, von den Aufständen und Generalstreiks ab 2008 bis zum Wahlsieg der linkssozialdemokratischen SYRIZA 2015, die zuvor zehn Jahre als Wahlbündnis und linke Bewegungspartei gewirkt hatte, lässt sich aber kaum mit den Anti-TTIP-Demonstrationen und Willkommensinitiativen in Deutschland vergleichen.

Nun gibt es auch in Deutschland tendenziell linke Bewegungen. Aber der Glaube, dass hier nur noch nach dem richtigen Hebel gesucht werden müsse, um linke Positionen durchzusetzen, verkennt die Lage. Insgesamt waren die sichtbaren politischen Mobilisierungen seit 2013 in Deutschland deutlich von rechts geprägt. Ein Ergebnis ist, dass sich mit der AfD zum ersten Mal seit 1945 eine extrem rechte Partei bundesweit nachhaltig formieren konnte. Die tendenziell linken Bewegungen in Deutschland (Migrations- und Willkommensbewegungen, ökologische, Anti-Freihandels- und Recht-auf-Stadt-Bewegungen) stehen keineswegs kurz davor, die Regierung zu »stürzen« - es sei denn, man versteht darunter auch einen theoretisch denkbaren Wahlerfolg von Rot-Rot-Grün.

Angesichts der erstarkenden Rechten einerseits und der Möglichkeit einer »linken« Reformregierung bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Mobilisierungsschwäche von links andererseits ist es falsch, die Frage nach der Eroberung der politischen Macht vor der Frage nach einer antagonistischen linken Perspektive (in Organisationsform, Subjektivität, und Klassenbewusstsein) zu stellen. Anders als Tadzio Müller und Alexis Passadakis denke ich, dass weder eine linke Subjektivität noch eine Organisationsform noch ein ideeller Forderungskatalog schon existieren. Die Mobilisierungen gegen den G20-Gipfel könnten aber dazu beitragen, zu diesen drei Faktoren etwas auszusagen.

Zerfallendes Empire, planlose Multitude?

Um sich einer Antwort anzunähern, wie dies geschehen könnte, lohnt ein Blick auf die Theorieproduktion, die den globalisierungskritischen Bewegungszyklus ab 1999 begleitete. Die »Empire«-Trilogie von Michael Hardt und Antonio Negri avancierte Anfang der 2000er Jahre zur zentralen Inspirationsquelle dieser Bewegungen. Dank der postoperaistischen Hypothese, dass die Nationalstaaten an Bedeutung verlören und sich demgegenüber Mechanismen der »Biomacht« (1) ausbreiteten, konnte die Linke - nach dem Verlust ihres bisherigen revolutionären Subjekts, der Arbeiterklasse - einen neuen, umfassenden Antagonismus geltend machen: den zwischen dem tendenziell weltumspannenden »Empire« und der »Multitude« (Menge, Vielheit).

Gehen wir vom metaphorischen Konzept des »Empire« aus, so zeigt sich, dass die G20, die Gruppe der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer, so nah an eine »repräsentative Weltregierung« heranreichen wie keine multinationale Institution zuvor: »Die G20-Staaten repräsentieren knapp über 80 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP), drei Viertel des Welthandels und rund zwei Drittel der Weltbevölkerung«, schreibt die Bundesregierung voller Stolz auf ihrer Webseite. Die G20 sind die Folgeinstitution der G7/G8, die seit der Finanzkrise von 2008 versucht, die sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) stärker in die globale Governance-Struktur einzubeziehen. Gleichzeitig ist sie noch eine »instabile« Institution, die ihre Wirksamkeit mit jedem Gipfel erst wieder beweisen muss.

Das Gipfeltreffen wird seit 2011 zum ersten Mal in einem Staat des kapitalistischen Westens abgehalten. Drei Jahre nach der Weltwirtschaftskrise war 2011 das Jahr der Platzbesetzungen - auch in Europa -, der Aufstände in arabischen Ländern, der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Dennoch konnten sich diese Bewegungen seither weder in einem europäischen, geschweige denn globalen Rahmen als Widerstandsprojekt formieren.

Mit den Protesten im Juli könnte dafür ein neuer Ansatzpunkt gefunden werden. In Hamburg wird sich zeigen, ob über die Blockupy-Proteste hinaus heute eine (trans-)europäische Mobilisierung möglich ist. #BlockG20 und #ColourTheRedZone werden den Antagonismus zwischen der »Proto-Weltregierung« und den Regierten symbolisch sichtbar machen. Nicht unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Gipfel quasi nur einen Steinwurf entfernt von widerständigen Kiezen stattfindet und nicht auf dem Land wie der G7-Gifpel in Elmau 2015. Der Kampf um die Stadt, der etwa als Kampf gegen Gefahrengebiete, Gentrifzierung und rassistische Diskriminierung die ganze Zeit schon stattfindet, kann sich hier exemplarisch verdichten und Gehör verschaffen.

Auf der »aristokratischen Ebene« des »Empire« will die Hafenblockade ansatzweise einen materiellen wie symbolischen Schaden gegen die Logistik des Kapitals erreichen. Die griechischen Erfahrungen haben gezeigt, dass die Übernahme der Regierung aus linker Perspektive wirkungslos bleibt, wenn sie nicht von einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der nationalen Bourgeoisie begleitet wird. Dafür wäre es wichtig, neue Handlungsmöglichkeiten zur Unterbrechung der Kapital- und Warenzirkulation zu finden. Wenn die Macht im 21. Jahrhundert auch in der Logistik und ihrer Infrastruktur liegt, wird dies ein strategischer Ort im Klassenkampf im 21. Jahrhundert sein. Bei der Hafenblockade geht es darum, in verkörperter Praxis ein Beispiel zu geben, wie an Knotenpunkten der Warenzirkulation der Widerspruch von Kapital und Arbeit ausgetragen werden kann.

Drittens wird sich auf der »demokratischen Ebene« des Empire zeigen, inwiefern die heterogenen Akteure des Gegengipfels (2) den Antagonismus - jenseits der falschen Wahl zwischen verschärftem Neoliberalismus und nationalistischem Autoritarismus - mittragen. Dort wird eine Entscheidung stattfinden, wie weit diese Akteure zu gehen bereits sind sowohl in der Kritik des Bestehenden wie bei der Skizzierung einer Alternative. Das Aneignen der Stadt, die symbolische Unterbrechung der Warenzirkulation und das Erstellen eines ideellen Gegenprogramms - das sind die Einsätze, mit denen das »Empire« in Hamburg symbolisch herausgefordert werden könnte.

Blockade als Klassenkampf

Am Gipfeltreffen der G20 stellen sich vielfache Fragen der kollektiven Subjektwerdung. »Wir« werden danach auf eine aktivistische »Generation Block-G20« blicken, die sich in den Gipfelprotesten politisiert und radikalisiert hat, die zum ersten Mal seit der Krise 2008 ein transnationales Zusammenkommen in den Kämpfen erfahren konnte. Indem die Inszenierung der Proto-Weltregierung gestört, die Logistik des Kapitals symbolisch angegriffen und Gegenkonzepte demokratisch formuliert werden, wird sich ein »solidarischer Pol« viel eher Sichtbarkeit verschaffen können als in einem Lagerwahlkampf für Rot-Rot-Grün. Nicht zuletzt die »linken« Parteien stellt die Gipfelmobilisierung damit auf die Probe: Sind sie wesentlich Wahlparteien, die mit Blick auf die Bundestagswahl im September in ihren Büros den Wahlkampf besprechen, oder sind sie Bewegungsparteien, die im Juli mit Zehntausenden Menschen auf die Straße gehen und für eine grundlegend andere Wahl kämpfen?

Langfristig wird es darum gehen, dass wir die Erfahrungen aus den Mobilisierungen gegen G20 in unseren Bewegungszusammenhängen zur Konstitution einer »Bewegung der Bewegungen« nutzen. Davon sind wir heute noch weit entfernt, doch wird diese strategische Übereinkunft im Angesicht der regressiven Tendenzen immer dringlicher. Michael Hardt und Antonio Negri waren noch von einem grundlegend positiven neuen Antagonismus von »Empire« vs. »Multitude« ausgegangen. Heute müssen wir den Rückfall des Empire (falls jemals davon zu sprechen war) in Imperialismus und nationale Konkurrenz konstatieren. Wenn wir die globalisierungskritischen Proteste und die beindruckenden Bewegungen der letzten Jahre kritisch analysieren, müssen wir dann nicht sagen, dass trotz aller »Multituden-Kreativität« von der Besetzung des Tahrir-Platzes bis Occupy Wall Street der strategische Vorrang der Klassenkämpfe in keinem der Aufstände, keiner Revolte oder Regierungsübernahme widerlegt werden konnte? Heterogene Akteure können entlang thematischer Konstellationen zwar die Hegemonie der Herrschenden aufbrechen, die Machtfrage ohne Klassenorganisation allerdings noch nicht stellen.

Für die Mobilisierungen gegen G20 bedeutet das, dass beim Experimentieren mit der Protestform der Widerspruch von Kapital und Arbeit berücksichtigt werden muss. So wäre etwa mit einer Hafenblockade als Hafenstreik eine neue Qualität in breitem zivilen Ungehorsam gewonnen. Die Bewegung in Frankreich letztes Jahr gegen das neue Arbeitsgesetz (Loi Travail) konnte einzelne Momente des Zusammenschlusses von »Multituden-Subjekten« und Arbeiterklasse in Blockade und Streik sichtbar machen: Streik innen, Blockade außen, Zustimmung drumherum. Das könnte auch eine Weiterentwicklung für »zivilen Ungehorsam« sein, der in Massenbewegungen wirklichen ökonomischen Schaden anrichtet und politische Wirkung entfaltet.

David Doell studiert Philosophie mit Schwerpunkt Kritik des Postmarxismus und ist aktiv bei der Interventionistischen Linken.

Anmerkungen:

1) Unter Biomacht verstand der Philosoph Michel Foucault die zeitgenössische Form bevölkerungspolitischer Machtpraktiken, mit denen sowohl Menschen und Körper als auch die Bevölkerung insgesamt reguliert und »regiert« werden. Der springende Punkt dabei ist, dass Biomacht - die Macht über das Leben - nicht zuerst vom Moment der Repression, sondern von dem der Produktion gedacht werden muss. Sie umfasst jene Mechanismen und Diskurse, die die gelehrigen Körper ausrichten und in Bewegung setzen. In »Empire« sind Michael Hardt und Toni Negri der Frage nachgegangen, wie genau die Verbindung von Biomacht und Kapitalismus zu denken ist und was politisch daraus folgt.

2) www.g20hamburg.org