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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 628 / 20.6.2017

Denn sie wissen, was sie tun

Diskussion »Neue Klassenpolitik« muss die Alltagspraxen von Lohnabhängigen beachten - sie sind Ausgangspunkt für Widerstand und Solidarität

Von Stefanie Hürtgen

In den vergangenen Monaten mehren sich die Aufrufe, aus der falschen Alternative progressiver (neoliberaler) Kosmopolitismus und reaktionärer (sozialer) Populismus auszubrechen. Allerdings: Um sich dieser falschen Alternative zu entziehen, müssen »normale« Lohnabhängige wieder als - in kapitalistischen Verhältnissen notwendigerweise widersprüchlich - agierende Subjekte wahrgenommen werden. Trotz 30 Jahren Neoliberalismus entwickeln sie grundlegende Vorstellungen einer »moralischen Ökonomie«, also von einer gerechten Gesellschaft und einem guten Arbeits- und Zusammenleben. Bekanntermaßen sind solche normativen Vorstellungen die zentrale Basis für widerständiges und solidarisches Handeln - im Gegensatz zu einer ahistorischen und abstrakten Systemkritik.

Es ist erstaunlich und ein zentraler Grund für die aktuelle Schwäche der Linken in der Klassenfrage, dass die derzeitigen, sich auf grundlegende Normen von einer gerechten Gesellschaft stützenden Kritiken und Alltagspraxen kaum in die Diskussion der linken Kreise eingehen. Stattdessen kursieren generelle Aussagen über den vermeintlich passivierten oder neoliberalisieren Zustand der Lohnabhängigen. Gerade in neoliberalismus-kritischen Diskussionen sind dabei eine ganze Reihe von Begriffen prominent, die die neuartigen Arbeitsanforderungen an das (Arbeits-)Subjekt verdichten: vom »unternehmerischen Selbst« (Ulrich Bröckling) über den »flexiblen Menschen« (Richard Sennett) zum »Netzwerkmenschen« (Boltanski/Chiapello) usw. Diese Sozialfiguren sind Idealtypen. Auf ähnliche Weise wollen sie das neue, neoliberale Subjekt in der Arbeitswelt bestimmen, das sich ausrichtet auf hochgradige Flexibilität, permanente Leistungsoptimierung und konkurrenzielle Selbstvermarktung.

Der Anspruch auf Menschlichkeit

Das Problem ist nun, dass gar nicht weiter gefragt wird, wie sich diese Idealtypen zur praktischen Realität in den Betrieben und Büros verhalten. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass derartige neoliberale Subjektbestimmungen seitens der Beschäftigten »verinnerlicht« werden. Die diskursive Figur erscheint als praktische Realität, vom herrschenden Diskurs wird auf faktische Alltagspraxis (kurz-)geschlossen. Lohnabhängige sind hiernach - vermeintlich! - neoliberal individualisiert. Derartige Unterstellungen sind politisch fatal. Ungewollt bestätigen sie herrschende Erzählungen über Lohnabhängige und die Arbeitswelt, nur eben kritisch und von links. Die tagtäglichen Grenzziehungen, Widerständigkeiten und solidarischen Selbstermächtigungen gegen die »modernen« Lohnarbeitszumutungen geraten aus dem Blick.

Die aber gibt es. Und die aktuelle Forschung bestätigt, dass sich diese widerständigen Praxen typischerweise um Vorstellungen einer »vernünftigen« und gerechten (Arbeits-)Welt ranken. Ein Beispiel dafür ist die sehr wichtige Norm der Menschlichkeit in der (Arbeits-)Welt. Lohnarbeit und Menschlichkeit dürfen sich hiernach nicht ausschließen. Sie seien keine »Roboter«, sagen die Arbeiter_innen und Angestellten, sie seien keine Maschinen, sondern eben Menschen - und sie hätten ein Recht darauf, auch so behandelt zu werden. Mit der Vorstellung vom menschlichen (Arbeits-)Leben meinen sie erstens die Anerkennung von Vielfalt seitens der Kolleg_innen, vor allem aber seitens der Vorgesetzten: Egal, ob jemand alt oder jung, dick oder dünn, homo- oder heterosexuell, Türkin oder Deutsche etc. ist - er ist zugleich Mensch und als solcher respekt- und würdevoll zu behandeln. Allen mitunter parallel fortwirkenden Rassismen und Xenophobien zum Trotz gibt es - von der (linken) Öffentlichkeit kaum wahrgenommen - auf der Arbeitsebene eine tagtägliche Auseinandersetzung um soziale, kulturelle und sexuelle Vielfalt, die um das Prinzip der gleichen Anerkennung als Mensch auf der Arbeit kreist: Egal, wer du bist, wir arbeiten als Menschen zusammen.

Menschlichkeit einzufordern, meint zweitens, die leibliche und seelische Verletzbarkeit zu berücksichtigen. Viele Kolleg_innen erzählen, dass Chefs sie anbrüllen, sie nicht zur Toilette dürfen, im Dunkeln arbeiten müssen oder sonstige Arbeitsbedingungen vorfinden, die respektlos sind und Körper und Seele »krank machen« - und sie berichten von einer Fülle tagtäglicher Grenzziehungen, kleineren solidarischen Aktionen und kollegialen Gesten, um gegen die Verletzung leiblicher und seelischer Integrität vorzugehen. Auch zu geringer Verdienst und soziale Unsicherheit werden als unmenschlich und würdelos aufgefasst.

Die kritische Kraft des Leistungsprinzips

Neben Menschlichkeit ist das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit eine weitere wichtige Norm. Es besagt: Wer mehr leistet, soll mehr Anerkennung erfahren, mehr Geld bekommen usw. Typischerweise bleibt dabei vage, was genau »mehr« oder »weniger« bedeuten. Es ist bekannt, dass diese Gerechtigkeitsnorm hochgradig ambivalent ist und äußerst ausgrenzend fungieren kann gegenüber allen, die als »Leistungsverweigerer« konstruiert werden.

Zugleich hat das Leistungsprinzip eine kritische Kraft, die nicht übersehen werden sollte: Es fungiert als inhaltliches Verständnis von der eigenen Arbeit. Lohnarbeit wird subjektiv, und dieser Prozess lässt sich als ein Kernmoment der Tradition der Arbeiterbewegung identifizieren, zu gesellschaftlich notwendiger, sinnvoller Tätigkeit. Ganz entgegen verbreiteter Vorstellungen vieler linker Kapitalismuskritiker_innen ist der Inhalt ihrer Tätigkeit den Lohnabhängigen keineswegs egal. »Leistung« meint in dieser Tradition gerade nicht den Sieg im Konkurrenzkampf, sondern das Verständnis, die eigene (Lohn-)Arbeit »gut«, also sinnvoll und verantwortungsvoll zu verrichten: keinen »Schrott« zu produzieren oder auch - in den Krankenhäusern und Heimen - die Würde des Anderen zu respektieren und entsprechend rücksichtsvoll zu pflegen.

Damit fungiert das Prinzip guter Leistung als zentrale Folie von Kritik: an zu geringer Bezahlung (nur wer ordentlich bezahlt wird, kann auch ordentlich arbeiten), aber auch an eklatantem Personalmangel und wachsender Arbeitsintensivierung. Davon zeugen eine Fülle größerer und kleinerer Konflikte um mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen. Gesellschaftlich sinnvolle Arbeit wird dabei keineswegs auf Lohnarbeit verengt, sondern sehr breit als auch pflegende, aber auch kreative Tätigkeit in anderen gesellschaftlichen Bereichen gedeutet, was Forderungen wie Arbeitszeitbegrenzung u.a. nach sich zieht.

Kurz: Weitgehend unbemerkt von einer hauptamtlichen bzw. akademischen Linken finden wir unter »normalen« Lohnabhängigen differenzierte Vorstellungen eines »progressiven Gemeinwillens« (Chantal Mouffe), also von einer ganz anderen Art des sozialen Lebens und Wirtschaftens, als es das herrschende neoliberale Entwicklungsmodell aufzuoktroyieren bemüht ist.

Progressive Vorstellungen und Ohnmacht

Das heißt mitnichten, dass die progressive Revolution vor der Tür steht. Denn mit der Wut und Empörung über die aktuellen Entwicklungen sind auch Ohnmachtsgefühle massiv angewachsen: Trotz der täglichen größeren und kleineren Arbeitskämpfe und trotz einiger Erfolge gelingt es nicht, die als zunehmend asozial und inhuman wahrgenommene gesellschaftliche Entwicklung insgesamt zu stoppen. Diese breit erlebte Ohnmacht ist oft gepaart mit großer Frustration über die Entwicklung von Gewerkschaften und ehemaligen Arbeiterparteien, und sie bestätigt fatalerweise die »proletarische Urerfahrung« von Lohnabhängigen, das heißt des eigenen, warenförmigen Objektstatus'. Dass diese »Einsicht« in die vermeintlich ewige Wahrheit, als »kleines Licht« unten eh nichts machen zu können, oft mit Projektionen auf »starke Männer« (und Frauen) einhergeht, die es dann richten sollen, erleben wir zurzeit wieder verstärkt.

In der Tat verlaufen die Konflikte unter Kolleg_innen derzeit gar nicht entlang der Frage, ob eine gute und gerechte (Arbeits-)Welt wünschenswert ist und wie die etwa aussehen sollte. Die Normen der hier kurz skizzierten moralischen Ökonomie werden - ganz entgegen der Annahme von der »Verinnerlichung« neoliberaler Werte - nach wie vor breit geteilt. Die zentrale Streitfrage ist vielmehr, ob es überhaupt noch etwas bringt, sich für sie einzusetzen. Die unzähligen aktiven Arbeiter_innen in Betrieben, Büros und Ämtern wehren sich immer auch gegen die passivierende Desillusionierung ihrer Kolleg_innen und gegen eine Denunziation von solidarisch-eingreifendem Handeln als irrational: Hat man denn noch nicht verstanden, wie das Arbeitsleben eben tickt?

Die Wirksamkeit der moralischen Ökonomie als realer Utopie und damit Motor für kritisches eingreifendes Handeln droht so verlustig zu gehen, Vorstellungen von Sinn und Menschlichkeit in Arbeit und Gesellschaft zu nichts als schöner Fantasie zu werden - an die man sich aber nicht klammern darf, will man hier und jetzt nicht untergehen.

Konsequenzen für »Neue Klassenpolitik«

Die Linke hat diesen basalen, alltagspraktischen Streit darum, was man »überhaupt noch machen kann«, bislang kaum zur Kenntnis genommen. Sie negiert in ihrer den herrschenden, passivierenden Diskurs unkritisch bestätigenden Unterstellung, Lohnabhängige seien neoliberal verblendet und bräuchten zuallererst Aufklärung, das Potenzial an Kritik und Realutopie für hegemoniale Auseinandersetzungen über ein alternatives Entwicklungsmodell. Durch ihre Ausblendungen schwächen Linke schließlich nicht nur die Möglichkeiten, die konkreten konflikthaften Alltagspraxen in der Arbeitswelt über sich hinauszutreiben, sondern auch sich selbst.

Für eine »Neue Klassenpolitik« bedeutet dies erstens: Der theoretischen und politischen Figur der »Verinnerlichung« herrschender Verhältnisse muss die alltägliche Praxis und Auseinandersetzung mit diesen Verhältnissen entgegengesetzt werden. Als eigensinnig Handelnde sind Lohnabhängige nicht einfach Ausfluss oder Pendant von Herrschaftsstrategien und ökonomischen Entwicklungen, sondern sie gehen aktiv auf die (Arbeits-)Welt zu und greifen in sie ein: gedanklich, praktisch, kommunikativ, arbeitend.

Zweitens müssen entsprechend eben diese Grenzziehungen und Eigensinnigkeiten selbst zum politischen und theoretischen Gegenstand gemacht werden. Sie sind keine nachträgliche Folge von Aufklärung und Mobilisierung, sondern unmittelbarer Bestandteil unserer sozioökonomischen Strukturen. Der Klassenkonflikt findet nicht statt, nachdem die Lohnarbeit dem Kapital untergeordnet wurde, er ist die alltägliche Auseinandersetzung um die Art und Weise dieser Unterordnung selbst - mit Lohnabhängigen als denkenden und handelnden Subjekten.

Damit kommen drittens, die notwendig widersprüchlichen Deutungen und Handlungsweisen in den Blick. Auch Lohnabhängige können nicht - als reine und saubere Revolutionäre - aus unserer Gesellschaft heraustreten. In der gegenwärtigen konkurrenziell zerklüfteten (Arbeits-)Welt kann daher nicht die Frage sein, ob rassistische, sozialdarwinistische etc. Stereotype (re-)produiert werden - sondern wie! Gibt es zugleich auch Praxen und Denkweisen, die die rassistischen, sexistischen und nationalistischen Fragmentierungen angreifen und überwinden? Aktuell sind, entgegen verbreiteten Vermutungen, wichtige progressive Ansätze vorhanden, die aufgegriffen werden können. Allein die Orientierung an sinnhafter (Lohn-)Arbeit eröffnet weitreichende Perspektiven, nicht nur entlang der Gestaltung von Arbeitsbedingungen, sondern auch über Fragen des Wie und Wozu der Produktion insgesamt.

Einen besonderen Stellenwert hat viertens, der Anspruch auf Menschlichkeit in der (Arbeits-)Welt, also auf Würde und Respekt gegenüber sich und anderen als vielfältig-konkreten sozialen und leiblichen Subjekten. Wir finden hier jenen progressiven Universalismus, den typischerweise soziale Bewegungen für sich reklamieren und der zu Unrecht der »sozialen Frage« entgegengestellt wird. Der Befund ist mitnichten verwunderlich. Historisch lagen in den Arbeitskämpfen nationalistische, xenophobe und chauvinistische Traditionen immer in Widerstreit mit dem umfassenden Anspruch auf »Humanisierung der menschlichen Existenzweise insgesamt«, wie es Oskar Negt formuliert. Für eine »Neue Klassenpolitik« ist zentral, dass diese emanzipatorische Tradition keineswegs vollkommen verschüttet, sondern in den Vorstellungen und Denkweisen und in den Alltagsauseinandersetzungen lebendig ist. Sie muss nicht »implementiert«, sondern gestärkt werden. Es geht nicht um Aufklärung, sondern um wechselseitige (Selbst-)Aufklärung: um eine Politik des kritisch-reflexiven Beistandes, der die Widersprüche und Grenzen der Alltagskämpfe klar benennt, sie aber nicht von einem vermeintlich aufgeklärten Standpunkt aus als abgeschlossene »System«-Widersprüche fixiert.

Stefanie Hürtgen ist Politikwissenschaftlerin, Arbeitssoziologin und Wirtschaftsgeographin. Sie arbeitet in Salzburg und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der transnationalen Rekonfiguration von Arbeit und subjektivem Arbeitshandeln.

Serie zu »Neuer Klassenpolitik«

Seit der vergangenen Ausgabe diskutieren ak-Autor_innen über eine Klassenpolitik »auf Höhe der Zeit«. Sebastian Friedrich skizzierte in ak 627 die Grundzüge für eine »Neue Klassenpolitik« in Kenntnis sexistischer, rassistischer und nationalistischer Klassenfragmentierungen. In der gleichen Ausgabe warf Keeanga-Yamahtta Taylor einen Blick auf rassistische Klassenspaltungen in den USA. Nicht nur in ak wird das Thema heiß diskutiert. Der Debattenstrang »Klassenpolitik mit Differenz« auf dem neu gestarteten Blog der Interventionistischen Linken geht ebenfalls der Frage nach, wie eine »Neue Klassenpolitik« aussehen könnte: http://blog.interventionistische-linke.org.