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NoG20 Nach Arabischem Frühling, Indignados, Occupy und Gezi: Warum der Protestzyklus 2011-2013 zerfallen ist
Von Peter Birke und Max Henninger
Gerade auch radikale Linke stellen sich Ereignisse wie den G20-Gipfel gerne als Showdown vor. Die weltpolitischen Eliten versammeln sich an einem Ort, um dort unter großer medialer Aufmerksamkeit und erheblichen Sicherheitsvorkehrungen ihrem Geschäft nachzugehen: jenen Zeitpunkt weiter aufzuschieben, an dem das kapitalistische Weltsystem in seine sich ankündigende Agonie eintritt. Wir Kritiker_innen dieser Eliten antworten, indem wir unseren Protest an ebendiesen Ort tragen. Unser Protest muss mit bescheideneren Mitteln auskommen als das Großereignis, das ihn veranlasst. Er ist stärker angewiesen auf den Erfindungsreichtum und die Entschlossenheit derer, die ihn tragen. Kein Kampf der Gigant_innen, eher David gegen Goliath. Aber dennoch ein Showdown. High Noon in Hamburg.
Krisenproteste: Politik der Plätze
Bei aller reeller Gegnerschaft und Ernsthaftigkeit der politischen Ansprüche bleiben die Proteste immer auch eine Inszenierung. Jedenfalls wäre es ein Fehler, auch die Welt jenseits solcher Großveranstaltungen voreilig und ausschließlich nach dem Schema »Macht trifft auf Protest« zu deuten. Denn einerseits erzählt der Alltag nach dem Großereignis mitunter eine andere Geschichte - die inszenierte Gegenmacht wird vielfach durch die Katerstimmung abgelöst, die tagtägliche Ohnmachtserfahrungen hervorrufen. Diese Geschichten müssen auch erzählt und verändert werden, sonst ergibt unser Protest gar keinen Sinn. Aber ebenso wichtig erscheint, neu über die Bedeutung von Protest überhaupt nachzudenken. Denn die Bilanz der weltweiten Protestbewegungen der vergangenen Jahre bleibt, vorsichtig ausgedrückt, zwiespältig - und auch dies lässt die Frage nach der Reichweite unserer Gegeninszenierung umso dringlicher erscheinen.
In der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online und dem Sammelband »Krisen Proteste« (1) sind wir und andere anlässlich des Protestzyklus von 2011 dem Zusammenhang von krisenhafter kapitalistischer Entwicklung und Protest nachgegangen. Damals, vor wenigen Jahren, schien die Welt in der Krise, aber auch im Aufbruch. Beispiele haben wir damals weniger in der Bundesrepublik gesucht, in der nur wenige Monate nach der tiefen ökonomischen Verwerfung von 2009/2010 soziale Konflikte scheinbar suspendiert waren. Bezugspunkte waren vielmehr die Bewegungen gegen die autoritären Regimes im Arabischen Frühling, die Indignados und die Massenbewegungen gegen das Austeritätsregime, Occupy Wall Street. Der Zyklus endete im Grunde 2013 mit den Gezi-Park-Protesten in der Türkei. Gemeinsam schien all diesen Aktionen eine »Politik der Plätze«, in der unterschiedliche soziale Forderungen mit der unmittelbaren Aneignung des öffentlichen Raums sowie entwickelten Formen direkter Demokratie verbunden wurden.
Schon 2011 stellte sich uns der Zusammenhang zwischen »Krisen« und »Proteste« alles andere als linear dar. Zwischen den beiden Worten schien uns ein Leerzeichen zu stehen. Nur ein Jahr später mussten wir konstatieren, dass eine zwar nicht weltweit, aber doch vielerorts zu beobachtende Verlaufsform kapitalistischer Entwicklung die Zerstörung der Möglichkeiten von Protest zur Folge hat: periodische Hungersnöte wie in Ostafrika, Entstaatlichungskriege wie in Libyen und Syrien. Die Gezi-Park-Proteste und ihre Zerschlagung läuteten dann das Ende eines Zyklus ein, in dem emanzipatorische, antikapitalistische Forderungen die Sozialbewegungen eindeutig dominierten. Was geschah danach?
Diese Frage zu beantworten, ist eine schwierige Aufgabe, der wir uns hier nur sehr grob annähern können. Uns scheint, dass »Protest« - regional differenziert - seitdem in drei Formen zerfallen ist: Er erscheint als fragmentiert, institutionalisiert und repressiv bearbeitet.
Dabei gilt für die Bundesrepublik vor allem der erste Modus, die Fragmentierung. Ja, es gab Proteste, und zwar auch gegen die Austeritätspolitik. Vor allem die Recht-auf-Stadt-Bewegungen haben an den Protestzyklus von 2011 angeknüft - und sie haben eine Zeit lang recht erfolgreich Gentrifizierungsprozesse und Verwerfungen auf lokalen Wohnungsmärkten thematisiert. 2014 und 2015 fanden dann die umfangreichsten Arbeitskämpfe seit Jahrzehnten statt - teilweise, wie im sogenannten Kita-Streik, waren sie direkt gegen lokale und zentralstaatliche Ressourcenverknappung gerichtet. Und schließlich haben auch die Solidaritätsbewegungen mit neuen Migrant_innen - von der Lampedusa-Gruppe in Hamburg bis hin zur Welcome-Bewegung - für viel Aufsehen gesorgt. Doch die Bezugnahme dieser Bewegungen aufeinander war sehr schwach. Solidarische Kooperationen über Grenzen hinweg wurden oft nur implizit oder am Rande befördert. Versuche, eine Solidarität emanzipatorischer Sozialbewegungen wenigstens innerhalb Europas zu entwickeln, waren als Kampagne ansehnlich, haben aber so gut wie keine Kontinuität entfaltet.
Zweitens haben sich derweil die Sozialbewegungen in Südeuropa zunehmend institutionalisiert. Zum tragischen Beispiel SYRIZA muss wohl kaum noch etwas gesagt werden. Mit Podemos in Spanien geht eine weniger dramatische, inhaltlich aber ähnliche Entwicklung einher. Aus Befürworter_innen von antineoliberalem Widerstand sind nicht selten diejenigen geworden, die angeblich sozialverträgliche Sparprogramme verantworten. Das heißt nicht, dass es keine Sozialproteste mehr gibt: Es gibt sie, etwa in Griechenland und Italien. Aber sie haben es häufig mit politischen Gegner_innen und/oder Verhandlungspartner_innen zu tun, die aus der eigenen Geschichte hervorgegangen sind.
Die autoritäre Wende
Drittens ist die transnationale Bewegung gegen den Neoliberalismus durch die autoritär-repressive Wendung in vielen Staaten erstickt worden. Das wichtigste, für uns problematischste Element dieser Wendung ist die Bewegungsform, die rechte und faschistische Organisationen und Parteien angenommen haben. Das gilt auch für die »protestförmige« Rechte in Deutschland, von PEGIDA bis hin zu großen Teilen der AfD. Schlimmer noch verhält es sich dort, wo autoritäre Organisationen, wie in Ungarn oder der Türkei, den Staat partiell oder vollständig gekapert haben und jetzt ihre Gegner_innen mit Repression überziehen. Und diese Entwicklungen erscheinen noch gemäßigt im Vergleich zur Erstickung der emanzipatorischen Impulse des Arabischen Frühlings in Ägypten und anderswo. Keine Spur mehr von Protest - es geht dort ums nackte Überleben.
Was wir 2011 als schwache Verbindung von Protesten und Bewegungen auf globaler Ebene sahen, ist zerfallen. In einer Zeit, da sich die Zeichen für die aufkommende finale Krise des kapitalistischen Weltsystems häufen, werden die Grenzen des Paradigmas »Protest« erkennbar. Die Frage ist berechtigt, ob dieses Paradigma noch in den Mittelpunkt langfristiger antikapitalistischer Strategiebildung gehört. Jason W. Moore hat dargelegt, wie der weltweite Fortschritt kapitalistischer Inwertsetzung nach und nach jene Peripherien des Systems vernichtet, auf denen Akkumulation bislang beruht hat. (2)
Der Zugriff auf billige Arbeitskräfte, Nahrungsmittel, Energie und Rohstoffe ist, vor allem aufgrund der ökologischen Krise, immer weniger gewährleistet. Während die Herausforderungen zunehmen, schwinden die Ressourcen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Ob den Bemühungen kapitalistischer Eliten, einen Ausweg aus dieser für sie brisanten Entwicklung zu finden, mit Protest begegnet wird, ist womöglich eine nachrangige Frage. Vielerorts geht es heute zunächst einmal darum, die Ausbreitung von Entstaatlichungskriegen syrischen Typs zu verhindern, also für den Erhalt einer Gesellschaftlichkeit zu sorgen, in der die Menschen nicht auf Generationen traumatisiert und durch ihre gesamte Erfahrungsstruktur auf immer stärker gewaltförmige Bewältigungsstrategien festgelegt sind.
Das ist, wie Christian Parenti anschaulich dargelegt hat, für jene äquatornahen Gebiete Afrikas, Asiens und Lateinamerikas von besonderer Bedeutung, die über Jahrzehnte von der Gewaltgeschichte des Kalten Krieges geprägt worden sind (der so kalt dort oft nicht war) und auf deren Ressourcen- und Ernährungslage sich heute der Klimawandel besonders verheerend auswirkt. (3) In den Slums von Brasilien und Mexiko, den kenianischen Dürregebieten, in Afghanistan, Syrien, Pakistan und Indien ist der Bürgerkrieg bereits Alltag.
Diese Entwicklung einzudämmen und nach Möglichkeit rückgängig zu machen, wäre vielleicht Hauptaufgabe eines global ausgerichteten Antikapitalismus, denn nur in intakten, nicht von Krieg und Gewalt zerrissenen Gesellschaften kann sich auf eine nachkapitalistische Welt anders vorbereitet werden als durch fortgesetzte Selbstzerstörung. Das ist aber keine Frage von Protest mehr, eher eine von praktischer Solidarität.
Peter Birke und Max Henninger sind Redakteure der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online. Alle Hefte sind unter sozialgeschichte-online.org einsehbar.
Anmerkungen:
1) Peter Birke, Max Henninger (Hg.): Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online. Berlin und Hamburg 2012.
2) Jason W. Moore: Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital. London und New York 2015.
3) Christian Parenti: Im Wendekreis des Chaos. Klimawandel und die neue Geografie der Gewalt. Hamburg 2013.
Diskutieren
65 Organisationen und Initiativen haben sich zusammengetan und zum Auftakt der Proteste gegen die G20 den »Gipfel für globale Solidarität« auf die Beine gestellt. Auf die Teilnehmenden des Alternativgipfels warten elf Podiumsveranstaltungen und über 70 Workshops, unter anderem zu Neoliberalismus und Globalisierungskritik, Commons, Friedensbewegung, Klimagerechtigkeit und Solidarität gegen Abschottung und Rassismus. Vertreten sind Aktivist_innen, Wissenschaftler_innen sowie weitere politisch Aktive aus über 20 Ländern mit einer großen Bandbreite an politischen Projekten: Dabei sind nicht nur Nichtregierungsorganisationen und Parteiinitiativen wie Barcelona en comú, die indigene Partei Pachakutik aus Ecuador, die türkische Emek Partisi oder die PYD aus Nordsyrien, sondern auch lokale und transnationale Netzwerke und Initiativen wie Afrique-Europe-Interact, Women in Exile sowie Vertreter_innen von Bewegungen wie dem Movimiento Migrante Mesoamericano oder der US-amerikanischen Friedensbewegung.
-> www.solidarity-summit.org
Blockieren
Der G20-Irrsinn: eine demokratiefreie Zone von 38 Quadratkilometern, in der alle Proteste verboten sind, 400 Millionen Euro an Kosten. Unter dem Motto »Colour the Red Zone« wird dazu aufgerufen, mit Zehntausenden die Straßen im Herzen Hamburgs wieder anzueignen und den G20-Gipfel zu blockieren. (www.blockg20.org) Auch der Hamburger Hafen wird vom Protest nicht verschont bleiben. Die Logistik des Kapitals lahmlegen soll dort eine zweite Blockade. Die »Social Strike Action« will neue Wege des Protests gegen Armut, Ausbeutung und Abschottung gehen und die logistischen Transportketten mit massenhaftem zivilem Ungehorsam symbolisch unterbrechen. Außerdem stellt sich im Hafen die NoG20-Klimaaktion der »alltäglichen Beschleunigung des Klimawandels« in den Weg; die Aktivist_innen rufen dazu auf, die Drehscheibe für den Welthandel mit Kohle, Uran und Waffen zu blockieren. Außerdem ist Freitag Schultag - die Jugend gegen G20 wird an diesem Tag das Bildungssystem bestreiken.
-> www.shutdown-hamburg.org
Demonstrieren
Die zentrale Großdemonstration findet am Samstag, dem 8. Juli, unter dem Motto »Grenzenlose Solidarität statt G20« statt. Die Demo möchte die »Ablehnung der kalten und grausamen Welt des globalen Kapitalismus deutlich machen, wie sie von den G20 repräsentiert und organisiert wird«. Zugleich solidarisiert sie sich mit all jenen, »die weltweit durch Proteste, Streiks oder Aufstände der Politik der G20 entgegentreten«. Der Auftakt ist ab 11 Uhr auf dem Deichtorplatz (Nähe Hauptbahnhof). Los geht es um 13 Uhr. (g20-demo.de). Zwei Tage vorher, am Donnerstag (6. Juli), findet die Demonstration unter dem Motto »G20 - Welcome to Hell« statt. Die Demonstration soll ein erster Ausdruck des Widerstands und der »unversöhnlichen Feindschaft gegenüber den herrschenden Verhältnissen und des Gipfelspektakels« sein. Die Demo beginnt um 16 Uhr am Fischmarkt in St. Pauli. Ab 19 Uhr will sich die Demonstration mit mehreren Zwischenkundgebungen auf die rote Zone zubewegen und in Sichtweite des Tagungsorts Messehallen ihren Abschluss finden.
-> g20tohell.blackblogs.org