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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 628 / 20.6.2017

Deutschland wird nie weiß sein

Deutschland Ein Gespräch über die Motivationen, sich als Black Lives Matter Berlin zu organisieren

Von Josephine Apraku, Shaheen Wacker, Nela Biedermann, Kristin Lein und Jacqueline Mayen

Diesen Juni findet in Berlin der Black-Lives-Matter-Monat statt. Die Organisatorinnen sind ein feministisches Frauen*kollektiv. Ihr Ziel ist es, Räume, Ressourcen und Kontakte zu mobilisieren, um langfristig eine Infrastruktur für Widerstand zu organisieren. Das Gespräch ist eine Verständigung untereinander über die Perspektiven und Motivationen, Black Lives Matter Berlin zu organisieren. Es gibt keinen Interviewer, aber Fragen und Antworten - »for us, by us«.

Was bewegt uns dazu, unter dem Namen Black Lives Matter Berlin Widerstand zu organisieren?

Josephine Akrapu: Für mich geht es vor allem um die Verbindung von globaler und lokaler Vernetzung. Ich werde auch nicht müde, das zu sagen: Rassismus gegen Schwarze Menschen ist international, also müssen wir Bewegungen wie Black Lives Matter (BLM) international denken.

Shaheen Wacker: Rassismus in Deutschland bedeutet für mich vor allem psychische Gewalt. Eine Folge davon ist Depression. Ich habe mich lange damit beschäftigt, wie es sein kann, dass meine - wie ich finde, absolut normale - Reaktion auf alltägliche psychische Gewalterfahrungen in dieser Gesellschaft pathologisiert wird. Jemand hat mal gesagt: »Es zeugt nicht von geistiger Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.« Klingt logisch, oder? Deswegen eine Therapie zu machen, hat sich für mich immer so angefühlt, als würde ich aufgeben. Als würde ich zulassen, dass man mich für verrückt erklärt, dabei ist die Welt krank und nicht ich. Aber eine Therapie ist im besten Fall ein Weg, in dieser Welt zu überleben. Ein anderer Weg ist, aktiven Widerstand zu leisten, indem ich mich politisch mit Leuten organisiere, die ebenfalls der Ansicht sind, dass es für alle gesünder ist, gemeinsam die Gesellschaft zu verändern, statt an den Menschen rumzudoktorn, die diese Gesellschaft krank macht. Politisch aktiv zu sein unter dem Slogan Black Lives Matter, befreit mich von Isolation und von dem Gefühl der Machtlosigkeit.

Ich verstehe BLM also als eine Bewegung, die sich sowohl nach außen als auch nach innen richtet. Genauer gesagt bewegen wir uns sogar von innen nach außen. Jede Person ist als Teil dieser Bewegung zugleich ihr Zentrum. Ich sehe intersektionale Kollektive, in denen Menschen aus den Schnittmengen ihrer Diskriminierungserfahrungen neue, machtkritische Methoden entwickeln, als die treibende Kraft einer alternativen Gesellschaft. BLM ist für mich ein erster konkreter Schritt in diese Richtung.

Nela Biedermann: BLM bedeutet für mich, aus einer geschützten Position heraus die Realität neu in den Blick zu nehmen. Es bedeutet, Diskriminierung nicht mehr zu entschuldigen, sondern klar einzuordnen. Die verschiedenen Schichten an Traumata, die aus Rassismuserfahrungen resultieren, in mir aufzudecken und zu begreifen, wie sie mich als soziales Wesen verändern. Diese Erkenntnisse, die ich aus der geschützten Position des Zusammenschlusses heraus gewinne, helfen mir extrem, mein persönliches Potenzial zu entfalten.

Was hat uns in der Beschäftigung mit Black Lives Matter am meisten erstaunt?

NB: Mich erstaunt, dass meine Beschäftigung mit Black Lives Matter Leute aus meinem Umfeld zu Fragen geführt hat wie: »Dir ging es doch bisher ganz gut, was willst du denn damit beweisen?« Auch interessant ist, dass mein politischer Einsatz - ein bisschen wie in einer Hitparade - beurteilt wird: »Ich kann deine Probleme im Vergleich mit der Flüchtlingsproblematik gerade gar nicht verstehen.« Es erstaunt mich auch, dass man 2017 immer noch die Ursprünge und Zusammenhänge zwischen (deutschem) Kolonialismus und unserer kapitalistischen Ökonomie unterschätzt und verdrängt. Ja, wir leben hier in Deutschland mit einer mehrheitlich weißen Bevölkerung, dennoch gab es hier schon immer Schwarze oder nicht-weiße Menschen, mehr oder weniger sichtbar. Es erstaunt mich, dass die Wahrnehmung vieler Deutscher eine ganz andere ist. Die Welt genau so wie Deutschland war nie weiß, ist es nicht und wird es nie sein.

Wie stehen wir dazu, dass sich unsere Gruppe aus Schwarz und weiß positionierten cis-Frauen zusammensetzt?

Kristin Lein: Das ist organisch entstanden. Nach der ersten BLM-Demo letztes Jahr war das Bedürfnis nach mehr, und plötzlich waren wir sechs Personen, die weitermachen wollten - eine musste sich dieses Jahr leider zurückziehen, dafür haben wir jetzt eine andere liebe Person. Die Hälfte von uns kannte sich nicht, aber weil wir im Gespräch bleiben wollten, haben wir noch eine zweite Demo auf die Beine gestellt und versucht, möglichst vielen Schwarzen Positionen Raum zu geben. Das wollen wir dieses Jahr weiterführen und ausbauen. Ich glaube, das ist intersektionaler Feminismus at work. (1) Für mich war immer klar, dass wir helfen und unterstützen, aber der Raum nicht uns gehört, wir nur Gäste sind. Kann man das so sagen?

SW: Ich würde nicht sagen, dass ihr »nur Gäste« seid. Ihr seid ein wichtiger Teil unseres Kollektivs. Auch weil diese Konstellation zeigt, dass alle in dieser Gesellschaft sich für Veränderung verantwortlich fühlen und aktiv werden können, unabhängig davon, ob sie direkt von einer bestimmten Diskriminierungsform betroffen sind oder von verschiedenen - oder vermeintlich von keiner.

JA: Kristin und Shaheen haben das schon angesprochen, im Grunde ist es simple Logik: Als Feministinnen können sich Mic und Kristin nicht zurücklehnen und sagen: »Rassismus? Och nee, interessiert mich nicht. Ich kämpfe für die Gleichberechtigung von Frauen*.« Letztlich betrifft uns, die wir den Black-Lives-Matter-Monat organisiert haben, das auf verschiedene Art alle. Unabhängig davon, ob wir mit Blick auf ein Diskriminierungsverhältnis privilegiert sind oder nicht, müssen wir Verantwortung übernehmen. Natürlich fallen die Verantwortlichkeiten unterschiedlich aus, aber sie sind da. Ich sehe es so: Wenn die Rechte von Person XY missachtet werden, dann sind es immer auch meine Rechte, die missachtet werden. Wenn ich mich für diese Person einsetze, handle ich auch in meinem Interesse.

Welche Prägung und Inspiration - familiär und politisch - fließt in unsere Arbeit ein? Gab es einen bestimmten Moment der Politisierung?

Jacqueline Mayen: Das war eher ein Prozess der Bewusstwerdung. Wirklich motivierend und vor allem schmerzstillend waren die Begegnungen mit anderen Schwarzen Gleichgesinnten. Zum Beispiel in einem Seminar über Schwarzen Feminismus, das mir meine erste und einzige Schwarze Dozentin bescherte. In Worten lässt sich kaum ausdrücken, wie unglaublich belebend sich das angefühlt hat, mit einer Schwarzen Freundin und anderen Schwarzen in einem Seminar über Schwarze Deutsche Geschichte zu sitzen, das von einer Schwarzen Frau geleitet wird.

SW: Meine Erziehung ist definitiv die Grundlage meiner politischen Praxis. Wenn ich von meinen Eltern spreche, meine ich meine Mutter und meine Oma. Diesen Frauen verdanke ich alles. Allein das Privileg, in einem Matriarchat aufgewachsen zu sein. Ich habe von meinen Eltern gelernt, was Feminismus in der Praxis bedeutet, was Widerstand bedeutet, was Solidarität bedeutet. Aber meine Eltern sind beide weiße Frauen, und es war schmerzvoll, eines Tages feststellen zu müssen, dass uns diese Realität auch trennt. Am meisten hat mich, glaube ich, erstaunt festzustellen, dass weiße Menschen tatsächlich in einer anderen Realität leben als Schwarze Menschen und People of Color. Dass das Privileg Weißsein als so selbstverständlich wahrgenommen wird, war der größte Schock für mich.

JA: Ich finde spannend was du sagst, Shaheen. Das weiße Menschen in einer anderen Realität leben als ich, hab ich schon früh bemerkt. Ich glaube, dass das in meinem Fall daran liegt, dass ich sowohl im Kindergarten als auch in der Schule meine bittersten Rassismuserfahrungen gemacht habe. Es war einfach erschreckend, dass einige der anderen Kinder »heimlich« mit mir befreundet waren und dann offen auf dem Schulhof gegen mich gehetzt oder mich beschimpft haben. Diese Erlebnisse prägen mich bis heute.

Am bedeutendsten für mich ist, dass ich mich explizit als Schwarz definiere. Mir war zu Beginn gar nicht bewusst, was für eine krasse Auswirkung diese klare Selbstpositionierung für mich haben würde: In einer Gesellschaft, die mir Komplexität abspricht und mich festschreibt, ist mich selbst zu definieren revolutionär. Besonders auch, weil Schwarzsein eine Kollektividentität ist. Ich bin, weil du bist, weil wir sind. Wir alle sind miteinander verbunden. Für mich liegt darin so unendlich viel Potenzial für Kreativität und so viel Handlungsspielraum.

NB: Ich bin wie Shaheen in einem matriarchalen Haushalt aufgewachsen. Meine Oma war der Motor unserer Familie und eine sehr meinungsstarke Frau, was oft zu heftigen Diskussionen führte. Im Nachhinein hat mir diese Energie aber geholfen, mich in Auseinandersetzungen zu positionieren und Meinungsverschiedenheiten auch mal auszuhalten. Ich habe außerdem versucht, mir ihren Wissensdurst, komplexes Denken und eine gewisse Art präventiven Pragmatismus - wenn du etwas nicht weißt, frag; wenn du etwas nicht kannst, lerne - anzueignen.

Eine drastische rassistische Erfahrung nach einem Konzertbesuch, die mit einer Faust in meinem Gesicht endete, löste in mir eine Kaskade von Gefühlen aus. Angst und Depression machten mir die Bewältigung von Alltäglichem schwer. Der bedingungslosen Liebe meiner Tochter verdanke ich, dass ich diese Situation überwinden konnte. Ich wurde stärker und auch konsequenter in meinem Bestreben, meinem Kind und ihrer Generation eine bessere Welt zu hinterlassen.

KL: Das Kämpferische habe ich definitiv von meiner Mama, aber darüber zu lernen, Widerstand zu leisten gegen Diskriminierungen, verdanke ich unglaublich vielen Schwarzen bzw. PoC-Aktivist_innen. Große Augenöffner waren die Texte von May Ayim (2) und Noah Sows Buch »Deutschland Schwarz Weiß«, die ich parallel zum Studium (Medien- und Kulturwissenschaften) gelesen habe. Im Studium fand auch endlich der Austausch mit anderen statt, der mir vorher gefehlt hatte - obwohl ich schon mit 16 oder so die Biografie von Malcom X gelesen hatte. Da sind wir wieder bei den unterschiedlichen Realitäten, die Josie und Shaheen ansprachen. Bis ich begriffen habe, wie die Strukturen hier in Deutschland funktionieren und welche Verantwortung ich mit meinen weißen Privilegien habe - auch meiner Schwarzen Tochter gegenüber -, war meine Tochter schon fünf. Ich war erstaunt, wie naiv ich trotz des vorher gesammelten Wissens noch war.

Welche Bedeutung haben antirassistische Initiativen für dich als Schwarze deutsche Frau?

JA: Ich verstehe Widerstand wie einen Staffellauf: Wir sind ein Team. Ich baue auf der Arbeit der Läufer_innen vor mir auf und gebe den Staffelstab an die nächsten ab.

JM: Frauen wie May Ayim, Audre Lorde oder Katharina Oguntoye (3) haben das Fundament gegossen, auf dem ich mich heute so selbstverständlich bewegen kann. Ich bin unseren Vorkämpferinnen dafür zutiefst dankbar. Sie haben Kämpfe ausgetragen, die wir heute so nicht mehr kämpfen müssen. Ihre Leistungen haben meiner Generation ein - im Verhältnis zur vorigen Generation - privilegierteres Heranwachsen ermöglicht. Was mein Status quo ist, war Teil ihrer Vision. Genau da möchte ich anknüpfen. Nach der zweiten BLM-Demo letzten Sommer war ich ganz high von dem Gedanken, dass Schwarze Kinder und Jugendliche dabei waren und sie leibhaftig erfahren konnten, dass es Schwarze gibt, die sich diese ganze Scheiße hier nicht gefallen lassen. Ich musste an den Appell »each one teach one« denken, ein Satz, der in der Zeit der Versklavung Schwarzer Menschen in den USA aufkam. Jegliches Wissen musste an andere Schwarze weitergegeben werden. Genau so möchte ich verfahren, ob im Kleinen oder Großen. Die Visionen meiner Generation sollen der Status quo der nachfolgenden sein.

Was wollen wir unseren kleinen Geschwistern, unseren Kindern, die ja auch mit rassistischen Gesellschaftsstrukturen aufwachsen, mitgeben?

KL: Ganz spontan würde ich Audre Lorde zitieren: »Mich um mich selbst zu kümmern, ist keine Nachgiebigkeit gegen mich selbst, sondern Selbsterhaltung, und damit ist es ein Akt politischer Kriegsführung«. Ich würde meiner Tochter sagen, dass sie die Freundinnenschaften suchen und pflegen soll, mit denen sie sie selbst sein kann. Dazu gehört der Austausch mit Menschen, die die gleichen Erfahrungen machen und gemeinsame Strategien und Widerstand entwickeln, genauso wie einfach nur sorglos Dinge tun.

SW: Radikale Selbstliebe, auf jeden Fall. Audre Lorde spricht in ihrer Arbeit oft darüber, dass wir uns nicht vor dem verschließen sollen, was uns wehtut. Wenn du jung bist und dazu gehören willst, verdrängst du solche Gefühle oft. Aber wenn du dieses Unwohlsein, den Schmerz zulässt, hilft er dir zu verlernen, was dir diese Gesellschaftsstrukturen beibringen. Es ist nicht deine Aufgabe, die Harmonie zu bewahren, wenn dich jemand verletzt, sexistisch oder rassistisch behandelt oder du sowas mitbekommst.

JA: Ich würde sagen: Mach weiter, deine Perspektive auf die Welt ist legitim, deine Kritik ist schon jetzt zu hoch für einige, kümmer dich um dich selbst, hab Spaß mit deinen Freund_innen, und es ist voll okay, ignorante Leute gehen zu lassen, du machst das schon ganz richtig so.

Anmerkungen:

1) Der Ansatz der Intersektionalität geht davon aus, dass sich unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse und Unterdrückungserfahrungen - Sexismus, Rassismus, Klassenverhältnisse, Ableismus etc. - überkreuzen und miteinander verbinden und dass dies im Kampf dagegen berücksichtigt werden muss.

2) May Ayim (1960-1996) setzte sich in Essays und Gedichten mit dem Rassismus in Deutschland auseinander. 1986 gab sie mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz das Buch »Farbe bekennen« heraus.

3) Katharina Oguntoye ist ebenfalls Herausgeberin des Buches »Farbe bekennen« und seit den 1980er Jahren in der Schwarzen Frauenbewegung aktiv. Audre Lorde ist eine Schwarze US-amerikanische Autorin und Aktivistin. Sie lehrte ab Mitte der 1980er an der Freien Universität Berlin und war eine wichtige Inspirationsquelle für die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland. Mehr hierzu im Gespräch »Black to the Future« über die Geschichte Schwarzer Frauenbewegung in ak 624.

Black Lives Matter Berlin

sind Josephine Apraku, Shaheen Wacker, Nela Biedermann, Kristin Lein, Jacqueline Mayen und Mic Oala. Sie organisieren am 24. Juni eine Black-Lives-Matter-Demonstration gegen den mangelnden Willen zur Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland und für Schwarze Sichtbarkeit. Im Vorfeld finden zahlreiche Veranstaltungen statt, mehr unter www.blacklivesmatterberlin.de und www.facebook.com/BLMberlin.