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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 628 / 20.6.2017

Zwanzig Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle

NoG20 Die G20 stecken in der Krise. Warum nationale Interessen die Agenda dominieren

Von Nick Sinakusch

Wenn die Staatschefs der G20 zusammenkommen, trifft sich keine Weltregierung. Zwar repräsentieren die Länder gemeinsam über 80 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Doch diese Addition macht so wenig Sinn wie die, dass die besten sieben Bundesligaclubs über 50 Prozent der Punkte haben. Denn die G20-Staaten sind Konkurrenten, und die Probleme, die sie behandeln, entstehen aus ihren Interessengegensätzen. Gerade deshalb sind ihre Treffen so wichtig. Sie demonstrieren den Willen der Regierungen, sich auf die Bedingungen ihrer Konkurrenz zu einigen. Dieser Wille allerdings schrumpft. Das liegt am Zustand der globalen Wirtschaft.

Die G20 sind ein Produkt der Finanzkrisen. Gegründet hat sich die Gruppe 1999 als Reaktion auf die Asienkrise zwei Jahre zuvor. Damals trafen sich zunächst nur die Finanzminister_innen und Zentralbankchefs der betreffenden Länder. 2008 machte dann der große Finanzcrash in den Industrieländern eine weitergehende Zusammenarbeit nötig, weswegen die G20-Treffen auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs gehoben wurden.

In normalen Zeiten konkurrieren die G20-Staaten, genauer gesagt: ihre herrschenden Klassen, gegeneinander um Macht und Geld. Aber wenn das System, auf dem ihre Konkurrenz beruht, gefährdet ist, stellen sie ihre Gegensätze ein Stück weit zurück, um das System funktionsfähig zu halten. (1)

Globalisierung am Ende?

Eine solche Hilfe scheint das System derzeit nicht nötig zu haben. Die Wirtschaftsleistung in den USA, Europa, Japan und China wächst. Länder wie die USA, Deutschland und Großbritannien haben extrem niedrige Arbeitslosenraten. In anderen großen Ökonomien sieht es zwar nicht ganz so gut aus. Aber die Situation bessert sich Stück für Stück, und mit ihr steigen die Aktienkurse und die Stimmung bei den Unternehmen: »Der Euroraum ist in Champagnerlaune«, schreibt die DZ Bank Ende Mai. Die Welt ist so reich wie nie zuvor. Und man fragt sich: Warum sind die Regierenden so unzufrieden? Warum können sich die großen Staaten nur noch schwer auf gemeinsame Positionen einigen? Warum wird vor Handels- und Steuerkriegen gewarnt, vor »Protektionismus« und dem »Ende der Globalisierung«?

Der Grund dafür liegt im Zustand der globalen Ökonomie. Die große Krise ist nicht vorüber. Sie lebt weiter und steckt in den Poren der wirtschaftlichen Erholung, die derzeit gefeiert wird.

»Die Erholung gewinnt an Stärke, doch das Wachstum bleibt moderat, die Wirtschaftsleistung liegt in vielen Ländern unterhalb der Möglichkeiten, und die Risiken deuten nach unten«, schreibt die G7 in ihrem jüngsten Abschlussdokument. Sprich: Wachstum ist da. Aber es reicht den Regierenden nicht. Ökonom_innen rund um den Globus beklagen ein rätselhaftes Schrumpfen des Produktivitätswachstums, das sie sich nicht erklären können. Dieses Schrumpfen »untergräbt den Anstieg der Produktion«, stellt die OECD fest. »Säkulare Stagnation«, also eine langanhaltende Phase schwachen Wachstums, ist das Gespenst, das derzeit in den Industriestaaten umgeht.

Die Unternehmen beklagen einen allgemeinen Mangel an Nachfrage nach ihren Produkten. Insbesondere die großen Konzerne verdienen zwar gut. Im Durchschnitt jedoch könnten die Unternehmen mehr produzieren. Sie bilanzieren Überkapazitäten, die sie nicht auslasten können. Gleichzeitig fällt es ihnen schwerer, ihre Konkurrenzsituation zu verbessern. »Die Globalisierung ist in eine neue Phase eingetreten«, stellt die Bank M.M.Warburg fest. Die Unternehmen hätten in den vergangenen Jahren ihre Möglichkeiten zur Kostensenkung durch Verlagerung in billigere Standorte weitgehend ausgeschöpft.

Wenn das Angebot nicht das Problem ist, heißt das: Es hapert am Verkauf. Die globale Nachfrage reicht nicht, und die vorhandene Nachfrage ist vielfach über Kredit finanziert. Angesichts der sehr niedrigen Zinsen funktioniert das leidlich. Über die extrem billigen Kredite halten die Staaten via Zentralbanken ihre Konjunktur aufrecht. Die Kehrseite davon ist eine gestiegene Verschuldung bei Haushalten, Staaten und vielen Unternehmen. So haben sich die Schulden der chinesischen Unternehmen in den vergangenen Jahren vervierfacht. Die Schuldenlast der Eurostaaten wächst.

Das Gespenst der Stagnation

Die Konjunktur ist vielfach nicht stark genug, um diese Schulden zu bedienen: In den USA identifiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) gefährdete Unternehmenskredite über vier Billionen Dollar. In der Eurozone schieben die Banken faule Kredite über rund eine Billion Euro vor sich her. Die Warnung vor einer »Zombifizierung« geht insbesondere in Japan und Europa um: Viele Unternehmen und Banken seien eigentlich wandelnde Tote, die nur durch billige Kredite am Leben erhalten werden.

Niemand weiß, was geschieht, wenn die Zinsen dereinst wieder steigen. Und was geschieht, wenn die nächste Krise oder der nächste Abschwung kommt. Irgendwann werden die Zeiten wieder schlechter, das ist sicher, schließlich währt der aktuelle Aufschwung schon acht Jahre und ist damit im historischen Vergleich ziemlich alt. Entwertung steht an.

Das Problem, an dem die G20 laborieren, heißt Überakkumulation. Es gibt zu viel von allem auf der Welt: zu viele Autos, zu viel Öl, zu viele Arbeitskräfte, zu viele Fabriken und Anlagen, ja sogar zu viel Geld - die Zentralbanken pumpen Billionen in die Finanzwirtschaft, ruinieren den privaten Banken damit das Geschäft und produzieren an den Finanzmärkten den sogenannten »Anlagenotstand«, sprich: Es gibt zu viel Kapital, das sich per Investition vermehren will. Zu viel gemessen an den Möglichkeiten, Rendite zu erzielen.

Zwischen den Staaten läuft der Kampf darum, wer verkaufen kann. Es herrscht Verdrängungskonkurrenz: Angemessenes Wachstum gibt es nur noch auf Kosten der anderen Staaten. In dieser Frage ist die US-Regierung offensiv geworden. Sie beklagt, die Handelspartner würden den Reichtum aus den USA absaugen. Den Handel mit China verglich US-Präsident Donald Trump mit einer »Vergewaltigung«, Deutschland agiere »sehr, sehr unfair«.

Tatsächlich gehört die deutsche Industrie zu den globalen Gewinnern. Durch Exporte ziehen die deutschen Konzerne den Reichtum der Welt auf sich. Die Kritik aus den USA, Frankreich und Italien an den deutschen Exportüberschüssen wehrt die Bundeskanzlerin höchstpersönlich ab und gibt dem Ausland die Schuld an seinen Defiziten: »Es müssen auch in anderen Staaten gute Waren produziert werden, die die Deutschen kaufen wollen«, erklärte sie den Schüler_innen an der Kurt-Tucholsky-Oberschule in Berlin im Mai.

Konkurrenz der Weltmächte

Die US-Regierung hat nun Ende April ein Dekret erlassen, nach dem alle bestehenden Handelsverträge der USA daraufhin überprüft werden sollen, ob sie »der amerikanischen Wirtschaft nützen«. Ist dies nicht der Fall, sollen die Verträge verhandelt werden. Ist dies nicht möglich, wird mit Kündigung gedroht. Analog forderte der französische Front National eine Neuverhandlung der EU-Verträge - andernfalls solle Frankreich aus der EU austreten. Und Großbritannien verhandelt mit der EU bereits über die künftige Geschäftsordnung.

Dies wird allgemein als »Protektionismus« beklagt. Tatsächlich aber plant keine der Regierungen, ihr Land vom Weltmarkt abzuschotten. Niemand träumt von Autarkie, jeder will den Weltmarkt - zum eigenen Nutzen. Daher versucht jede Regierung, die Regeln des globalen Geschäfts so zu ändern, dass das je eigene Land stärker von ihnen profitiert. Tatsächlich also verläuft die Grenze in der G20 nicht zwischen »Protektionisten« und »Freihändlern«, wie häufig behauptet wird. Sondern zwischen Ländern, die mit den Erträgen des Handels unzufrieden sind wie den USA oder Frankreich. Und den erfolgreichen Nationen wie Deutschland, Japan und China, die sich zu Bewahrerinnen der aktuell geltenden Regeln und der »offenen Grenzen« aufschwingen.

Die amerikanische Drohung kontert die EU, indem sie rund um die Welt im Eiltempo neue Freihandelsabkommen schließt. Der CETA-Vertrag mit Kanada ist fertig. Die Abkommen mit dem lateinamerikanischen Mercosur-Bündnis, mit Mexiko und Japan sollen bis Ende des Jahres unter Dach und Fach sein. Gespräche laufen bereits mit Myanmar, den Philippinen und Indonesien, bis Ende 2017 sollen Australien und Neuseeland an die Reihe kommen. »In einer Zeit zunehmenden Protektionismus müssen wir Brücken bauen«, sagte EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström.

Um den Weltmarkt verstärkt für sich zu nutzen, wird die Eurozone nach deutschem Vorbild zur Exportmaschine umgebaut. Man will vom Ausland profitieren, Überschüsse erzielen. Das bedeutet, »dass andere Länder Defizite haben, vielleicht auch, dass die dortigen Unternehmen weniger absetzen und die Einkommen niedriger sind«, schreibt der Ökonom Martin Hellwig in der FAZ. »Wettbewerbsfähigkeit«, heißt das Gebot der Stunde, und das ist die »Fähigkeit«, die anderen in der Konkurrenz zu besiegen.

China wiederum reagiert auf die globale Entwertungskonkurrenz, indem es die staatlichen Banken mobilisiert. Das Wachstumsmodell des Landes beruhte lange darauf, mit riesigen Investitionen Produktionskapazitäten zu schaffen, die weltweit verkaufen. Seit der Krise krankt dieses Modell an Nachfragemangel. Das Problem »löst« die Regierung in Peking, indem sie Milliarden an Krediten in den Firmensektor pumpt, um Pleiten zu verhindern und den Aufschwung am Leben zu erhalten. Ergebnis ist eine latente Überschuldung vieler chinesischer Konglomerate - nun hat die Ratingagentur Moody's die Kreditwürdigkeit Chinas herabgestuft, zum ersten Mal seit 1989.

Um seine Verwertung zu garantieren, erhält China zum einen per Kredit erstens seine Überkapazitäten aufrecht, die in der Stahlbranche bereits zu einem Handelskrieg mit den USA und der EU geführt haben. Zweitens sollen über eine neue »Seidenstraße« die Warenexportwege gesichert werden. Und drittens exportiert China vermehrt Kapital und kauft Unternehmen in Europa und den USA. Dies wiederum führt dort zu Protesten. »Die Chinesen kommen - und sie greifen auch nach den Sahnestücken des deutschen Mittelstands.« (Die Zeit, 9.6.2016)

Zudem wird die Forderung lauter, China solle seinen Markt für westliches Kapital öffnen. »Wir sind ein Land, in dem chinesische Unternehmen investieren können, aber wir wollen umgekehrt auch ein gleiches Spielfeld in China«, sagte der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Ende 2016. Umgekehrt beklagte Chinas Vize-Handelsministerin Gao Yan die »investitionsfeindliche Stimmung in Deutschland«.

So verläuft die Konkurrenz der Weltmächte darum, wer die Schäden der weltweiten Überakkumulation zu tragen hat, sprich: bei wem Pleiten, Arbeitslosigkeit und Entwertung anstehen und wer die unzureichende globale Nachfrage auf sich ziehen kann. Dieser Kampf wird zum einen geführt auf internationaler Ebene und ist der Kampf um die Regeln, die im globalen Geschäft gelten. Das ist der Streit der G20 um Handelsfragen, um die Themen Steuern, geistiges Eigentum, Investorenrechte und die Gleichstellung inländischer und ausländischer Firmen.

Ein Trend zur Militarisierung

Dieser Streit erhält auch eine immer stärkere militärische Komponente. China versucht, gegen die USA sein Hinterland im chinesischen Meer für sich zu sichern. Die EU sucht eine »eigene Identität« innerhalb der NATO. Denn sie ist zwar der größte Handelsblock der Welt. Gleichzeitig aber bleibt die EU gegenüber den USA »der schwächere Partner auf Grund ihrer Abhängigkeit von Energieimporten und von den Sicherheitsgarantien der USA«, so das Brüsseler Bruegel-Institut. Und die stellt die US-Regierung in Frage.

Daraus schließt die Bundeskanzlerin: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.« Da Deutschland auf sich allein gestellt zu schwach ist, wird der europäische Schulterschluss gesucht, vor allem mit Frankreich. »Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen«, sagte Merkel und sprach damit dem deutschen Industrieverband aus dem Herzen: »Europa muss global mehr Verantwortung übernehmen und die internationalen Handelsregeln aktiver mitgestalten«, sagte BDI-Präsident Dieter Kempf.

Zum anderen führt jede Regierung diesen Kampf nach innen - gegen die eigene Bevölkerung, die als kostengünstige Ressource den Standort wettbewerbsfähig halten oder machen soll. »Flexibilisierung« der Arbeitskraft ist in allen Ländern die Devise. Das bedeutet für die Menschen mehr Ungleichheit, eine Entsicherung des Lebens, Druck auf die Löhne, Sozialabbau. Um unter diesen Umständen die Zustimmung der Bevölkerung zu erhalten, tut der Patriotismus seinen Dienst: »Die Grenze verläuft nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen den Völkern« - wird das geglaubt, erweist sich der Nationalismus als enorme Produktivkraft.

Nick Sinakusch schrieb in ak 624 über den rechten Traum von nationaler Souveränität.

Anmerkung:

1) Genauer gehen darauf Samuel Decker und Thomas Sablowski in ihrer im Mai veröffentlichten Studie »Die G20 und die Krise des globalen Kapitalismus« ein. www.rosalux.de/publikation/id/14866