Alle Macht den Arbeiter_innen
International Maya Peretz von Koach la Ovdim über neue Hoffnungen in der zerstrittenen Gewerkschaftslandschaft Israels
Interview und Übersetzung: Claudia Krieg
Seit zehn Jahren sorgt eine kleine Basisgewerkschaft in Israel für Unruhe: Koach la Ovdim - Macht den Arbeiter_innen. In den Arbeitskämpfen und der Auseinandersetzung mit der ältesten und größten Gewerkschaft, dem Histadrut, zeigt sie sich als deutliche Verfechterin einer radikalen, solidarischen Interessenspolitik. 18.000 Mitglieder hat die Gewerkschaft mittlerweile registriert, sie vertritt 25.000 Arbeiter_innen. Maya Peretz begann ihre Arbeit bei Koach la Ovdim vor sechs Jahren als Freiwillige und ist dort seit einem Jahr eine der Hauptverantwortlichen im Bereich öffentlicher Nahverkehr. Sie arbeitet im Tel Aviver Büro der Gewerkschaft. ak sprach mit ihr über die Lage der Gewerkschaften in Israel.
Warum wurde Koach la Ovdim gegründet?
Maya Peretz: Koach la Ovdim gründete sich im Jahr 2007 und erhielt im Jahr 2009 den Rechtsstatus. Sie wurde von Arbeiterinnen und Arbeitern und von gewerkschaftlich Aktiven aufgebaut, die zuvor beim Histadrut organisiert waren und dort sehr enttäuschende Erfahrungen gemacht hatten. Einer der Gründer ist Ami Vaturi, der als ehemaliger Mitarbeiter des zentralen israelischen Flughafens Ben Gurion in Tel Aviv bekannt geworden ist. Er war leitender Arbeiter in der Gepäckabfertigung und begann gemeinsam mit anderen Arbeitern für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Die Gruppe erhielt dabei keinerlei Untersützung vom Histadrut, es gab nicht einmal ein Gesprächsangebot an sie. Auf Vaturis Initiative hin wurde dann ein Streik ausgerufen, der vier Tage dauerte und den gesamten Flughafen lahmlegte. Man kann sich vorstellen, was das heißt und was für ein Druck auf den Streikenden lastete. Aus der Erfahrung, sich von der zuständigen Gewerkschaft, dem Histadrut, im Stich gelassen zu sehen, ging die Erkenntnis hervor, dass es eine neue Gewerkschaft geben müsse, die ihre Aufgabe der Interessensvertretung auch ausübt.
Warum hat sich der Histadrut so verhalten?
Der Histadrut hat die Tendenz, seine Gewerkschaftsarbeit eher im Sinne nationaler Interessen anstatt mit einem solidarischen und radikalen, kompromisslosen Anspruch, auszuführen. Das Problem ist ein generelles: Der Histadrut hat nicht unbedingt die klassische Gewerkschaftsstruktur. Er wurde bereits in den 1920er Jahren, lange vor der Staatsgründung Israels aufgebaut. Er existiert als Dachorganisation, unter der sich unterschiedliche Branchenzweige zusammenfinden, ähnlich wie bei ver.di in Deutschland. Die Gemeinsamkeit mit der deutschen Gewerkschaftsstruktur hat folgenden Hintergrund: In den 1920er Jahren und zuvor waren unter den Emigranten und Emigrantinnen, die nach Palästina kamen, sehr viele deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen. Diese bauten eine gewerkschaftliche Organisation nach dem Vorbild ihrer Erfahrungen in Deutschland auf. So kommt es übrigens auch, dass es, ähnlich wie in Deutschland, eine gewerkschaftliche Vertretung in einem Betrieb nur dann geben kann, wenn mindestens ein Drittel der Belegschaft dem zustimmt. Auch der Großteil der Arbeitsrechte Israels trägt noch immer eine deutliche Handschrift der deutschen Gesetzgebung. Aber um zum Histadrut zurückzukommen: Es gibt eine historisch gewachsene starke Loyalität gegenüber dem Staat, und die verhindert umgekehrt die Loyalität gegenüber der Arbeiterschaft. Und diese ist gerade angesichts der neoliberalen Umwälzungen und Privatisierungswellen der vergangenen 20 bis 30 Jahre stark unter Druck geraten.
Aber es gab doch immer wieder auch Streiks und Arbeitskämpfe in dieser Zeit?
Die gab es, nicht wenige und sehr kraftvolle. Aber betrachtet man die Rolle und die Handlungen des Histadrut in dieser Zeit, muss man ernsthaft darüber ins Zweifeln geraten, wessen Interessen er in Arbeitskämpfen vertritt. Es gibt aus dieser Zeit beispielsweise Abkommen zwischen Belegschaften und Arbeitgebern, die auf das Konto des Histadrut gehen, die man sinngemäß mit Generationenvertrag übersetzen kann und die eine arbeitsrechtliche Katastrophe darstellen. Sie sehen vor, dass Arbeiterinnen und Arbeiter eines Betriebes, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bereits gewerkschaftlich organisiert sind, schützende Bedingungen zustehen. Für Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach diesem Vertragsabschluss angestellt werden, gelten diese allerdings schon nicht mehr, und die Bedingungen verschlechtern sich immer weiter für alle nachfolgend Angestellten, der Erfolg der ersten Generation hat keinen Bestand für die nachfolgenden. Das führt in den Gewerkschaften zu Konflikten: Menschen arbeiten Schulter an Schulter, aber zu unterschiedlichen Bedingungen. Gegen diese Art von Abkommen kämpfen wir, bei Koach la Ovdim sind sie per Satzung verboten. Wir haben es bereits zwei Mal geschafft, solche Verträge in Betrieben, deren Belegschaft zu Koach la Ovdim gewechselt ist, wieder aufzulösen.
Das Verhältnis zwischen Koach la Ovdim und Histadrut ist angespannt?
Es ist kompliziert. Die Gründung von Koach la Ovdim hat beispielsweise dazu geführt, dass der Histadrut, der bislang nicht aktiv in Betrieben für eine gewerkschaftliche Vertretung geworben hat, hierfür eine neue Abteilung eingerichtet hat. Das ist an sich zu begrüßen, es gibt genug Arbeitsplätze, die eine gewerkschaftliche Vertretung benötigen. Wir haben dann versucht, eine Vereinbarung zu finden, die etwa so geht: »Wenn wir an einem Betrieb dran sind, dann beginnt bitte nicht mit uns am selben Ort zu konkurrieren und umgekehrt.« Nachdem zunächst beide Seiten zugestimmt hatten, zog sich der Histadrut dann wieder daraus zurück. Also kämpfen wir weiter um Betriebe, und das ist wirklich beschämend, denn die einzigen, die davon profitieren, sind die Eigentümer und die Firmenleitungen.
Aber welchen Ausweg kann es für diese Konflikte geben?
Eine Lösung gab es im Januar dieses Jahres, als per Gericht entschieden wurde, dass die Belegschaft eines Transportunternehmens des öffentlichen Nahverkehrs darüber abstimmen sollte, von welcher Gewerkschaft sie sich vertreten lassen möchte. Vergleichbar ist es mit dem Verfahren in den USA, bei dem die Arbeiterinnen und Arbeiter per Abstimmung entscheiden, ob sie überhaupt eine gewerkschaftliche Vertretung in ihrem Betrieb wollen oder nicht. Gültigkeit erhält die Wahl, wenn ein Drittel der Belegschaft sich beteiligt. In unserem Fall hatten wir vor allem Bedenken, ob sich überhaupt so viele Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligen würden. Zu unserer Überraschung gingen 88 Prozent der Belegschaft wählen, und 60 Prozent stimmten für uns. Meiner Einschätzung nach haben wir diesen Kampf gewonnen, weil den Arbeiterinnen und Arbeitern sehr deutlich wurde, dass es dem Histadrut und der Firmenleitung nur um einen Machtkampf ging. Über 30 Jahre hatte es dort keinen Streik gegeben, wir waren gerade dabei, den Arbeitskampf zu beginnen und just in diesem Moment reklamiert der Histadrut den Betrieb »für sich«. In diesem Fall konnten wir der Belegschaft auch nur bestätigen: Wir sind auf eurer Seite, und wir arbeiten ohne Tricks. Aber ich kann auch diejenigen Arbeiterinnen und Arbeiter verstehen, die sich lieber vom Histadrut als großer und starker Gewerkschaft vertreten sehen.
Fürchtet der Histadrut um seinen Einfluss als größte Gewerkschaftsorganisation?
Wir treten nicht schüchtern auf, verfügen aber allein schon finanziell über weit weniger Ressourcen, was beispielsweise die Möglichkeiten betrifft, die uns für unsere Kampagnen zur Verfügung stehen.
Was die politische Macht anbetrifft, sieht es ähnlich aus: Der Histadrut hat schon immer gute Verbindungen zu den großen Parteien, zur Arbeiterpartei Avoda und zum Likud. Seit der Staat Israel gegründet wurde, wird in der Frage der Arbeitnehmerrechte hinter dem Rücken der Arbeiterschaft verhandelt. Man kann sagen: Ein Mann vom Histadrut verhandelt mit einem Mann der Regierung, es sind nämlich immer Männer. Dennoch ist es für manche große Berufsgruppen, wie die Belegschaften der staatlichen Stromversorgung und die Hafenarbeiter, gut, über den Histadrut organisiert zu sein. In diesen Bereichen geht es vor allem darum, die Privatisierung dieser großen Bereiche zu verhindern, und in diesem Machtkampf ist der Histadrut ein schlagkräftiger Gegner für Investitionsbefürworter. Aber gleichzeitig wird auch hierin deutlich, wie viel Macht und Hierarchie die Struktur durchziehen. Während der sozialen Proteste 2011 gab es viel Aufmerksamkeit für soziale Rechte und Arbeitsrechte, und zeitgleich streikten die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für ein nationales Tarifabkommen. Dann trat der klassische Fall ein: Der Vorsitzende des Histadrut traf sich mit dem Sozialminister, und sie unterzeichneten den Vertrag über die Köpfe der Streikenden hinweg. Viele der enttäuschten Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen wechselten im Laufe der Zeit zu Koach la Ovdim.
Gute Gründe für den Histadrut, Koach la Ovdim zu attackieren?
Ja. Wir sind eine Art Gegenentwurf. Für uns gilt: Wir unterzeichnen solange keine Verträge, bis nicht die Belegschaften darüber abgestimmt haben. Sichtbar wird das aber auch an unserer Öffentlichkeitsarbeit: Alles was wir publizieren, erscheint ebenfalls auf Arabisch, weil wir den vielen palästinensisch-israelischen Arbeiterinnen und Arbeitern einen Zugang zum Thema Arbeitskampf und Arbeitsrechte bieten wollen. Koach la Ovdim hat es als erste Gewerkschaft geschafft, Arbeiter und Arbeiterinnen in mittlerweile privatisierten Unternehmen zu vertreten. Die Privatisierung hat den Arbeitsmarkt komplett verändert, und die Gewerkschaften haben darauf kein Stück reagiert. Erst jetzt, wo sogar Lehrtätigkeit und Sozialarbeit privatisiert sind, reagiert auch der Histadrut auf diese tiefgreifenden Veränderungen.
Stichwort Zugänglichkeit für den arabischen Teil der Bevölkerung: Findet sich dieser Anspruch auch in der Zusammensetzung des Teams von Koach la Ovdim?
Es ist sehr anstrengend, für Koach la Ovdim zu arbeiten, und manchmal müssen wir uns dabei auf Privilegien stützen, über die nicht-jüdische Aktivisten und Aktivistinnen nicht verfügen. Zeit und die Möglichkeit, sich neben dem Studium zu engagieren beispielsweise. Ich als jüdische Aktivistin hatte als Studentin nicht viel Stress, ich wusste, mein Studium wird gut werden, ich werde meinen Weg gehen. Viele Menschen hier haben diese Möglichkeit nicht. Es gibt nicht sehr viele nicht-jüdische Aktivisten und Aktivistinnen bei Koach la Ovdim - obwohl wir vieles versuchen, um sie zu gewinnen, vor allem in Ostjerusalem. Aber manchmal kommt zu den Grenzen, die wir überwinden wollen, auch ein Mangel an Ressourcen hinzu.
Die Segregation der Gesellschaft spiegelt sich auch bei Koach la Ovdim?
Sie spiegelt sich jeden Tag. Allein, weil zum Beispiel bei einem Streik der Beschäftigten im Nahverkehr, von denen viele aus Ostjerusalem kommen, immer wieder Leute festgenommen werden. Eine andere Geschichte ist die von einem unserer Gewerkschafter, der bei einem Transportunternehmen beschäftigt ist und darüber hinaus das Freitagsgebet in der nahegelegenen Moschee leitet. In seinem Unternehmen sollte es eine Werbeveranstaltung der rechten Gewerkschaft Der Nationale Histadrut stattfinden. Die steht den rechten Bewegungen und Parteien nahe. Bevor diese Veranstaltung stattfand, gab es eine Versammlung in der Moschee, bei der der Vertreter Koach la Ovdims über die ideologischen Hintergründe der rechten Gewerkschaft sprach. Ein anderer Arbeiter, der dieser offensichtlich nahe stand, filmte ihn dabei und übergab die Aufnahmen der Polizei. Diese verhaftete unseren Vertreter und beschuldigte ihn, eine Rede gegen Israel gehalten zu haben, vor dem Hintergrund, dass er Palästinenser ist und die Rede in einer Moschee stattgefunden hatte. Es war sehr schockierend, zumal diese Beschuldigung überhaupt nichts mit Gewerkschaftskämpfen zu tun hatte. Aber damit müssen wir uns beschäftigen. Und wir müssen es umso mehr, da wir nicht alles voneinander wissen und aus sehr verschiedenen Communities kommen. Wir haben das Ziel, die vielen Menschen, die in Israel und den besetzten Gebieten ohne arbeitsrechtliche Absicherung und ohne gewerkschaftliche Vertretung zu miesen Bedingungen arbeiten, endlich in ihren Arbeitskämpfen zu vertreten - gerade angesichts der starken gesellschaftlichen Diskriminierung. Es ist eine Herausforderung für uns alle, wo politische Macht wirkt und versucht, uns voneinander zu trennen. Aber wir machen die Erfahrung, dass gerade der gemeinsame Kampf um Rechte Menschen einander näherbringt, die sich zuvor sehr skeptisch gegenüber standen; egal ob diese palästinensisch, russisch, äthiopisch, jüdisch säkulär oder ultraorthodox sind. Es verändert ihr Denken und Handeln, sie müssen miteinander kooperieren, um ihre soziale Realität zu verändern.
Für hilfreiche Hinweise geht Dank an Yossi Bartal.