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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 628 / 20.6.2017

Aufgeblättert

Familismus

»In familistischen Gesellschaften ist die Familie Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Organisationen.« Angesichts der soziologischen Diagnosen von Individualisierung und der Pluralisierung von Lebensstilen erscheint vielen diese Aussage für die BRD heute nicht mehr gültig. Die Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Gisela Notz (ak 627) zeigt in ihrem Einführungsband zum Familismus, dass die heterosexuelle bürgerliche Kleinfamilie trotz hoher Scheidungsraten und einer Zunahme von Singlehaushalten weiterhin gesellschaftliches Leitbild ist. Dafür zeichnet Notz Konjunkturen des Familismus vom Kaiserreich bis ins 21. Jahrhundert nach. Denn familistische Strukturen lassen sich nicht auf die BRD der 1950er Jahre und die drei K - Kinder, Küche, Kirche - reduzieren. Auch in der DDR gab es einen, allerdings schwächer ausgeprägten Familismus, der sich etwa bei der Verteilung der Haus- und Sorgearbeit zeigte. Praktische Alternativen zur Familie entstanden meist durch Suchbewegungen von Frauen. Ein historischer Rückblick auf Kritik am Familismus versammelt eine Vielfalt »anderer« Lebensweisen von den mittelalterlichen Beginen über Lily Brauns Konzept vom Einküchenhaus zu den Frauenwohngemeinschaften ab den 1970er Jahren. Während gegenwärtig von feministischer Seite meist die Anerkennung »abweichender« Lebensformen und eine Erweiterung der Definition von Familie gefordert wird, plädiert Notz gegen eine solche Inklusionsstrategie und für »Lebensweisen« statt »Familie«.

Hannah Schultes

Gisela Notz: Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015. 228 Seiten, 10 EUR.

Agnes Reinhold

Wer kennt heute noch Agnes Reinhold? Geboren 1859 im brandenburgischen Kyritz, gründete sie um 1888 in Berlin die anarchistische Gruppe Autonomie. Die ersten solcher Gruppen waren um 1880 aus Lesezirkeln der aus London eingeschmuggelten Zeitschrift Freiheit entstanden. Die Gruppe um A. R. war bald international vernetzt. Sie verbreitete Flugblätter und organisierte geheime Treffen, getarnt als »Familienfeiern«. In ihrem 31. Lebensjahr wurde A. R. unter anderem wegen Aufforderung zum Hochverrat zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach ihrer Entlassung berichtet sie von unerhörten Grausamkeiten wie Kälte, Prügel, Verhungernlassen von Kranken, Vergewaltigungen. Dafür wurde sie wegen »Verleumdung« 1897 abermals verurteilt. Wichtige Zeuginnen - noch im Zuchthaus ihren Peinigern ausgeliefert - konnten sie nicht entlasten; der vergewaltigende Beamte nahm »alles auf seinen Diensteid«. Durch die Liebe zu ihrem Prinzip, so schreibt A. R., sei sie »trotz alledem immer vegnügt und glücklich gewesen.« Die Broschüre über die »vergessene Kämpferin« ist packend, auch humorvoll und fast gänzlich auf Basis von Archivbeständen geschrieben. Sie enthält unbekannte Abbildungen und einen Dokumententeil mit Artikeln und Flugblättern. A. R. war eine faszinierende, für ihre Idee brennende Agitatorin, eine Gründerin des Anarchismus in Deutschland und Vorkämpferin gegen die Repression. Im Berliner Wedding soll demnächst ein Kiezladen nach ihr benannt werden.

Jan Rolletschek

Gustav Landauer Denkmalinitiative: Agnes Reinhold, eine vergessene Kämpferin der anarchistischen Bewegung. Berlin 2017. 43 Seiten. Bezug: kontakt@gustav-landauer.org.

Grüner Kapitalismus

Ausgehend von der Analyse einer tiefgreifenden Krise des Neoliberalismus fragt Hendrik Sander nach den Perspektiven eines grünen Kapitalismus auf Basis der Entwicklungen im deutschen Energiesektor. Wenige Jahre nach dem Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise kam es im Jahr 2011 zum Atomunfall im japanischen Fukushima. Die deutsche Bundesregierung verkürzte daraufhin die Restlaufzeiten für die Atommeiler, Kanzlerin Merkel rief die Energiewende aus. Hendrik Sanders Analyse basiert auf einer Kombination verschiedener (neo-)marxistischer Theorien, die er im Bereich der historisch-materialistischen Policy-Analyse (HMPA) verortet. Durch eine akribische theoretisch-konzeptionelle Vorarbeit gerüstet, analysiert er die energiepolitischen Auseinandersetzungen unter der schwarz-gelben Regierung. Zwar gebe es durchaus Ansätze einer ökologischen Modernisierung, diese verlaufen allerdings inkrementell (schrittweise), ohne dass sich ein schneller Wandel hin zu weniger herrschaftsförmigen gesellschaftlichen Naturverhältnissen abzeichne. Abschließend skizziert der Autor, die eigene politische Praxis in der Klimagerechtigkeitsbewegung reflektierend, einige Überlegungen zu einem grünen Sozialismus. Das Buch ist theoretisch anspruchsvoll, besticht durch eine sehr gut gelungene Verknüpfung von Theorie und Forschungsgegenstand und liefert wichtige Anregungen für eine emanzipatorische politische Praxis im Zeitalter multipler Krisen.

Tobias Haas

Hendrik Sander: Auf dem Weg zum Grünen Kapitalismus? Die Energiewende nach Fukushima. Bertz + Fischer, Berlin 2016. 324 Seiten, 19,90 EUR.

Automatisierung

Der Wissenschaftsjournalist Matthias Becker widmet sich in seinem Buch »Automatisierung und Ausbeutung« der Frage, was aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus wird. Dabei macht er einen Exkurs in die Geschichte zum ersten Schachcomputer der Welt, der 1770 in Wien präsentiert wurde. Doch bedient wurde die vielbestaunte Apparatur von einem menschlichen Spieler, der sich im Innern des Kastens verbarg. Becker spricht von einer Hochstapelei, die sich durch die Geschichte der Erforschung künstlicher Intelligenz und der Robotik bis zur Gegenwart ziehe, und bringt dafür Beispiele bis in die Gegenwart. So wurde 2006 auf der Hannover-Messe ein Roboterarm vorgestellt, der ein Weizenbier einschenkt. Die Öffentlichkeit und auch viele Journalist_innen waren beeindruckt. »Wer genauer hinschaut, sieht, dass das Weizenbierglas durch eine Halterung in eine leicht schräge Lage gebracht wird. Die Steuerung führt die Bewegung des Roboterarms aus, ohne die Position des Glases zu berücksichtigen«. Nun geht es Becker keineswegs darum, wissenschaftliche Fortschritte zu bestreiten, die die Arbeitswelt umkrempeln. Doch betont er, dass die menschliche Arbeitskraft dadurch keineswegs überflüssig wird. Nicht die Algorithmen, sondern das Kapital bestimmt, in welche Richtung die Entwicklung geht. Dass Becker die Frage stellt, was denn so schlimm wäre, wenn uns Maschinen nervtötende Tätigkeiten abnehmen würden, hebt sein Buch positiv aus der Bücherflut zur Digitalisierung hervor.

Peter Nowak

Matthias Martin Becker : Automatisierung und Ausbeutung. Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus? Promedia Verlag, Wien 2017. 240 Seiten, 19,90 EUR.