Die Gesellschaft steht über dem Staat
Diskussion Erik Olin Wright über alternative Pfade zur Durchsetzung revolutionärer Ziele
Interview: Raul Zelik
Erik Olin Wright ist Soziologieprofessor an der University of Wisconsin. Seit drei Jahrzehnten forscht er im Rahmen des »Real Utopias Project« zu emanzipatorischer Transformationspolitik. Das 2010 bei Verso veröffentlichte englischsprachige Überblicksbuch erschien im Frühjahr 2017 unter dem Titel »Reale Utopie« im Suhrkamp-Verlag auf Deutsch.
In Ihrem Buch »Reale Utopie« diskutieren Sie in erster Linie die Frage, was Revolution im 21. Jahrhundert bedeutet.
Ja, stimmt. Das Konzept der Revolution beschreibt normalerweise die Idee eines Systembruchs, bei dem die politische Machtübernahme im Mittelpunkt steht. Die Staatsmacht wird erobert und genutzt, um grundlegende gesellschaftliche Strukturen schnell zu ändern. Danach finden kontinuierlichere Transformationen statt. Ich bin nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sehr skeptisch, was die Möglichkeit eines solchen Bruchs angeht. Man kann zwar das Alte niederreißen, aber die neue Gesellschaft, die aus diesen Ruinen entsteht, wird nicht unbedingt dem entsprechen, was wir für erstrebenswert halten. Meine Frage lautet deshalb: Wie können wir revolutionär in den Zielen bleiben, auch wenn wir nicht davon überzeugt sind, dass wir mit einem Bruch dort hingelangen werden? Mein Buch beschäftigt sich deshalb mit der Frage, welche alternativen Pfade wir einschlagen können, um revolutionäre Ziele durchzusetzen.
Eine Ihrer zentralen Thesen lautet, dass der Sozialismus radikal aus der Perspektive der Gesellschaft gedacht werden muss. Zur Veranschaulichung verwenden Sie ein einfaches Dreiecksmodell aus Staat, Kapital und Gesellschaft. Ein emanzipatorisches Projekt der Zukunft müsse die Gesellschaft gegenüber Staat und Kapital ermächtigen, sagen Sie.
Ich bin zunächst einmal darüber gestolpert, wie wenig in Sozialismusdebatten über das Adjektiv sozial, also »gesellschaftlich«, nachgedacht wird. Vor diesem Hintergrund hat man mir oft unterstellt, ich sei antistaatlich. Aber das ist nicht mein Punkt. Meiner Ansicht nach bleibt der Staat für jede gesellschaftliche Alternative von zentraler Bedeutung. Ich bin kein Anarchist. Aber ich bin sehr wohl davon überzeugt, dass die Gesellschaft den Staat unterwerfen muss - wobei eine derartige Unterwerfung des Staates unter die Gesellschaft etwas Anderes wäre als seine sofortige Abschaffung. Ich würde es so skizzieren: Demokratie ist die Unterordnung der Staatsmacht unter die Gesellschaft; Sozialismus die Unterordnung der Ökonomie unter die Gesellschaft. Die Verbindung von Beidem ist das, was ich als gesellschaftliche Macht bezeichne. Voraussetzung für die Ausübung dieser gesellschaftlichen Macht ist die kollektive Organisation »einfacher« Menschen.
Tragen »weiche« Begriffe wie Demokratie, Gesellschaft oder Gerechtigkeit nicht dazu bei, konkrete Widersprüche zuzuschütten? Nehmen wir Ihr Beispiel von der »Ermächtigung der Gesellschaft«. Auch der Ku-Klux-Klan ist eine zivilgesellschaftliche Organisation. Laufen wir mit solchen Begriffen nicht Gefahr, die historische Lüge des Liberalismus zu reproduzieren, der Werte wie Universalismus, Freiheit und Brüderlichkeit immer wieder verwendet hat, um die realen Herrschaftsbeziehungen der bürgerlichen Gesellschaft unkenntlich zu machen?
Der Bluff des Liberalismus bestand ja nicht darin, dass er Demokratie oder Freiheit hoch hielt, sondern dass er sich weigerte, die materiellen Voraussetzungen für die reale Ausübung von Demokratie und Freiheit herzustellen. Denn wie will man eine echte Demokratie erreichen, wenn Privateigentum an Produktionsmitteln vorherrscht und große Kapitalbesitzer ihre partikularen Interessen stets gegen die Mehrheit durchsetzen? Auch das Beispiel mit dem Ku-Klux-Klan leuchtet mir nicht ganz ein. Die wollen ja eben keine für alle offene Demokratie. Ihr wichtigstes Anliegen ist die Exklusion von bestimmten Gruppen. Ich würde behaupten, dass Demokratie alles andere als ein »weicher« Begriff ist. Es ist ein sehr anspruchsvolles Konzept - vor allem für Institutionen.
Ich versuche es noch einmal anders: Viele Begriffe, die Sie verwenden, sind wertefundiert: Nicht-Exklusion, Gleichheit, Partizipation für alle - das ist ja eher ein moralisches Programm. Ist der Sozialismus am Ende ein ethisches Projekt?
In gewisser Weise ja. Ich weiß, der Marxismus hegte immer ein großes Misstrauen gegenüber der moralisierenden Sprache - was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass Moral zur Legitimation von Herrschaft eingesetzt wird. Aber wir sehen heute auch deutlich, wie kompliziert es ist, Unterdrückung zu bekämpfen, ohne sich auf moralische Prinzipien zu beziehen. In der Marxschen Tradition gab es die Hoffnung, dass die Geschichte in unsere Richtung wirkt und wir keine moralischen Prinzipien benötigen, weil die materiellen Interessen der Arbeiterklasse allein dafür sorgen, dass sich bestimmte Dinge durchsetzen.
Heute hingegen wissen wir, dass nicht allein Interessen über unser Verhalten entscheiden, sondern moralische Vorstellungen davon, was gerecht ist, eine zentrale Rolle spielen. In diesem Sinne stellen universalistische, egalitäre und demokratische Ideen durchaus so etwas wie den Kern einer linken Alternative dar. Das ist im Übrigen auch ein Regenbogenprinzip, das es uns erlaubt, trotz kultureller Diversität, trotz unterschiedlicher Sexualitäten und Identitäten solidarisch miteinander umzugehen. Manche Linke meinen ja, dass beispielsweise die Kämpfe von Transgender etwas Anderes seien als die Kämpfe von Arbeitern. Ich denke das nicht. Ich meine, dass all diese Kämpfe sich am gleichen moralischen Kompass orientieren und dass es für uns einfacher ist, eine Einheit herzustellen, wenn wir uns auf diese moralischen Prinzipien beziehen. Natürlich geht es nach wie vor auch um Interessen. Wir alle würden in einer egalitären, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft besser leben.
In Ihrem Buch unterscheiden Sie drei große Transformationsstrategien der Linken: den revolutionären Bruch, die reformistische Symbiose und die Nischenpolitik der Genossenschafts- oder Alternativbewegungen. Sie sagen, dass alle drei Ansätze im 20. Jahrhundert gescheitert oder an Grenzen gestoßen sind.
Über die revolutionäre Strategie der Machtübernahme haben wir bereits kurz gesprochen. Was die reformistische Transformation angeht, beziehe ich mich auf die klassische Sozialdemokratie, wie sie heute kaum noch existiert. Dieser alte Reformismus war der Ansicht, dass wir erst mal im Kapitalismus gefangen sind und nach Reformen suchen müssen, die zwar auf der einen Seite Probleme des Kapitals lösen, auf der anderen aber auch die Macht der popularen Klassen vergrößern und Lebensbedingungen verbessern. In den 1970er Jahren gab es dafür einen schönen Begriff: »nicht-reformistische Reformen«, also Reformen, die die Spielräume der Arbeiterklasse und die Transformationsperspektiven erweitern. Die dritte Strategie schließlich waren die »Nischen«. In den Rissen des Systems wurden Alternativen entwickelt, ohne dass man dafür die Staatsmacht frontal angreifen musste.
Der Kapitalismus ist übrigens auf ähnliche Weise entstanden. Das Bürgertum vermied über Jahrhunderte hinweg die offene Konfrontation mit dem Feudalismus. Es wollte die Bedingungen verbessern, Reichtum zu erwirtschaften. Und auf diese Weise höhlte das Bürgertum die Macht des Adels aus und schuf eigene Netzwerke und neue Institutionen. Der Feudalismus wurde nicht durch eine Revolution beseitigt - er erodierte über Jahrhunderte.
Wenn wir heute zurückblicken, dann stellen wir fest, dass es im 20. Jahrhundert zwar Revolutionen gab, ihre Bilanz aber eher bescheiden ausfällt. Was wir deshalb vielleicht brauchen, ist - um das in einen Slogan zu packen - eine Verbindung von Anarchismus und Sozialdemokratie. Ich weiß, das geht gar nicht. Aber was ich sagen will, ist folgendes: Wir müssen den Staat nutzen, um die Voraussetzungen für von unten aufgebaute Alternativen zu verbessern und jene Praktiken zu stärken, die den Kapitalismus längerfristig erodieren lassen.
Ihre These, dass wir Transformationsstrategien neu miteinander kombinieren müssen, finde ich sehr überzeugend. Aber gerade Ihr Plädoyer für den klassischen Reformismus finde ich sehr schwach. Die reformistischen Verschiebungen im kapitalistischen Staat des 20. Jahrhunderts waren ja nur deshalb durchsetzbar, weil die Möglichkeit eines revolutionären Bruchs im Raum stand. Die Existenz eines revolutionären Lagers verschob die Kräfteverhältnisse und öffnete Spielräume für den Reformismus. Das ist meiner Ansicht nach auch der Grund, warum sich die Reformsozialdemokratie etwa zur gleichen Zeit wie das sozialistische Lager verabschiedete.
Ich weiß nicht, ob der Kollaps des sozialdemokratischen Reformismus nicht eher mit der Globalisierung und Finanzialisierung der Weltwirtschaft zu tun hatte. Aber wenn es so wäre, wie Sie sagen, wäre das eine sehr düstere Perspektive. Denn ich kann mir, zumindest in den entwickelten Staaten, kaum vorstellen, dass in absehbarer Zeit wichtige revolutionäre Bewegungen entstehen. Die Möglichkeit eines Umsturzes kommt dort doch eher von rechts als von links.
Aber das ist Teil des Problems: Die Linke hat den Ort des radikal Anderen den Rechten und Religiösen überlassen. Und genau dieses Fehlen einer antagonistischen Position von links macht auch den Reformismus unmöglich. Reformen sind Zugeständnisse an die Macht der Subalternen. Wenn diese über kein Gegenprojekt verfügen, gibt es auch keine Notwendigkeit für Reformen.
Ich würde auch nicht behaupten, dass wir die revolutionären Ziele aufgeben sollten. Ich denke nur, dass der revolutionäre Bruch jede Glaubwürdigkeit verloren hat.
Das ist sicherlich richtig. Es gibt noch einen letzten Punkt, den ich gern ansprechen würde. Eine zentrale Lehre der Vergangenheit ist ja, dass Kollektivbesitz immer nur dann ganz gut funktionierte, wenn die Gemeinschaften überschaubar waren, auf gegenseitigem Vertrauen beruhten und Entscheidungsprozesse selbst gestalten konnten. Die Linke ist damit auf etwas zurückgeworfen, was der Marxismus als reaktionär verachtete: auf die Gemeinschaft. Man gerät hier in eine problematische Nähe zum Kommunitarismus, der ja auch kollektive Werte hochhält, aber dies mit Religion und Familienideologie verknüpft. Wie könnte man sich von links auf Face-to-Face-Gemeinschaften beziehen - die ja immer auch etwas mit Tradition, gemeinsamer Identität und Bezug zum Territorium (dem Dorf, dem Viertel, der Genossenschaft) zu tun haben - ohne identitäre oder ethnizistische Konzepte stark zu machen?
Ja, das ist ein zentrales Problem. Ich habe mich eben für eine Demokratisierung von Staat und Ökonomie ausgesprochen. Aber es gibt noch eine dritte Dimension: Wir brauchen eine Demokratisierung der Gemeinschaft. Es reicht nicht zu sagen: Wir wollen eine Macht, die auf dem Kollektiv beruht. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Gemeinschaften selbst demokratisiert werden. Und um demokratisch zu sein, dürfen Gemeinschaften nicht ausschließen. Es ist nämlich eine fundamentale Grundlage von Demokratie, dass alle Menschen gleichermaßen Zugang zu den Partizipationsmöglichkeiten haben. Hier sind wir wieder bei dem egalitären und universalistischen Prinzip. Und in diesem Sinne würde ich Sozialismus auch als identisch mit einem radikaldemokratischen Projekt bezeichnen. Wir müssen alle Bereiche des Lebens demokratisieren: von der Familie bis zum Fußballverein. Und das bedeutet im Umkehrschluss eben auch, dass Gemeinschaften nicht nur Orte der Sozialität, sondern auch Orte des Kampfes sind.
Raul Zelik ist Autor und Übersetzer. Mehr unter www.raulzelik.net.