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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 628 / 20.6.2017

Die queere Bedrohung

Diskussion Ein neuer Sammelband verspricht Kritik am »queeren Aktivismus«. Herausgekommen ist ein Konvolut antideutscher Beißreflexe

Von Georg Klauda

Der Sichtbarkeit von Lesben widmete das Berliner SchwuZ im Herbst vergangenen Jahres eine Podiumsdiskussion u.a. mit der Bezirksbürgermeisterin Monika Hermann. Die Einladung einer grünen Law-and-Order-Politikerin, die kurz zuvor die gewaltsame Räumung einer von Geflüchteten besetzten Schule in Kreuzberg angeordnet hatte, ist vielleicht symptomatisch für den Zustand einer Bewegung, der seit Ende der Schröder-Ära jede Distanz zum Staat abhanden gekommen ist. Wenige Monate später setzte das aus der zweiten deutschen Schwulenbewegung gegründete Tanz- und Veranstaltungszentrum mit einer LSBT-Jobmesse unter aktiver Beteiligung der Bundeswehr noch eins oben drauf.

Die queeren Proteste im Vorfeld der Veranstaltung nahmen jedoch bezeichnenderweise nicht so sehr an dieser Nähe Anstoß, sondern ausgerechnet an der Teilnahme der Berliner Rapperin Sookee. In ihrem Lied »If I had a (dick)« habe die Sängerin Geschlecht an den Besitz oder Nichtbesitz bestimmter Genitalien gebunden - was den Lyrics beim besten Willen nicht zu entnehmen ist. Der sich daraus entspinnende Vorwurf der Transmisogynie, der in dieser Massivität für Außenstehende kaum noch nachvollziehbar war, führte schließlich zur Absage der Sängerin und einer Brandrede von Querverlags-Gründerin Ilona Bubeck. Ihrem Anliegen, etwas gegen Rufmord und die wachsende Spaltung der Szene zu unternehmen, hat sie mit dem von ihr ermutigten Sammelband »Beißreflexe« allerdings einen Bärendienst erwiesen.

Nicht einmal Polemik

Denn unter der Herausgeberschaft von Patsy L'Amour LaLove trägt das Buch vor allem die Handschrift der sogenannten antideutschen Szene. Respektable Namen der schwulen Bewegungsgeschichte wie Elmar Kraushaar und Hans Hütt verschwinden mit ihren lesenswerten Beiträgen in einem Meer von stumpfen Möchtegern-Polemiker_innen, die sich, wie Vojin Sasa Vukadinovic, teilweise ganz offen an Stil und Inhalt des rechtspopulistischen Sektenblatts Bahamas orientieren. Dass sich dieses selbsternannte »Abrissunternehmen der Linken« nicht gerade zur Überwindung von Spaltungen oder zur Abstellung von Diffamierungen eignet, können sich informierte Leser_innen bereits denken.

Patsys eigener Beitrag, »Die schwule Gefahr«, bietet dafür das beste Beispiel. Ursprünglich in der Jungle World erschienen, handelt es sich formal um eine Rezension der vergangenes Jahr erschienenen Studie »Schwule Sichtbarkeit, schwule Identität« von Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß. (1) Glaubt man nun der Rezensentin, hat man es bei diesem Werk mit einem »antiaufklärerischen« Text zu tun, der sich ähnlich der Gruppe »Besorgte Eltern« nicht nur gegen schwule Sichtbarkeit, sondern gegen »Homosexualität an und für sich« richte. Das sei, hierauf insistiert die Herausgeberin, keine Polemik. Und in der Tat ist es noch nicht einmal das.

Am Beispiel des Berliner Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zeigen Çetin und Voß, wie westliche schwule Identitäten am Beginn des 20. Jahrhunderts als biologische Essenzen konstruiert wurden - und zwar, das ist das Neue an ihrer These, indem man sie von den »pseudohomosexuellen« Praktiken von Männern im globalen Süden abgrenzte. Der Süden, das war im damaligen deutschen Bewusstsein vor allem Italien und die Türkei, zwei Länder, in denen unter dem Einfluss des neuen französischen Rechts keine Systeme der strafrechtlichen Verfolgung zwischenmännlicher Sexualitäten mehr existierten, gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken aber auch noch nicht zwingend zur Zuschreibung von Kategorien des »Andersseins« führten. Hirschfeld schreibt über Italien: »Es ist überraschend, wie viele junge Leute in Rom und Neapel durch Blicke oder durch Erwidern eines ihnen zugeworfenen Blickes ihre Bereitwilligkeit zu einer Annäherung zu erkennen geben, und nach meinen Beobachtungen sowohl wie nach den Mitteilungen, die mir von Italienern gemacht wurden, glaube ich behaupten zu dürfen, dass in den genannten Großstädten die italienischen Jünglinge im Alter von 15-18 Jahren sich in der Mehrzahl homosexuell betätigen.«

Echte und unechte Homosexualität

Für den Berliner Sexualwissenschaftler war die weite Verbreitung solcher Praktiken im europäischen Süden erklärungsbedürftig, weil sie seiner biologischen Theorie der »Homosexualität« als einer angeborenen Anomalie widersprach - einer Abweichung, die er physiologisch an Gebissform, Handschuhgröße und Haarbeschaffenheit festzumachen trachtete. Er erklärte die Praktiken der »Anderen« daher kurzerhand für ungültig. Sie seien nicht wirklich Ausdruck von Homosexualität als einer wesenhaften inneren Konstitution. Stattdessen wurden sie auf Formen der Prostitution oder des Gelegenheitssexes reduziert und von der »echten« Homosexualität des nordeuropäischen Mannes kategorisch unterschieden.

Fast wortwörtlich findet sich diese Einteilung auch im Beitrag des Bahamas-Autors Tjark Kunstreich, der sich immer wieder darum bemüht, die emanzipierte aka westliche Homosexualität von den pseudohomosexuellen Praktiken muslimischer Männer im Nahen und Mittleren Osten zu unterscheiden. Als emanzipiert erscheint dabei stets derjenige, der sich als anders weiß und seine soziale Rolle als Homosexueller erfolgreich verinnerlicht hat. Immerhin wird hier die ganze Ironie hinter dem Emanzipationsbegriff der zweiten deutschen Schwulenbewegung sichtbar, in der nur selten soziale Veränderung damit gemeint war, sondern vor allem die Aufforderung, das eigene Stigma mit Würde und Stolz zu tragen.

Çetin und Voß halten dem entgegen, dass sich sexuelles Begehren, wie fast alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisgegenstände, nicht in eindeutigen, binären Kategorien, sondern in Spektren und Möglichkeitsräumen ereignet, die sich einer starren Festlegung entziehen. Die Erfindung einer identitären Homosexualität sei ein politisches Projekt der westlichen Schwulenbewegung gewesen. Im Kontext einer heteronormativen bürgerlichen Gesellschaft lieferte der Rückbezug aufs eigene, ungewollte »Anderssein« eine Entschuldigung dafür, sich dem Zwang zur Heterosexualität lebensgeschichtlich zu entziehen, ohne die Norm als solche in Frage zu stellen. Dies erschien als notwendige Voraussetzung, um von der Mehrheit Anerkennung und Respekt verlangen zu dürfen.

Die Wirkungen dieser »Emanzipationsstrategie« waren jedoch äußerst paradox: So reduzierte sich einer Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf zufolge der Anteil männlicher Jugendlicher mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Erfahrungen allein zwischen 1970 und 1990, der Hochzeit der bundesdeutschen Schwulenbewegung, von 18 auf zwei Prozent. Das Konstrukt einer identitären Homosexualität wirkte wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, indem sie Jugendliche bei jeder noch so kleinen Übertretung der heterosexuellen Norm mit der wenig erfreulichen Aussicht konfrontierte, sofort und vollständig in die Kategorie des verachteten Anderen überzuwechseln. Die Ausbreitung von Homophobie unter Jugendlichen ist von dieser historischen Entwicklung kaum zu trennen.

Am provokantesten wirkt dabei, dass Çetin und Voß sich weigern, diese Veränderungen als etwas zu beschreiben, das der Schwulenbewegung nur von außen widerfuhr. So widersprechen sie Foucault, wenn er von einem homosexuellen »Gegendiskurs« spricht, als gäbe es - worüber Foucault an anderer Stelle spottet - »auf der einen Seite den Diskurs der Macht und auf der anderen Seite den Diskurs, der sich ihr entgegensetzt«. In der Person Hirschfelds waren beide jedoch eins. Die Überwindung der Konstruktion des homosexuellen »Anderen« sei daher etwas, das nicht bloß einer unterdrückenden Majorität abzuverlangen wäre. Vielmehr liege es auch an der Lesben- und Schwulenbewegung selbst, »die identitären westlichen Konzepte der Ausgestaltung von geschlechtlichen und sexuellen Lebensweisen ... zu verlernen«.

Eine Parade der Strohmänner

Aus Wut, dass Schwule hier nicht mehr nur als unschuldige Opfer, sondern als Teil eines komplexen Gewebes von Macht und Unterwerfung erscheinen, diffamiert Patsy die beiden Autoren flugs als »homosexuellenfeindlich«, so als wäre es freundlicher, ihnen jede eigene Handlungsmacht abzusprechen. Schlimmer ist jedoch, dass die Herausgeberin die gewünschte Skandalisierung herstellt, indem sie die Argumente der Gegenseite erst gar nicht sichtbar werden lässt, sondern sofort durch eine wüste Kolportage ersetzt.

Der Umgang mit Çetin und Voß ist nur ein Beispiel für das Strohmannhafte vieler Beiträge des Sammelbands, welche nicht umhinkommen, politisch-inhaltliche Differenzen mit genau den gleichen »inquisitorischen« Mitteln zu bearbeiten, die sie bei anderen aufgeregt beklagen. So bezichtigt Dirk Ludigs in seinem Beitrag queere Jüd_innen wie Sarah Schulman und Yossi Bartal der Doppelmoral und wittert an ihnen »den Geruch des Antisemitismus«. Grund ist ihr Vorwurf an die Adresse der israelischen Regierung, schwerste Menschenrechtsverletzungen wie die Legalisierung der Folter in den besetzten Gebieten, jahrelange Administrativhaft ohne Anklage oder die flächendeckende Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser_innen hinter einer Kampagne zu verstecken, die Israel im Ausland ein liberales, schwulenfreundliches Image verpasse.

Warum, so fragt der Autor, würden solche Vorwürfe nicht auch andere Staaten wie das allseits beliebte Kanada ereilen? Vielleicht weil Kanada sein System der Einsperrung der Indigenen durch ein System von Pässen und Passierscheinen bereits 1951 beendet hat? Ludigs Vorhaltung, dass der Vorwurf der Instrumentalisierung von LSBT für Imperialismus und Krieg immer wieder und allein Israel treffe, fällt aber auch sonst schnell in sich zusammen, wenn man weiß, dass er mit Jasbir Puar eine Autorin angreift, die »Homonationalismus« zu einer umfassenden Analysekategorie erhoben hat - eine, mit der sie zuvörderst die Verhältnisse in den USA untersucht.

Georg Klauda ist Soziologe aus Berlin und Autor des 2008 im Hamburger Männerschwarm-Verlag erschienenen Buchs »Die Vertreibung aus dem Serail: Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt«.

Patsy L'Amour La Love (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag, Berlin 2017. 269 Seiten, 16,90 EUR.

Anmerkung:

1) Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß: Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität: Kritische Perspektiven. Gießen 2016.